Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr.Die russische Volksvertretung Erachtens die Notwendigkeit für den Minister ergeben, mit einer Mehrheit im Umschau und Ausblick Selten ist wohl in der Geschichte eine politische Arbeit geleistet worden, Aber das russische Volk bildet uicht ganz zwei Drittel der russischen Die russische Volksvertretung Erachtens die Notwendigkeit für den Minister ergeben, mit einer Mehrheit im Umschau und Ausblick Selten ist wohl in der Geschichte eine politische Arbeit geleistet worden, Aber das russische Volk bildet uicht ganz zwei Drittel der russischen <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0414" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/296425"/> <fw type="header" place="top"> Die russische Volksvertretung</fw><lb/> <p xml:id="ID_2307" prev="#ID_2306"> Erachtens die Notwendigkeit für den Minister ergeben, mit einer Mehrheit im<lb/> Parlament zu rechnen. Denn die in Paragraph 61 vorgesehene Beschwerde<lb/> beim Zaren stellt sich als nichts andres heraus, als als ein Mißtrauensvotum.<lb/> Ob ein Komplikationen so sehr verabscheuender Monarch wie Nikolaus der<lb/> Ziveite einen Minister lange halten wird, über den fortgesetzt Klagen einlaufen,<lb/> ist nicht schwer zu erraten. Ganz anders ist es mit dem Verhältnis zwischen<lb/> der Duma und dem Reichsrat. Bei Festlegung dieses Verhältnisses haben die<lb/> Schöpfer des Regulativs zweifellos alle Mittel angewandt, der Möglichkeit<lb/> von Konflikten zwischen den beiden gesetzgebenden Körperschaften aus dem Wege<lb/> zu gehn. Schon Paragraph 50 strebt den Ausgleich von Differenzen zwischen<lb/> Duma und Neichsrat an, indem er die Bildung einer Ansgleichskommission<lb/> anbefiehlt, die zu bestehn hat aus dem Präsidenten des Reichsrath oder eines<lb/> seiner Departements und einer aus der Pleuarversammlung jeder der beiden<lb/> Häuser gewählten gleichen Zahl von Mitgliedern. Das Ergebnis der Sitzung<lb/> dieser Kommission gelangt zunächst in die Pleuarversammlung der Duma und<lb/> nach Annahme daselbst in die des Reichsrath (Paragraph 51). Wird ein<lb/> Ausgleich nicht erreicht, dann gelangt die Angelegenheit beim Neichsrat zur<lb/> weiter» Bearbeitung. Angelegenheiten, die wegen „Langsamkeit" — Ob¬<lb/> struktion — oder wegen chronischer Beschlußunfähigkeit der Duma nicht er¬<lb/> ledigt werden, können vom Neichsrat selbständig weitergeführt werden (Para¬<lb/> graph 52). Mit dieser Bestimmung hat sich die Regierung eine sichre Waffe<lb/> gegen die Opposition, die einzig wohl aus der Minderheit kommen wird, kon¬<lb/> struiert. Sie wird immer den Bauern sagen können: Seht die Leute von der<lb/> Intelligenz! Erst wollen sie in die Duma, und nun sind sie faul, Wollen nicht<lb/> arbeiten! Bei einem so ungebildeten Volk wie das russische werden solche<lb/> Mittel noch recht lange nicht ohne eine Wirkung bleiben, die der Regierung<lb/> mir angenehm sein kann.</p><lb/> <div n="2"> <head> Umschau und Ausblick</head><lb/> <p xml:id="ID_2308"> Selten ist wohl in der Geschichte eine politische Arbeit geleistet worden,<lb/> die so ausgezeichnet in die Verhältnisse des Augenblicks hineingepaßt worden<lb/> wäre wie das Gesetz vom 0. (19.) August 1905. Es könnte die weise Tat<lb/> eines mutigen Mannes genannt werden. Dieses Urteil würde ich abgeben,<lb/> wenn ich ein moskowitischer Slawophile wäre. Die von den Slawophilen<lb/> den Gesetzgebern gestellte Aufgabe ist erfüllt, die Einigung zwischen dem Zaren<lb/> und dem russischen Volk ist hergestellt. Die Selbstherrlichkeit des Zaren ist<lb/> unangetastet, und das russische Volk hat eine Volksvertretung.</p><lb/> <p xml:id="ID_2309" next="#ID_2310"> Aber das russische Volk bildet uicht ganz zwei Drittel der russischen<lb/> Staatsangehörigen. Polen, Deutsche, Tataren, Juden, Tschuwaschen, Armenier,<lb/> Tscheremissen, Letten — wer will sie alle aufzählen — beanspruchen das Recht,<lb/> sich treue Untertanen des weißen Zaren nennen zu dürfen. Sie alle bilden<lb/> gemeinsam den gewaltigen Staat, dessen Küsten vom Baltischen Meer und<lb/> vom Stillen Ozean bespült werden. Darum dürfen wir das Gesetz nicht mit<lb/> den Augen der Slawophilen betrachten, wir müssen uns einen höhern Stand¬<lb/> punkt suchen. Zwei Maßstäbe haben wir für seinen Wert: den seines Nutzens</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0414]
Die russische Volksvertretung
Erachtens die Notwendigkeit für den Minister ergeben, mit einer Mehrheit im
Parlament zu rechnen. Denn die in Paragraph 61 vorgesehene Beschwerde
beim Zaren stellt sich als nichts andres heraus, als als ein Mißtrauensvotum.
