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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr.

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Die Entwicklung der Familie als soziologisches Problem

Schließlich die letzte gesellschaftsethische Aufgabe der Familie, Lebens¬
gemeinschaft von Mann und Weib zu bilden, hat die längste Zeit gebraucht,
bis sie als selbstverständliche und hoch bewertete Aufgabe anerkannt wurde. Es
ist ein harter, schneidender Gedanke, daß Jahrtausende dahingingen, bis der
Mann in seiner Ehegattin nicht bloß die Sklavin sah, bis man begann, in der
Familie eine Gemeinschaftsform zu entwickeln, in der Rechte und Pflichten,
Jchdnrchsetzung und Jchhingebnng nicht nach dem staatlichen Schema der Über-
und der Unterordnung, sondern nach dem entgegengesetzten Grundsatze bestimmt
wurden, einander.nach Möglichkeit Freiheiten zuzuführen.

Schon wenn man nur diese allgemeinste flüchtige Bestimmung der Auf¬
gaben der Familie in Betracht zieht, wird man unmittelbar gewahr, welches
weite und reiche Feld hier der Untersuchung vom psychisch-anthropologischen
Standpunkte vorbehalten ist. Das Problem der Fortpflanzungsregelung betrifft
unmittelbar das menschliche Triebleben. Und das Studium der Frage, wie weit
die wachsenden gesellschaftlichen Ordnungen dem Triebleben Förderung oder
Hemmung entgegenbringen, wie weit sie zur Veredelung oder Vergeistigung bei¬
tragen, all die schwierigen Komplikationen, die die gesellschaftliche Tätigkeit der
Regulierung des Geschlechtslebens nach sich zieht, stehn hier offen. Immer
wieder wird die kritische Untersuchung an die Frage herantreten müssen, wie
der Kompromiß zwischen individuellem Triebleben und sozialen Bedingungen die
Gesäme- und die Einzelentwicklung beeinflußt hat.

Mit der zweiten Aufgabe der Familie ist die ernste Frage des Kinder¬
schicksals aufgeworfen. Welche Fülle von Problemen! Schon die Untersuchung,
wie weit die verschiednen Stadien der Familienverfassung das Wohl der Nach¬
kommenschaft unmittelbar förderten oder hemmten, insbesondre ob dabei mehr der
Grundsatz obwaltete, die Kinder für die sozialen Anforderungen des Lebens vor¬
zubereiten, oder ob man ihnen die Möglichkeit gab, ihren gegenwärtigen Be¬
dürfnissen und Ansprüchen zu leben, eröffnet eine weite Perspektive.

Der dritte Aufgabenkreis der Familie, der die Fürsorge für die Alten und
die Schwachen betrifft, kann nicht ohne Beziehung auf das allgemeine Kultur¬
verhältnis der Generationen zueinander gedacht werden. Die schwerwiegende Tat¬
sache, daß die Kultur das Alter zu Ehren gebracht hat, daß in unkultivierten
Zeiten dem einzelnen über die Jahre der Zeugung hinaus meist nur noch eine
kurze Spanne Lebenszeit bleibt, daß sich aber, je höher die Kultur steigt, der
Zweck des Daseins immer weniger in der Fortpflanzung erschöpft, vielmehr oft,
wenn die Kinder längst über die Jahre der Hilflosigkeit hinaus sind, ihre Eltern
das Beste für die Kulturarbeit, für das geistige Leben leisten -- alles dies,
vertieft durch die Analyse des Wechsels der individuellen Fähigkeiten in den
aufeinanderfolgenden Altersstufen, steht der sozialphilosophischen Forschung offen.
Und schließlich der Wandel im Verhältnis der Ehegatten zueinander -- von
der Promiskuität zur Polygynie und Polyandrie, über die patriarchalische Groß-
familic zur heutigen Kleinfamilie in allen Stufen ihrer Entwicklung --, schaut
uns nicht auch da immer das Mcuschencmtlitz aus dem Flusse der Zeiten an?
Die Geschichte der intimen Lebensgemeinschaft der beiden Geschlechter ist vielleicht
am meisten dazu angetan, die Erkenntnis vom Menschen im Kerne zu fördern.


