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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr.

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Deutsche und Magyaren

Verhältnisse an der Donau nicht stabilisieren, sondern einer Katastrophe zu¬
treiben würde, deren Umfang man heute auch nicht annähernd abschätzen kann.

Die in der südöstlichen Presse im Laufe des letzten halben Jahres auf¬
getauchten Projekte einer großen Balkanföderation unter magyarischer Führung,
eines Vierzigmillionenreichs mit dem Könige Peter oder dem Fürsten von
Bulgarien als erwählten ungarischen König an der Spitze gehören sicher in
das Reich der Phantasie, aber die Idee, die ihnen zugrunde liegt, ist sehr
real, sie ist der leitende Gedanke der Politik der ungarischen Opposition: die
Krone Ungarns aller wirklichen Macht zugunsten einer Adelsoligarchie zu ent¬
kleiden, deren abenteuerliche Neigungen dann weder dnrch die Krone noch durch
Osterreich eine Korrektur in konservativem Sinne erfahren würden. Daß aber
die Ruhe Europas im Südosten keine Oligarchien, keine Republiken verträgt,
sondern im Gegenteil starke monarchische Gewalten fordert, lehrt die Geschichte
der Balkanstaaten und schließlich auch die Historie Ungarns selbst, das, solange
es von seinem Adel durch sogenannte "nationale" Könige beherrscht wurde,
ein Herd beständiger Unruhen war. Ebenso bedenkliche Zustände müßte eine
solche Entwicklung auch in Österreich erzeugen. Politisch würde es nullifiziert
und wirtschaftlich bis auf einen Punkt hinabgedrückt werden, wo die allgemeine
Politische und wirtschaftliche Verelendung die letzten Bande der Staatsgemein¬
schaft lockern würde. Ein solches Österreich, ausgedörrt und darum sozial¬
demokratisch - revolutionär durchseucht, wäre für Deutschland ein schlimmer
Nachbar, falls es nicht zu einer territorialen Erwerbung von mehr als zweifel¬
haftem Wert für das Deutsche Reich werden würde.

Ich habe in den Grenzboten an andrer Stelle in einem Rückblick auf die
Entwicklung der Orientfrage die historischen Belege dafür zusammengestellt, daß
die großen politischen Erschütterungen Europas seit der französischen Revolution
nur möglich waren, weil der preußisch-deutsche Gegensatz die Sicherung der
großen strategischen Linie Hamburg - Trieft verhinderte; daß sich schon unter
Friedrich dem Zweiten und unter Leopold dem Zweiten das Bestreben geltend
machte, darüber zu einem Einverständnisse zu gelangen: daß aber erst nach
einer hundertjährigen Entwicklung in dem deutsch-österreichischen Bündnisse die
geeignete Form hierfür gewonnen worden ist. Wohl wäre es denkbar, daß
Deutschland selbst diese ganze Linie besetze; aber erst kürzlich ist von sehr be¬
rufner reichsdeutscher Seite mit aller Schärfe nachgewiesen worden, daß für
Deutschland nichts unerfreulicher wäre als eine solche Gestaltung der Dinge.
Jeder, der die einschlägigen Verhältnisse kennt und objektiv betrachtet, wird
dem zustimmen, gerade darum aber befremdet es, daß in gewissen rcichsdentschen
Kreisen die Haltung der Deutschen in Österreich in der ungarischen Krise nicht
entsprechend gewürdigt wird.

Bei dem heutigen Zustande der Dinge ist ihr Einfluß auf das Schicksal
der Monarchie nur klein, er könnte aber wachsen und im entscheidenden Augen¬
blicke vielleicht sogar ausschlaggebend werden, wenn man sich von gewissen
Vorurteilen -- die wohl mit der Tatsache zusammenhängen, daß Österreich-
Ungarn beim Deutschen Reiche nie anders als dnrch Magyaren diplomatisch
vertreten war -- befreien und dem Bestreben der Deutschen in Österreich ge¬
recht werden würde, die dualistische Verfassung des Jahres 1867 zu beseitigen


Deutsche und Magyaren

Verhältnisse an der Donau nicht stabilisieren, sondern einer Katastrophe zu¬
treiben würde, deren Umfang man heute auch nicht annähernd abschätzen kann.

