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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr.

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Die russische Volksvertretung

zu beratenden Frage. Wegen der Dauer der Tagung wiederholte Konstantin
Nikolajewitsch den Vorschlag Walujews. Die Sitzungen waren geheim. Prä¬
sidium und Geschäftsordnung sollte der Reichsrat vorschreiben; ein Heraus¬
gehn über den somit festgelegten Rahmen war streng verboten. Advokaten
waren prinzipiell ausgeschlossen. Wir sehen, der Entwurf des kaiserlichen
Prinzen stellte eine stark beschnittne Ausgabe des Plans Walujews dar. Er
laßt sich zusammenfassen in den Satz: "Beim Reichsrat sollte je nach Bedarf
eine Versammlung von Sachverständigen aus Sjemstwo- und Stadtverordneten
einberufen werden, die sich mit einer vorläufigen Besprechung von solchen
Gesetzentwürfen zu befassen hätte, die eine Anlehnung an örtliche Verhältnisse
notwendig machen." Bei den Schlußberatungen des Reichsrath durfte nur ein
Abgeordneter -- der Berichterstatter -- zugegen sein. Auch dieser "politisch
ungefährliche" Entwurf kam unter das grüne Tuch.

Doch schon 1881 nahm Loris - Melikow den Gedanken, Volksvertreter
"mit engbegrenzten" Kompetenzen einzuberufen, wieder auf. In der Be¬
schränkung ging er noch einen Schritt weiter; er wünschte keine Volksver¬
tretung zwischen die Sjemstwo und den Reichsrat zu schieben, sondern "vor¬
bereitende Kommissionen," die aus Beamten und aus Sachverständigen
zusammengestellt werden sollten. Diese Kommissionen wurden vereint zu der
"Generalkommission," die sich zusammensetzte aus "dem vom Zaren zu er¬
nennenden Präsidenten der Generalkommission, den Präsidenten, Vizepräsidenten
und Schriftführern der Einzelkommission und daneben aus den von den Sjemstwo
und den bedeutendern Städten gewühlten Sachverständigen." Keine der Kom¬
mission hatte das Recht, die bestehende Form der Gesetzesinitiative anzutasten.
Loris-Melikow konnte mit Recht von seinem Entwurf sagen: "Westliche Formen
einer Volksvertretung sind nicht nachgebildet worden."




Obwohl sich nun der Hofmeister Bulygin als Sprachrohr der Slawo-
Philen bemüht hat, auch seinen Entwurf von "westlichen Formen" rein zu
halten, gelang es ihm nicht. In der Akte vom 6. (19.) August ist die "Ver¬
sammlung" Walujews zur Reichsduma des Grafen Speranski geworden, und
die Mitglieder dieser Duma entwickeln sich aus "staatlichen Abgeordneten"
zu "gewählten Abgeordneten des Volks." Das Wahlgesetz erinnert in einzelnen
Teilen an das Speranskis, der seine Vorschläge vorwiegend aus der fran¬
zösischen Konstitution des Jahres VIII (1799) entlehnte; andre Teile, wie die
Stellung der Hofbesitzer, weisen auf Napoleons von der Geschichte scharf ver¬
urteiltes Gesetz vom Jahre 1800 hin. Die Einschränkung der Kompetenzen
und der politischen Propaganda werden den Historiker an den ältesten eng¬
lischen Parlamentarismus erinnern. "Von westlichen Formen, ruft Miljukow
aus. haben wir uns nicht getrennt! Wir sind nur den erprobten modernen
Formen des politischen Lebens in der zivilisierten Welt ferngeblieben -- oder
besser, wir sind an sie noch nicht herangekommen!"

Auf unsre Frage, warum sich die Regierung nicht entschloß, die voll-
kommnern Formen des Parlamentarismus in Rußland einzuführen, erscheint


Die russische Volksvertretung

zu beratenden Frage. Wegen der Dauer der Tagung wiederholte Konstantin
Nikolajewitsch den Vorschlag Walujews. Die Sitzungen waren geheim. Prä¬
sidium und Geschäftsordnung sollte der Reichsrat vorschreiben; ein Heraus¬
gehn über den somit festgelegten Rahmen war streng verboten. Advokaten
waren prinzipiell ausgeschlossen. Wir sehen, der Entwurf des kaiserlichen
Prinzen stellte eine stark beschnittne Ausgabe des Plans Walujews dar. Er
laßt sich zusammenfassen in den Satz: „Beim Reichsrat sollte je nach Bedarf
eine Versammlung von Sachverständigen aus Sjemstwo- und Stadtverordneten
einberufen werden, die sich mit einer vorläufigen Besprechung von solchen
Gesetzentwürfen zu befassen hätte, die eine Anlehnung an örtliche Verhältnisse
notwendig machen." Bei den Schlußberatungen des Reichsrath durfte nur ein
Abgeordneter — der Berichterstatter — zugegen sein. Auch dieser „politisch
ungefährliche" Entwurf kam unter das grüne Tuch.

Doch schon 1881 nahm Loris - Melikow den Gedanken, Volksvertreter
»mit engbegrenzten" Kompetenzen einzuberufen, wieder auf. In der Be¬
schränkung ging er noch einen Schritt weiter; er wünschte keine Volksver¬
tretung zwischen die Sjemstwo und den Reichsrat zu schieben, sondern „vor¬
bereitende Kommissionen," die aus Beamten und aus Sachverständigen
zusammengestellt werden sollten. Diese Kommissionen wurden vereint zu der
„Generalkommission," die sich zusammensetzte aus „dem vom Zaren zu er¬
nennenden Präsidenten der Generalkommission, den Präsidenten, Vizepräsidenten
und Schriftführern der Einzelkommission und daneben aus den von den Sjemstwo
und den bedeutendern Städten gewühlten Sachverständigen." Keine der Kom¬
mission hatte das Recht, die bestehende Form der Gesetzesinitiative anzutasten.
Loris-Melikow konnte mit Recht von seinem Entwurf sagen: „Westliche Formen
einer Volksvertretung sind nicht nachgebildet worden."




Obwohl sich nun der Hofmeister Bulygin als Sprachrohr der Slawo-
Philen bemüht hat, auch seinen Entwurf von „westlichen Formen" rein zu
halten, gelang es ihm nicht. In der Akte vom 6. (19.) August ist die „Ver¬
sammlung" Walujews zur Reichsduma des Grafen Speranski geworden, und
die Mitglieder dieser Duma entwickeln sich aus „staatlichen Abgeordneten"
zu „gewählten Abgeordneten des Volks." Das Wahlgesetz erinnert in einzelnen
Teilen an das Speranskis, der seine Vorschläge vorwiegend aus der fran¬
zösischen Konstitution des Jahres VIII (1799) entlehnte; andre Teile, wie die
Stellung der Hofbesitzer, weisen auf Napoleons von der Geschichte scharf ver¬
urteiltes Gesetz vom Jahre 1800 hin. Die Einschränkung der Kompetenzen
und der politischen Propaganda werden den Historiker an den ältesten eng¬
lischen Parlamentarismus erinnern. „Von westlichen Formen, ruft Miljukow
aus. haben wir uns nicht getrennt! Wir sind nur den erprobten modernen
Formen des politischen Lebens in der zivilisierten Welt ferngeblieben — oder
besser, wir sind an sie noch nicht herangekommen!"

Auf unsre Frage, warum sich die Regierung nicht entschloß, die voll-
kommnern Formen des Parlamentarismus in Rußland einzuführen, erscheint


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[0305] Die russische Volksvertretung zu beratenden Frage. Wegen der Dauer der Tagung wiederholte Konstantin Nikolajewitsch den Vorschlag Walujews. Die Sitzungen waren geheim. Prä¬ sidium und Geschäftsordnung sollte der Reichsrat vorschreiben; ein Heraus¬ gehn über den somit festgelegten Rahmen war streng verboten. Advokaten waren prinzipiell ausgeschlossen. Wir sehen, der Entwurf des kaiserlichen Prinzen stellte eine stark beschnittne Ausgabe des Plans Walujews dar. Er laßt sich zusammenfassen in den Satz: „Beim Reichsrat sollte je nach Bedarf eine Versammlung von Sachverständigen aus Sjemstwo- und Stadtverordneten einberufen werden, die sich mit einer vorläufigen Besprechung von solchen Gesetzentwürfen zu befassen hätte, die eine Anlehnung an örtliche Verhältnisse notwendig machen." Bei den Schlußberatungen des Reichsrath durfte nur ein Abgeordneter — der Berichterstatter — zugegen sein. Auch dieser „politisch ungefährliche" Entwurf kam unter das grüne Tuch. Doch schon 1881 nahm Loris - Melikow den Gedanken, Volksvertreter »mit engbegrenzten" Kompetenzen einzuberufen, wieder auf. In der Be¬ schränkung ging er noch einen Schritt weiter; er wünschte keine Volksver¬ tretung zwischen die Sjemstwo und den Reichsrat zu schieben, sondern „vor¬ bereitende Kommissionen," die aus Beamten und aus Sachverständigen zusammengestellt werden sollten. Diese Kommissionen wurden vereint zu der „Generalkommission," die sich zusammensetzte aus „dem vom Zaren zu er¬ nennenden Präsidenten der Generalkommission, den Präsidenten, Vizepräsidenten und Schriftführern der Einzelkommission und daneben aus den von den Sjemstwo und den bedeutendern Städten gewühlten Sachverständigen." Keine der Kom¬ mission hatte das Recht, die bestehende Form der Gesetzesinitiative anzutasten. Loris-Melikow konnte mit Recht von seinem Entwurf sagen: „Westliche Formen einer Volksvertretung sind nicht nachgebildet worden." Obwohl sich nun der Hofmeister Bulygin als Sprachrohr der Slawo- Philen bemüht hat, auch seinen Entwurf von „westlichen Formen" rein zu halten, gelang es ihm nicht. In der Akte vom 6. (19.) August ist die „Ver¬ sammlung" Walujews zur Reichsduma des Grafen Speranski geworden, und die Mitglieder dieser Duma entwickeln sich aus „staatlichen Abgeordneten" zu „gewählten Abgeordneten des Volks." Das Wahlgesetz erinnert in einzelnen Teilen an das Speranskis, der seine Vorschläge vorwiegend aus der fran¬ zösischen Konstitution des Jahres VIII (1799) entlehnte; andre Teile, wie die Stellung der Hofbesitzer, weisen auf Napoleons von der Geschichte scharf ver¬ urteiltes Gesetz vom Jahre 1800 hin. Die Einschränkung der Kompetenzen und der politischen Propaganda werden den Historiker an den ältesten eng¬ lischen Parlamentarismus erinnern. „Von westlichen Formen, ruft Miljukow aus. haben wir uns nicht getrennt! Wir sind nur den erprobten modernen Formen des politischen Lebens in der zivilisierten Welt ferngeblieben — oder besser, wir sind an sie noch nicht herangekommen!" Auf unsre Frage, warum sich die Regierung nicht entschloß, die voll- kommnern Formen des Parlamentarismus in Rußland einzuführen, erscheint

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_296010/305>, abgerufen am 15.01.2025.