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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr.

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Im Lande des Kondors

Maße gibt, wählte mich zum bevorzugten Opfer, und ich hatte nachher genug
damit zu tuu, die ungebetncu blutgierigen Gäste wieder los zu werden.

Talccchucmo, am Ende einer großen, seichten Bucht, ist der zweitwichtigste
Hafenplatz der Republik und ein Stützpunkt für deren Flotte. Auch Trocken¬
docks liegen hier, und meist in beschaulicher Ruhe ein oder mehrere Kriegs¬
schiffe der chilenischen Flotte. In der großen Bucht ankern und Verkehren mehr
Schiffe als in Corral oder in Coronet. Der Pulsschlag einer großen Stadt in
der Nähe macht sich in Talcahuano deutlich bemerkbar: Handel und Verkehr sind
lebhaft. Im Jahre 1838, im Februar, wurde die Stadt ebenso wie Conception
durch ein Erdbeben völlig zerstört. Als ein Phönix scheint sie sich aber nicht
aus der Asche erhoben zu haben; Talccchuano ist ein Schmutznest xg,r öxczkllöiios.
Wenn ich auch gern zugebe, daß Hafenstädte im Vergleich mit Orten des
Binnenlandes ein gewisses Recht auf nachsichtige Beurteilung ihrer Sauberkeit
haben, so ist es mir trotzdem unverständlich, wie ein so wichtiger Platz wie
Talcahuano, der im Hintergründe, wenig Meilen entfernt, mit einer Stadt von
mehr als 55000 Einwohnern durch den Schienenstrang verbunden ist, so ver¬
lottert aussehen kann. Sogar ein Bild aus der Umgebung von Neapel, Portici
oder dergleichen, macht einen weit bessern Eindruck als Chiles Flottenstützpunkt.

In dem Maße, wie man weiter in den Norden des Landes kommt, scheinen
auch die bessern Eigenschaften der Menschen abzunehmen. Die niedern Chilenen
haben eine unglaubliche Fertigkeit und Gewandtheit im Diebstahl. Einem
Reisenden, der die Kabine neben mir hatte, wurde gleich bei unsrer Ankunft
durch das offne Kabinensenster ein Kleidungsstück herausgestohlen, und auch
lebende Ware, wie das zur Verpflegung mitgeführte Vieh, verstehn die Leute
aller Bewachung zum Trotz meisterhaft zu stehlen. Bescheidenheit ist keine
Tugend des Chilenen: die elendesten Spelunken tragen manchmal die stolzesten
Bezeichnungen, und ich mußte bei meinem Herumstolpern in Talcahuano oft
lächeln, wenn ich die bramarbasierenden Firmenschilder der oft schon äußerlich
wenig einladenden Geschäfte las. Ich werde später eine kleine Zusammenstellung
dieser komischen, oft wie Selbstironie klingenden Bezeichnungen bei der Be¬
schreibung des chilenischen Lebens im allgemeinen geben.

Eine Absperrung der Bahnkörper, Bahnwärter und dergleichen sind in
Chile überflüssig. Daß der Fußgänger oder Reiter die Geleise als den ein¬
fachsten, besten und auch relativ saubersten Weg ungestraft benutzen darf, habe
ich schon erwähnt. "Sehe jeder, wie ers treibe," gilt hier im vollsten Umfange.
Kommt eine Maschine oder ein Zug, so weicht man eben aus, und ist das
nicht mehr möglich, so kümmert sich der Staat, als der Besitzer der Bahnen,
absolut nicht um die Folgen. So konnte ich auch in Talcahuano den unglaub¬
lichen Leichtsinn bewundern, womit sich die Leute, der Verkehr überhaupt, sorglos
auf den Geleisen bewegten. Die Haare eines deutschen Bahnbeamten würden
vor Entsetzen förmlich zu Berge gestanden haben, hätte er diese tolle Unordnung
beobachten können. Die Lokomotiven, in der Bauart den nordamerikanischen ähnlich,
führen eine größere Glocke, die beim Rangieren, Aus- oder Einfahren des Zugs
in die Station geläutet wird. Dieses Zeichen bedeutet, gefälligst Platz zu
machen, dem schnaubenden Ungetüm aus dem Wege zu gehn. Das ist die


Grenzboten IV 1905 os
Im Lande des Kondors

Maße gibt, wählte mich zum bevorzugten Opfer, und ich hatte nachher genug
damit zu tuu, die ungebetncu blutgierigen Gäste wieder los zu werden.