Ob ein Komplikationen so sehr verabscheuender Monarch wie Nikolaus der
Ziveite einen Minister lange halten wird, über den fortgesetzt Klagen einlaufen,
ist nicht schwer zu erraten. Ganz anders ist es mit dem Verhältnis zwischen
der Duma und dem Reichsrat. Bei Festlegung dieses Verhältnisses haben die
Schöpfer des Regulativs zweifellos alle Mittel angewandt, der Möglichkeit
von Konflikten zwischen den beiden gesetzgebenden Körperschaften aus dem Wege
zu gehn. Schon Paragraph 50 strebt den Ausgleich von Differenzen zwischen
Duma und Neichsrat an, indem er die Bildung einer Ansgleichskommission
anbefiehlt, die zu bestehn hat aus dem Präsidenten des Reichsrath oder eines
seiner Departements und einer aus der Pleuarversammlung jeder der beiden
Häuser gewählten gleichen Zahl von Mitgliedern. Das Ergebnis der Sitzung
dieser Kommission gelangt zunächst in die Pleuarversammlung der Duma und
nach Annahme daselbst in die des Reichsrath (Paragraph 51). Wird ein
Ausgleich nicht erreicht, dann gelangt die Angelegenheit beim Neichsrat zur
weiter» Bearbeitung. Angelegenheiten, die wegen „Langsamkeit" — Ob¬
struktion — oder wegen chronischer Beschlußunfähigkeit der Duma nicht er¬
ledigt werden, können vom Neichsrat selbständig weitergeführt werden (Para¬
graph 52). Mit dieser Bestimmung hat sich die Regierung eine sichre Waffe
gegen die Opposition, die einzig wohl aus der Minderheit kommen wird, kon¬
struiert. Sie wird immer den Bauern sagen können: Seht die Leute von der
Intelligenz! Erst wollen sie in die Duma, und nun sind sie faul, Wollen nicht
arbeiten! Bei einem so ungebildeten Volk wie das russische werden solche
Mittel noch recht lange nicht ohne eine Wirkung bleiben, die der Regierung
mir angenehm sein kann.
Umschau und Ausblick
Selten ist wohl in der Geschichte eine politische Arbeit geleistet worden,
die so ausgezeichnet in die Verhältnisse des Augenblicks hineingepaßt worden
wäre wie das Gesetz vom 0. (19.) August 1905. Es könnte die weise Tat
eines mutigen Mannes genannt werden. Dieses Urteil würde ich abgeben,
wenn ich ein moskowitischer Slawophile wäre. Die von den Slawophilen
den Gesetzgebern gestellte Aufgabe ist erfüllt, die Einigung zwischen dem Zaren
und dem russischen Volk ist hergestellt. Die Selbstherrlichkeit des Zaren ist
unangetastet, und das russische Volk hat eine Volksvertretung.
Aber das russische Volk bildet uicht ganz zwei Drittel der russischen
Staatsangehörigen. Polen, Deutsche, Tataren, Juden, Tschuwaschen, Armenier,
Tscheremissen, Letten — wer will sie alle aufzählen — beanspruchen das Recht,
sich treue Untertanen des weißen Zaren nennen zu dürfen. Sie alle bilden
gemeinsam den gewaltigen Staat, dessen Küsten vom Baltischen Meer und
vom Stillen Ozean bespült werden. Darum dürfen wir das Gesetz nicht mit
den Augen der Slawophilen betrachten, wir müssen uns einen höhern Stand¬
punkt suchen. Zwei Maßstäbe haben wir für seinen Wert: den seines Nutzens
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |