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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr.

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Die Tage von Lhampigny und villiers

wieder ausbrechenden Aufruhr den Garaus zu machen, auf den Widerstand
derselben radikalen Doktrinäre, und als am 1. November, nach der Nieder¬
werfung des ersten Kommuneaufstandes und nach der Zurückeroberung des
Hotel de Ville durch die Truppen, einige Dutzend standrechtliche Erschießungen
am Platze gewesen wären und vielleicht der guten Sache wieder auf die Beine
geholfen hätten, kam man nach langen Beratungen dahin überein, es sei am
besten, wenn man von jeder Ahndung absehe und das Geschehene mit dem
Mantel der christlichen Liebe bedecke. Das Schlimmste bei dieser Furcht vor
dem roten Demcigogentum war, daß auch der als Gouverneur, Chef der Re¬
gierung und Generalissimus der Truppen im Prinzip mit weitgehenden Voll¬
machten ausgerüstete General Trochu von diesen Machtbefugnissen Gebrauch
zu machen entweder von seinen Kollegen behindert wurde, oder daß er, wenn
dies in seltnen Ausnahmen nicht der Fall war, Bedenken trug, sich ihrer zu
bedienen, weil ihm seine und der Regierung Popularität bei der großen Masse
über alles ging, und er sie durch einen Akt unnachsichtlicher Strenge ein für
allemal zu verlieren fürchtete.

Diesem Schaukelsystem am Negieruugstisch entsprachen die Dienstgepflogen¬
heiten in der Armee. Es geschah nie etwas ohne längeres Hinundherreden.
Der Wallenstein im "Lager" von dem Karabinierwachtmeister in den Mund
gelegte Ausspruch, die Tat sei stumm, der Gehorsam blind, galt offenbar für
einzelne der unter den Gouverneur von Paris gestellten Generale nicht: wir
werden sehen, wie es in dieser Beziehung mit der Disziplin und der Sub¬
ordination an hoher Stelle stand. Das Fußtruppenmaterial, Mannschaften
wie Offiziere, muß ouin Arauo 8g,Il,8 beurteilt werden, denn dessen Bestand¬
teile waren an Wert verschieden. Die der Flotte entlehnten 14000 Mann
(10600 Matrosen und Kanoniere, 3300 Marineinfanteristen) dürften der zu¬
verlässigste Kern der Besatzung gewesen sein: Geist, Drill und Führung ließen
bei ihnen nichts zu wünschen übrig. Am nächsten kamen ihnen die beiden
einzigen "alten" Linienregimenter Nummer 35 und 42, denen der Umstand,
daß sie erst spät aus Civita Vecchia heimgekehrt waren, das bedauerliche
Schicksal ihrer in Sedan und vor Metz eingeschlossenen Kameraden erspart
hatte. Sie waren die einzigen, die in den ihnen gewohnten Kadres die echt
militärischen Traditionen des Kaiserreichs hatten bewahren können; wir be¬
gegnen ihnen deshalb auch bei größern Ausfallgefechten überall da, wo es
dem obersten Befehlshaber um eine verläßliche und handfeste Kerntruppe zu
tun war.

Die am 28. Oktober formierten sogenannten "neuen" Linienregimenter
(105 bis 139) kamen ihnen zwar nicht gleich, aber sie waren nach ihnen und
nach den Marinetruppen das Beste, was man zur Verfügung hatte. Aller¬
dings war jedes dieser Regimenter aus Depotbataillonen dreier verschiedner
Regimenter zusammengesetzt, und ihre Offizierkorps ließen, was Vollzähligkeit
und Berufstüchtigkeit anlangte, stellenweise zu wünschen übrig, aber wie im
Königreich der Blinden der Einäugige König ist, so waren sie für die Pariser
Besatzung noch eine Art von Elitetruppe, die in der Tat auch wiederholt dem
in sie gesetzten Vertrauen Ehre gemacht hat. Reiterei, deren Pferdebestände


