Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr.Vom Ägäischen Meere Das Dorf zeigt den Typus griechischer Jnseldörfer; man sieht es besser Nach den Heiligenleben wurde Eustratios in einer Stadt Bithyniens ge¬ Vom Ägäischen Meere Das Dorf zeigt den Typus griechischer Jnseldörfer; man sieht es besser Nach den Heiligenleben wurde Eustratios in einer Stadt Bithyniens ge¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0324" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/296335"/> <fw type="header" place="top"> Vom Ägäischen Meere</fw><lb/> <p xml:id="ID_1877"> Das Dorf zeigt den Typus griechischer Jnseldörfer; man sieht es besser<lb/> von außen als innen an. Vom Strande, wo eine kleine Einbuchtung als<lb/> Hasen dient, ziehn sich die Häuser und die Hütten den Hang so weit empor, daß<lb/> der Nordwind sie nicht allzu scharf packen kann. Die Mauern sind aus den<lb/> an Ort und Stelle gebrochnen Tuffbrockeu aufgeschichtet und tragen gewöhnlich<lb/> keinen Verputz oder Anstrich. Ziegelgedeckte Satteldächer ragen erst vereinzelt<lb/> zwischen den flachen Erddächern. Aus dem obern Stockwerk springen gewöhnlich<lb/> erschreckend leicht gebaute Balkone und Galerien vor, wie denn alles Holz¬<lb/> werk bei dem Baummangel sehr schwach ist. Regellos ist ein Haus zum andern<lb/> gefügt; die Wege winden sich in verschiedner Breite — sie sinkt nicht selten<lb/> auf ein Meter — und in verschiedner Steigung zwischen ihnen hindurch. Der<lb/> glatte weiche Fels bildet das Pflaster. Die Metropolis ist modern und gleich-<lb/> giltig, sehenswert sind nur oberhalb von ihr eine Kapelle der Panagia mit teil¬<lb/> weise zerstörten Fresken aus dem Ende des sechzehnten oder dem siebzehnten<lb/> Jahrhundert und die Kirche des Eponymos der Insel, des heiligen Eustratios.<lb/> Sie steht auf dem steil über dem Meere aufragenden Westende des Höhenzuges<lb/> innerhalb des kleinen alten Kastro. Dessen Süd- und Westseite bedurften kaum<lb/> des künstlichen Schutzes; im Osten läuft eine schlechte Mauer den Berg hinan,<lb/> war nach Nordwesten weitergeführt und hier gegen die aufsteigende Höhe durch<lb/> einen in den Fels geschulteren Graben geschützt. Diese Höhe trägt den Fried¬<lb/> hof, der aus der Ferne einem Kastell gleicht, und Windmühlen, von denen ein<lb/> Teil im Verfall ist. Das Tor zum Kastro stand natürlich im Südosten; es<lb/> ist wie ein Stück der Ummauerung im Freiheitskriege zerstört worden; ein eisen¬<lb/> beschlagner Torflügel liegt noch am Boden. Eine enge, stellenweise überbaute<lb/> Gasse führt zur Höhe, zur Kirche des Heiligen. Wie kommt es, daß er dieser<lb/> Insel seinen Namen gegeben hat? Versuchen wir es auf einem kurzen Umwege<lb/> zu ergründen.</p><lb/> <p xml:id="ID_1878" next="#ID_1879"> Nach den Heiligenleben wurde Eustratios in einer Stadt Bithyniens ge¬<lb/> boren. Es zog ihn zum geistlichen Leben, und da zwei Oheime Vorsteher des<lb/> Klosters Augari auf dem bithynischen Olymp oberhalb Brussas waren, trat er<lb/> dort ein und wurde später selbst Abt. Aber die Bilderstürmer Vertrieben ihn<lb/> zwischen 813 und 820; erst 843 konnte er zurückkehren und beschloß im fünf¬<lb/> undneunzigsten Jahre dort sein Leben. Während der Verfolgung soll er in der<lb/> Heimat gelebt haben. Aber hier klafft in jener — schlechten — literarischen<lb/> Überlieferung vielleicht eine Lücke. Es scheint, er sei auch über das Meer ge¬<lb/> gangen, zu dieser Insel gekommen, wie denn zu derselben Zeit zuerst Mönche<lb/> auf dem nahen Athos nachweisbar sind, und habe auf ihr längere oder kürzere<lb/> Zeit geweilt. Im Jahre 1420 nennt der italienische Reisende Buondelmonte<lb/> die Insel schon Sanstrati und sagt, sie sei infolge türkischer Verwüstungen<lb/> unbewohnt und hege verwilderte Tiere. Um 1522 schreibt ein türkischer Korsar<lb/> und Geograph Piri Reis, auf der Insel werde ein Grab gezeigt, und die<lb/> Ungläubigen behaupteten, ein „Santo Jstwarto" habe darin gelegen, die Recht¬<lb/> gläubigen aber, ein Mann namens Boz Papas. Jetzt wird es Licht: offenbar<lb/> hatte sich zwischen dem neunten und dem fünfzehnten Jahrhundert durch die Ver¬<lb/> knüpfung mit einem wohl antiken Grabe die Legende gebildet, der Heilige sei aus</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0324]