Die in der südöstlichen Presse im Laufe des letzten halben Jahres auf¬
getauchten Projekte einer großen Balkanföderation unter magyarischer Führung,
eines Vierzigmillionenreichs mit dem Könige Peter oder dem Fürsten von
Bulgarien als erwählten ungarischen König an der Spitze gehören sicher in
das Reich der Phantasie, aber die Idee, die ihnen zugrunde liegt, ist sehr
real, sie ist der leitende Gedanke der Politik der ungarischen Opposition: die
Krone Ungarns aller wirklichen Macht zugunsten einer Adelsoligarchie zu ent¬
kleiden, deren abenteuerliche Neigungen dann weder dnrch die Krone noch durch
Osterreich eine Korrektur in konservativem Sinne erfahren würden. Daß aber
die Ruhe Europas im Südosten keine Oligarchien, keine Republiken verträgt,
sondern im Gegenteil starke monarchische Gewalten fordert, lehrt die Geschichte
der Balkanstaaten und schließlich auch die Historie Ungarns selbst, das, solange
es von seinem Adel durch sogenannte „nationale" Könige beherrscht wurde,
ein Herd beständiger Unruhen war. Ebenso bedenkliche Zustände müßte eine
solche Entwicklung auch in Österreich erzeugen. Politisch würde es nullifiziert
und wirtschaftlich bis auf einen Punkt hinabgedrückt werden, wo die allgemeine
Politische und wirtschaftliche Verelendung die letzten Bande der Staatsgemein¬
schaft lockern würde. Ein solches Österreich, ausgedörrt und darum sozial¬
demokratisch - revolutionär durchseucht, wäre für Deutschland ein schlimmer
Nachbar, falls es nicht zu einer territorialen Erwerbung von mehr als zweifel¬
haftem Wert für das Deutsche Reich werden würde.

Ich habe in den Grenzboten an andrer Stelle in einem Rückblick auf die
Entwicklung der Orientfrage die historischen Belege dafür zusammengestellt, daß
die großen politischen Erschütterungen Europas seit der französischen Revolution
nur möglich waren, weil der preußisch-deutsche Gegensatz die Sicherung der
großen strategischen Linie Hamburg - Trieft verhinderte; daß sich schon unter
Friedrich dem Zweiten und unter Leopold dem Zweiten das Bestreben geltend
machte, darüber zu einem Einverständnisse zu gelangen: daß aber erst nach
einer hundertjährigen Entwicklung in dem deutsch-österreichischen Bündnisse die
geeignete Form hierfür gewonnen worden ist. Wohl wäre es denkbar, daß
Deutschland selbst diese ganze Linie besetze; aber erst kürzlich ist von sehr be¬
rufner reichsdeutscher Seite mit aller Schärfe nachgewiesen worden, daß für
Deutschland nichts unerfreulicher wäre als eine solche Gestaltung der Dinge.
Jeder, der die einschlägigen Verhältnisse kennt und objektiv betrachtet, wird
dem zustimmen, gerade darum aber befremdet es, daß in gewissen rcichsdentschen
Kreisen die Haltung der Deutschen in Österreich in der ungarischen Krise nicht
entsprechend gewürdigt wird.