Die Tage von Lhampigny und villiers

wieder ausbrechenden Aufruhr den Garaus zu machen, auf den Widerstand
derselben radikalen Doktrinäre, und als am 1. November, nach der Nieder¬
werfung des ersten Kommuneaufstandes und nach der Zurückeroberung des
Hotel de Ville durch die Truppen, einige Dutzend standrechtliche Erschießungen
am Platze gewesen wären und vielleicht der guten Sache wieder auf die Beine
geholfen hätten, kam man nach langen Beratungen dahin überein, es sei am
besten, wenn man von jeder Ahndung absehe und das Geschehene mit dem
Mantel der christlichen Liebe bedecke. Das Schlimmste bei dieser Furcht vor
dem roten Demcigogentum war, daß auch der als Gouverneur, Chef der Re¬
gierung und Generalissimus der Truppen im Prinzip mit weitgehenden Voll¬
machten ausgerüstete General Trochu von diesen Machtbefugnissen Gebrauch
zu machen entweder von seinen Kollegen behindert wurde, oder daß er, wenn
dies in seltnen Ausnahmen nicht der Fall war, Bedenken trug, sich ihrer zu
bedienen, weil ihm seine und der Regierung Popularität bei der großen Masse
über alles ging, und er sie durch einen Akt unnachsichtlicher Strenge ein für
allemal zu verlieren fürchtete.

Diesem Schaukelsystem am Negieruugstisch entsprachen die Dienstgepflogen¬
heiten in der Armee. Es geschah nie etwas ohne längeres Hinundherreden.
Der Wallenstein im „Lager" von dem Karabinierwachtmeister in den Mund
gelegte Ausspruch, die Tat sei stumm, der Gehorsam blind, galt offenbar für
einzelne der unter den Gouverneur von Paris gestellten Generale nicht: wir
werden sehen, wie es in dieser Beziehung mit der Disziplin und der Sub¬
ordination an hoher Stelle stand. Das Fußtruppenmaterial, Mannschaften
wie Offiziere, muß ouin Arauo 8g,Il,8 beurteilt werden, denn dessen Bestand¬
teile waren an Wert verschieden. Die der Flotte entlehnten 14000 Mann
(10600 Matrosen und Kanoniere, 3300 Marineinfanteristen) dürften der zu¬
verlässigste Kern der Besatzung gewesen sein: Geist, Drill und Führung ließen
bei ihnen nichts zu wünschen übrig. Am nächsten kamen ihnen die beiden
einzigen „alten" Linienregimenter Nummer 35 und 42, denen der Umstand,
daß sie erst spät aus Civita Vecchia heimgekehrt waren, das bedauerliche
Schicksal ihrer in Sedan und vor Metz eingeschlossenen Kameraden erspart
hatte. Sie waren die einzigen, die in den ihnen gewohnten Kadres die echt
militärischen Traditionen des Kaiserreichs hatten bewahren können; wir be¬
gegnen ihnen deshalb auch bei größern Ausfallgefechten überall da, wo es
dem obersten Befehlshaber um eine verläßliche und handfeste Kerntruppe zu
tun war.

Die am 28. Oktober formierten sogenannten „neuen" Linienregimenter
(105 bis 139) kamen ihnen zwar nicht gleich, aber sie waren nach ihnen und
nach den Marinetruppen das Beste, was man zur Verfügung hatte. Aller¬
dings war jedes dieser Regimenter aus Depotbataillonen dreier verschiedner
Regimenter zusammengesetzt, und ihre Offizierkorps ließen, was Vollzähligkeit
und Berufstüchtigkeit anlangte, stellenweise zu wünschen übrig, aber wie im
Königreich der Blinden der Einäugige König ist, so waren sie für die Pariser
Besatzung noch eine Art von Elitetruppe, die in der Tat auch wiederholt dem
in sie gesetzten Vertrauen Ehre gemacht hat. Reiterei, deren Pferdebestände


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_296010/378>, abgerufen am 15.01.2025.