Die Entwicklung der Familie als soziologisches Problem

Schließlich die letzte gesellschaftsethische Aufgabe der Familie, Lebens¬
gemeinschaft von Mann und Weib zu bilden, hat die längste Zeit gebraucht,
bis sie als selbstverständliche und hoch bewertete Aufgabe anerkannt wurde. Es
ist ein harter, schneidender Gedanke, daß Jahrtausende dahingingen, bis der
Mann in seiner Ehegattin nicht bloß die Sklavin sah, bis man begann, in der
Familie eine Gemeinschaftsform zu entwickeln, in der Rechte und Pflichten,
Jchdnrchsetzung und Jchhingebnng nicht nach dem staatlichen Schema der Über-
und der Unterordnung, sondern nach dem entgegengesetzten Grundsatze bestimmt
wurden, einander.nach Möglichkeit Freiheiten zuzuführen.

Schon wenn man nur diese allgemeinste flüchtige Bestimmung der Auf¬
gaben der Familie in Betracht zieht, wird man unmittelbar gewahr, welches
weite und reiche Feld hier der Untersuchung vom psychisch-anthropologischen
Standpunkte vorbehalten ist. Das Problem der Fortpflanzungsregelung betrifft
unmittelbar das menschliche Triebleben. Und das Studium der Frage, wie weit
die wachsenden gesellschaftlichen Ordnungen dem Triebleben Förderung oder
Hemmung entgegenbringen, wie weit sie zur Veredelung oder Vergeistigung bei¬
tragen, all die schwierigen Komplikationen, die die gesellschaftliche Tätigkeit der
Regulierung des Geschlechtslebens nach sich zieht, stehn hier offen. Immer
wieder wird die kritische Untersuchung an die Frage herantreten müssen, wie
der Kompromiß zwischen individuellem Triebleben und sozialen Bedingungen die
Gesäme- und die Einzelentwicklung beeinflußt hat.

Mit der zweiten Aufgabe der Familie ist die ernste Frage des Kinder¬
schicksals aufgeworfen. Welche Fülle von Problemen! Schon die Untersuchung,
wie weit die verschiednen Stadien der Familienverfassung das Wohl der Nach¬
kommenschaft unmittelbar förderten oder hemmten, insbesondre ob dabei mehr der
Grundsatz obwaltete, die Kinder für die sozialen Anforderungen des Lebens vor¬
zubereiten, oder ob man ihnen die Möglichkeit gab, ihren gegenwärtigen Be¬
dürfnissen und Ansprüchen zu leben, eröffnet eine weite Perspektive.

Der dritte Aufgabenkreis der Familie, der die Fürsorge für die Alten und
die Schwachen betrifft, kann nicht ohne Beziehung auf das allgemeine Kultur¬
verhältnis der Generationen zueinander gedacht werden. Die schwerwiegende Tat¬
sache, daß die Kultur das Alter zu Ehren gebracht hat, daß in unkultivierten
Zeiten dem einzelnen über die Jahre der Zeugung hinaus meist nur noch eine
kurze Spanne Lebenszeit bleibt, daß sich aber, je höher die Kultur steigt, der
Zweck des Daseins immer weniger in der Fortpflanzung erschöpft, vielmehr oft,
wenn die Kinder längst über die Jahre der Hilflosigkeit hinaus sind, ihre Eltern
das Beste für die Kulturarbeit, für das geistige Leben leisten — alles dies,
vertieft durch die Analyse des Wechsels der individuellen Fähigkeiten in den
aufeinanderfolgenden Altersstufen, steht der sozialphilosophischen Forschung offen.
Und schließlich der Wandel im Verhältnis der Ehegatten zueinander — von
der Promiskuität zur Polygynie und Polyandrie, über die patriarchalische Groß-
familic zur heutigen Kleinfamilie in allen Stufen ihrer Entwicklung —, schaut
uns nicht auch da immer das Mcuschencmtlitz aus dem Flusse der Zeiten an?
Die Geschichte der intimen Lebensgemeinschaft der beiden Geschlechter ist vielleicht
am meisten dazu angetan, die Erkenntnis vom Menschen im Kerne zu fördern.