Bei dem heutigen Zustande der Dinge ist ihr Einfluß auf das Schicksal
der Monarchie nur klein, er könnte aber wachsen und im entscheidenden Augen¬
blicke vielleicht sogar ausschlaggebend werden, wenn man sich von gewissen
Vorurteilen — die wohl mit der Tatsache zusammenhängen, daß Österreich-
Ungarn beim Deutschen Reiche nie anders als dnrch Magyaren diplomatisch
vertreten war — befreien und dem Bestreben der Deutschen in Österreich ge¬
recht werden würde, die dualistische Verfassung des Jahres 1867 zu beseitigen


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[0301] Deutsche und Magyaren Verhältnisse an der Donau nicht stabilisieren, sondern einer Katastrophe zu¬ treiben würde, deren Umfang man heute auch nicht annähernd abschätzen kann. Die in der südöstlichen Presse im Laufe des letzten halben Jahres auf¬ getauchten Projekte einer großen Balkanföderation unter magyarischer Führung, eines Vierzigmillionenreichs mit dem Könige Peter oder dem Fürsten von Bulgarien als erwählten ungarischen König an der Spitze gehören sicher in das Reich der Phantasie, aber die Idee, die ihnen zugrunde liegt, ist sehr real, sie ist der leitende Gedanke der Politik der ungarischen Opposition: die Krone Ungarns aller wirklichen Macht zugunsten einer Adelsoligarchie zu ent¬ kleiden, deren abenteuerliche Neigungen dann weder dnrch die Krone noch durch Osterreich eine Korrektur in konservativem Sinne erfahren würden. Daß aber die Ruhe Europas im Südosten keine Oligarchien, keine Republiken verträgt, sondern im Gegenteil starke monarchische Gewalten fordert, lehrt die Geschichte der Balkanstaaten und schließlich auch die Historie Ungarns selbst, das, solange es von seinem Adel durch sogenannte „nationale" Könige beherrscht wurde, ein Herd beständiger Unruhen war. Ebenso bedenkliche Zustände müßte eine solche Entwicklung auch in Österreich erzeugen. Politisch würde es nullifiziert und wirtschaftlich bis auf einen Punkt hinabgedrückt werden, wo die allgemeine Politische und wirtschaftliche Verelendung die letzten Bande der Staatsgemein¬ schaft lockern würde. Ein solches Österreich, ausgedörrt und darum sozial¬ demokratisch - revolutionär durchseucht, wäre für Deutschland ein schlimmer Nachbar, falls es nicht zu einer territorialen Erwerbung von mehr als zweifel¬ haftem Wert für das Deutsche Reich werden würde. Ich habe in den Grenzboten an andrer Stelle in einem Rückblick auf die Entwicklung der Orientfrage die historischen Belege dafür zusammengestellt, daß die großen politischen Erschütterungen Europas seit der französischen Revolution nur möglich waren, weil der preußisch-deutsche Gegensatz die Sicherung der großen strategischen Linie Hamburg - Trieft verhinderte; daß sich schon unter Friedrich dem Zweiten und unter Leopold dem Zweiten das Bestreben geltend machte, darüber zu einem Einverständnisse zu gelangen: daß aber erst nach einer hundertjährigen Entwicklung in dem deutsch-österreichischen Bündnisse die geeignete Form hierfür gewonnen worden ist. Wohl wäre es denkbar, daß Deutschland selbst diese ganze Linie besetze; aber erst kürzlich ist von sehr be¬ rufner reichsdeutscher Seite mit aller Schärfe nachgewiesen worden, daß für Deutschland nichts unerfreulicher wäre als eine solche Gestaltung der Dinge. Jeder, der die einschlägigen Verhältnisse kennt und objektiv betrachtet, wird dem zustimmen, gerade darum aber befremdet es, daß in gewissen rcichsdentschen Kreisen die Haltung der Deutschen in Österreich in der ungarischen Krise nicht entsprechend gewürdigt wird. Bei dem heutigen Zustande der Dinge ist ihr Einfluß auf das Schicksal der Monarchie nur klein, er könnte aber wachsen und im entscheidenden Augen¬ blicke vielleicht sogar ausschlaggebend werden, wenn man sich von gewissen Vorurteilen — die wohl mit der Tatsache zusammenhängen, daß Österreich- Ungarn beim Deutschen Reiche nie anders als dnrch Magyaren diplomatisch vertreten war — befreien und dem Bestreben der Deutschen in Österreich ge¬ recht werden würde, die dualistische Verfassung des Jahres 1867 zu beseitigen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_296010/301>, abgerufen am 15.01.2025.