Talccchucmo, am Ende einer großen, seichten Bucht, ist der zweitwichtigste
Hafenplatz der Republik und ein Stützpunkt für deren Flotte. Auch Trocken¬
docks liegen hier, und meist in beschaulicher Ruhe ein oder mehrere Kriegs¬
schiffe der chilenischen Flotte. In der großen Bucht ankern und Verkehren mehr
Schiffe als in Corral oder in Coronet. Der Pulsschlag einer großen Stadt in
der Nähe macht sich in Talcahuano deutlich bemerkbar: Handel und Verkehr sind
lebhaft. Im Jahre 1838, im Februar, wurde die Stadt ebenso wie Conception
durch ein Erdbeben völlig zerstört. Als ein Phönix scheint sie sich aber nicht
aus der Asche erhoben zu haben; Talccchuano ist ein Schmutznest xg,r öxczkllöiios.
Wenn ich auch gern zugebe, daß Hafenstädte im Vergleich mit Orten des
Binnenlandes ein gewisses Recht auf nachsichtige Beurteilung ihrer Sauberkeit
haben, so ist es mir trotzdem unverständlich, wie ein so wichtiger Platz wie
Talcahuano, der im Hintergründe, wenig Meilen entfernt, mit einer Stadt von
mehr als 55000 Einwohnern durch den Schienenstrang verbunden ist, so ver¬
lottert aussehen kann. Sogar ein Bild aus der Umgebung von Neapel, Portici
oder dergleichen, macht einen weit bessern Eindruck als Chiles Flottenstützpunkt.

In dem Maße, wie man weiter in den Norden des Landes kommt, scheinen
auch die bessern Eigenschaften der Menschen abzunehmen. Die niedern Chilenen
haben eine unglaubliche Fertigkeit und Gewandtheit im Diebstahl. Einem
Reisenden, der die Kabine neben mir hatte, wurde gleich bei unsrer Ankunft
durch das offne Kabinensenster ein Kleidungsstück herausgestohlen, und auch
lebende Ware, wie das zur Verpflegung mitgeführte Vieh, verstehn die Leute
aller Bewachung zum Trotz meisterhaft zu stehlen. Bescheidenheit ist keine
Tugend des Chilenen: die elendesten Spelunken tragen manchmal die stolzesten
Bezeichnungen, und ich mußte bei meinem Herumstolpern in Talcahuano oft
lächeln, wenn ich die bramarbasierenden Firmenschilder der oft schon äußerlich
wenig einladenden Geschäfte las. Ich werde später eine kleine Zusammenstellung
dieser komischen, oft wie Selbstironie klingenden Bezeichnungen bei der Be¬
schreibung des chilenischen Lebens im allgemeinen geben.

Eine Absperrung der Bahnkörper, Bahnwärter und dergleichen sind in
Chile überflüssig. Daß der Fußgänger oder Reiter die Geleise als den ein¬
fachsten, besten und auch relativ saubersten Weg ungestraft benutzen darf, habe
ich schon erwähnt. „Sehe jeder, wie ers treibe," gilt hier im vollsten Umfange.
Kommt eine Maschine oder ein Zug, so weicht man eben aus, und ist das
nicht mehr möglich, so kümmert sich der Staat, als der Besitzer der Bahnen,
absolut nicht um die Folgen. So konnte ich auch in Talcahuano den unglaub¬
lichen Leichtsinn bewundern, womit sich die Leute, der Verkehr überhaupt, sorglos
auf den Geleisen bewegten. Die Haare eines deutschen Bahnbeamten würden
vor Entsetzen förmlich zu Berge gestanden haben, hätte er diese tolle Unordnung
beobachten können. Die Lokomotiven, in der Bauart den nordamerikanischen ähnlich,
führen eine größere Glocke, die beim Rangieren, Aus- oder Einfahren des Zugs
in die Station geläutet wird. Dieses Zeichen bedeutet, gefälligst Platz zu
machen, dem schnaubenden Ungetüm aus dem Wege zu gehn. Das ist die


Grenzboten IV 1905 os
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_296010/493>, abgerufen am 15.01.2025.