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[0426] Die Entwicklung der Familie als soziologisches Problem Schließlich die letzte gesellschaftsethische Aufgabe der Familie, Lebens¬ gemeinschaft von Mann und Weib zu bilden, hat die längste Zeit gebraucht, bis sie als selbstverständliche und hoch bewertete Aufgabe anerkannt wurde. Es ist ein harter, schneidender Gedanke, daß Jahrtausende dahingingen, bis der Mann in seiner Ehegattin nicht bloß die Sklavin sah, bis man begann, in der Familie eine Gemeinschaftsform zu entwickeln, in der Rechte und Pflichten, Jchdnrchsetzung und Jchhingebnng nicht nach dem staatlichen Schema der Über- und der Unterordnung, sondern nach dem entgegengesetzten Grundsatze bestimmt wurden, einander.nach Möglichkeit Freiheiten zuzuführen. Schon wenn man nur diese allgemeinste flüchtige Bestimmung der Auf¬ gaben der Familie in Betracht zieht, wird man unmittelbar gewahr, welches weite und reiche Feld hier der Untersuchung vom psychisch-anthropologischen Standpunkte vorbehalten ist. Das Problem der Fortpflanzungsregelung betrifft unmittelbar das menschliche Triebleben. Und das Studium der Frage, wie weit die wachsenden gesellschaftlichen Ordnungen dem Triebleben Förderung oder Hemmung entgegenbringen, wie weit sie zur Veredelung oder Vergeistigung bei¬ tragen, all die schwierigen Komplikationen, die die gesellschaftliche Tätigkeit der Regulierung des Geschlechtslebens nach sich zieht, stehn hier offen. Immer wieder wird die kritische Untersuchung an die Frage herantreten müssen, wie der Kompromiß zwischen individuellem Triebleben und sozialen Bedingungen die Gesäme- und die Einzelentwicklung beeinflußt hat. Mit der zweiten Aufgabe der Familie ist die ernste Frage des Kinder¬ schicksals aufgeworfen. Welche Fülle von Problemen! Schon die Untersuchung, wie weit die verschiednen Stadien der Familienverfassung das Wohl der Nach¬ kommenschaft unmittelbar förderten oder hemmten, insbesondre ob dabei mehr der Grundsatz obwaltete, die Kinder für die sozialen Anforderungen des Lebens vor¬ zubereiten, oder ob man ihnen die Möglichkeit gab, ihren gegenwärtigen Be¬ dürfnissen und Ansprüchen zu leben, eröffnet eine weite Perspektive. Der dritte Aufgabenkreis der Familie, der die Fürsorge für die Alten und die Schwachen betrifft, kann nicht ohne Beziehung auf das allgemeine Kultur¬ verhältnis der Generationen zueinander gedacht werden. Die schwerwiegende Tat¬ sache, daß die Kultur das Alter zu Ehren gebracht hat, daß in unkultivierten Zeiten dem einzelnen über die Jahre der Zeugung hinaus meist nur noch eine kurze Spanne Lebenszeit bleibt, daß sich aber, je höher die Kultur steigt, der Zweck des Daseins immer weniger in der Fortpflanzung erschöpft, vielmehr oft, wenn die Kinder längst über die Jahre der Hilflosigkeit hinaus sind, ihre Eltern das Beste für die Kulturarbeit, für das geistige Leben leisten — alles dies, vertieft durch die Analyse des Wechsels der individuellen Fähigkeiten in den aufeinanderfolgenden Altersstufen, steht der sozialphilosophischen Forschung offen. Und schließlich der Wandel im Verhältnis der Ehegatten zueinander — von der Promiskuität zur Polygynie und Polyandrie, über die patriarchalische Groß- familic zur heutigen Kleinfamilie in allen Stufen ihrer Entwicklung —, schaut uns nicht auch da immer das Mcuschencmtlitz aus dem Flusse der Zeiten an? Die Geschichte der intimen Lebensgemeinschaft der beiden Geschlechter ist vielleicht am meisten dazu angetan, die Erkenntnis vom Menschen im Kerne zu fördern.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_296010/426>, abgerufen am 15.01.2025.