Vom Ägäischen Meere
Das Dorf zeigt den Typus griechischer Jnseldörfer; man sieht es besser
von außen als innen an. Vom Strande, wo eine kleine Einbuchtung als
Hasen dient, ziehn sich die Häuser und die Hütten den Hang so weit empor, daß
der Nordwind sie nicht allzu scharf packen kann. Die Mauern sind aus den
an Ort und Stelle gebrochnen Tuffbrockeu aufgeschichtet und tragen gewöhnlich
keinen Verputz oder Anstrich. Ziegelgedeckte Satteldächer ragen erst vereinzelt
zwischen den flachen Erddächern. Aus dem obern Stockwerk springen gewöhnlich
erschreckend leicht gebaute Balkone und Galerien vor, wie denn alles Holz¬
werk bei dem Baummangel sehr schwach ist. Regellos ist ein Haus zum andern
gefügt; die Wege winden sich in verschiedner Breite — sie sinkt nicht selten
auf ein Meter — und in verschiedner Steigung zwischen ihnen hindurch. Der
glatte weiche Fels bildet das Pflaster. Die Metropolis ist modern und gleich-
giltig, sehenswert sind nur oberhalb von ihr eine Kapelle der Panagia mit teil¬
weise zerstörten Fresken aus dem Ende des sechzehnten oder dem siebzehnten
Jahrhundert und die Kirche des Eponymos der Insel, des heiligen Eustratios.
Sie steht auf dem steil über dem Meere aufragenden Westende des Höhenzuges
innerhalb des kleinen alten Kastro. Dessen Süd- und Westseite bedurften kaum
des künstlichen Schutzes; im Osten läuft eine schlechte Mauer den Berg hinan,
war nach Nordwesten weitergeführt und hier gegen die aufsteigende Höhe durch
einen in den Fels geschulteren Graben geschützt. Diese Höhe trägt den Fried¬
hof, der aus der Ferne einem Kastell gleicht, und Windmühlen, von denen ein
Teil im Verfall ist. Das Tor zum Kastro stand natürlich im Südosten; es
ist wie ein Stück der Ummauerung im Freiheitskriege zerstört worden; ein eisen¬
beschlagner Torflügel liegt noch am Boden. Eine enge, stellenweise überbaute
Gasse führt zur Höhe, zur Kirche des Heiligen. Wie kommt es, daß er dieser
Insel seinen Namen gegeben hat? Versuchen wir es auf einem kurzen Umwege
zu ergründen.
Nach den Heiligenleben wurde Eustratios in einer Stadt Bithyniens ge¬
boren. Es zog ihn zum geistlichen Leben, und da zwei Oheime Vorsteher des
Klosters Augari auf dem bithynischen Olymp oberhalb Brussas waren, trat er
dort ein und wurde später selbst Abt. Aber die Bilderstürmer Vertrieben ihn
zwischen 813 und 820; erst 843 konnte er zurückkehren und beschloß im fünf¬
undneunzigsten Jahre dort sein Leben. Während der Verfolgung soll er in der
Heimat gelebt haben. Aber hier klafft in jener — schlechten — literarischen
Überlieferung vielleicht eine Lücke. Es scheint, er sei auch über das Meer ge¬
gangen, zu dieser Insel gekommen, wie denn zu derselben Zeit zuerst Mönche
auf dem nahen Athos nachweisbar sind, und habe auf ihr längere oder kürzere
Zeit geweilt. Im Jahre 1420 nennt der italienische Reisende Buondelmonte
die Insel schon Sanstrati und sagt, sie sei infolge türkischer Verwüstungen
unbewohnt und hege verwilderte Tiere. Um 1522 schreibt ein türkischer Korsar
und Geograph Piri Reis, auf der Insel werde ein Grab gezeigt, und die
Ungläubigen behaupteten, ein „Santo Jstwarto" habe darin gelegen, die Recht¬
gläubigen aber, ein Mann namens Boz Papas. Jetzt wird es Licht: offenbar
hatte sich zwischen dem neunten und dem fünfzehnten Jahrhundert durch die Ver¬
knüpfung mit einem wohl antiken Grabe die Legende gebildet, der Heilige sei aus
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