Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr.Die Vereinfachung der Arbeiterversicherung es wirklich vorhanden ist, aber doch auch bei der paritätischen Selbstverwaltung Was haben dafür die Sozialdemokraten an Reformvorschlägen in petto? Von größerm Belang sind die Einwände und Vorschläge der Kranken¬ Die Vereinfachung der Arbeiterversicherung es wirklich vorhanden ist, aber doch auch bei der paritätischen Selbstverwaltung Was haben dafür die Sozialdemokraten an Reformvorschlägen in petto? Von größerm Belang sind die Einwände und Vorschläge der Kranken¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0024" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/296035"/> <fw type="header" place="top"> Die Vereinfachung der Arbeiterversicherung</fw><lb/> <p xml:id="ID_46" prev="#ID_45"> es wirklich vorhanden ist, aber doch auch bei der paritätischen Selbstverwaltung<lb/> voll bestehn. Die heutigen Krankenkassen leisteten, so behaupten die Sozia¬<lb/> listen, viel zur Ausklärung der Mitglieder, sie förderten sanitäre Einrichtungen,<lb/> bauten Erholungsstätten usw. Alles schöne Dinge, die bei den gegenwärtigen<lb/> Krankenkassen zum Teil auf dem Papier stehn und jedenfalls bei dem Dütt-<lb/> mannschen und dem Freundschen Plau einer modifizierten Selbstverwaltung<lb/> nicht geschädigt zu werden brauchen. Sehe man doch gefälligst die Kehrseite<lb/> der heutigen Krankenkassenselbstverwaltung. In Stettin ist der Vorsitzende<lb/> und der Schriftführer einer Ortskrankenkasse wegen Beleidigung eines Arztes<lb/> zu hundert Mark Geldstrafe verurteilt worden. Die Generalversammlung<lb/> übernimmt die Kosten und weigert sich, der Aufsichtsbehörde zu folgen und<lb/> die Betrüge zurückzufordern. Der Vorsitzende, der nur für Zeitverlust und<lb/> eutgangnen Arbeitsverdienst entschädigt werden soll, erhält 1800 Mark Gehalt<lb/> und verzehrt auf Kosten der Kasse bei einem Darmkatarrh dreißig Flaschen<lb/> Rotwein! Für eine dreitägige Reise, die zwei Revisoren der Ortskrankenkasse<lb/> in Remscheid unternommen haben, um die Einrichtungen der Leipziger Orts¬<lb/> krankenkasse kennen zu lernen, liquidierten sie 450 Mark. Im Fremdenbuch<lb/> des Hotels hatten sie zwei Dirnen als ihre Frauen eingetragen. In der<lb/> Ortskrankenkasse Velbert bewilligte die Generalversammlung dem Vorsitzenden<lb/> an Stelle von 240 Mark eine jährliche Entschädigung für Zeitversäumnis von<lb/> 300 Mark. Auf Beanstandung der Aufsichtsbehörde wurden die 60 Mark<lb/> zurückgezahlt, aber sie wurden von dem Revisionsarzt geborgt, der, bis die<lb/> 60 Mark getilgt waren, eine erhöhte Nevisionsgebühr für die Rezepte erhielt.<lb/> In Kassel hatte der Vorsitzende einer Kasse für eine in Gemeinschaft mit dem<lb/> Kassenführer unternommne Reise von drei Tagen nach Nürnberg zur Jahres¬<lb/> versammlung des Zentralverbandes der Ortskrankenkassen 400 Mark entnommen.<lb/> Später wurden 320 Mark bewilligt, obwohl eine Verwendung von Kassen¬<lb/> mitteln zum Besuche der Versammlungen verboten ist. Daß politische Agita¬<lb/> toren in der Kassenverwaltung gut bezahlte Stellen bekommen, ist bekannt; daß<lb/> das Mißverhältnis zwischen Einnahmen und Ausgaben immer größer wird,<lb/> desgleichen.</p><lb/> <p xml:id="ID_47"> Was haben dafür die Sozialdemokraten an Reformvorschlägen in petto?<lb/> Nur solche Forderungen, die von vornherein als unerfüllbar zu erkennen sind<lb/> und darum den gegenwärtigen Zustand nicht um ein Haar verschieben. Sie<lb/> wollen bei Unfällen, wobei auch chronische Gewerbekrankheiten als Folgen von<lb/> Betriebsunfällen angesehen werden, 75 bis 100 Prozent des Durchschnitts¬<lb/> verdienstes gewähren, bei Invalidität 50 bis 100 Prozent. Die Altersgrenze<lb/> für den Bezug der Altersrente soll nach einer Lesart auf das fünfnndsechzigste,<lb/> nach der andern auf das sechzigste Lebensjahr herabgesetzt werden. Der<lb/> Reichszuschuß zur Invalidenversicherung wird auf hundert Mark erhöht usw.<lb/> Bis auf weiteres wird es in Deutschland keinen Reichsschatzsekretür geben, der<lb/> bei der heutigen Finanzlage solche Vorschläge ernst nimmt.</p><lb/> <p xml:id="ID_48" next="#ID_49"> Von größerm Belang sind die Einwände und Vorschläge der Kranken¬<lb/> kassenkommission des deutschen Ärztevereinsbundes. Sie fordern bekanntlich<lb/> freie Ärztewahl: zur Kassenpraxis bei allen Krankenkassen sei jeder unbescholtne</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0024]
Die Vereinfachung der Arbeiterversicherung
es wirklich vorhanden ist, aber doch auch bei der paritätischen Selbstverwaltung
voll bestehn. Die heutigen Krankenkassen leisteten, so behaupten die Sozia¬
listen, viel zur Ausklärung der Mitglieder, sie förderten sanitäre Einrichtungen,
bauten Erholungsstätten usw. Alles schöne Dinge, die bei den gegenwärtigen
Krankenkassen zum Teil auf dem Papier stehn und jedenfalls bei dem Dütt-
mannschen und dem Freundschen Plau einer modifizierten Selbstverwaltung
nicht geschädigt zu werden brauchen. Sehe man doch gefälligst die Kehrseite
der heutigen Krankenkassenselbstverwaltung. In Stettin ist der Vorsitzende
und der Schriftführer einer Ortskrankenkasse wegen Beleidigung eines Arztes
zu hundert Mark Geldstrafe verurteilt worden. Die Generalversammlung
übernimmt die Kosten und weigert sich, der Aufsichtsbehörde zu folgen und
die Betrüge zurückzufordern. Der Vorsitzende, der nur für Zeitverlust und
eutgangnen Arbeitsverdienst entschädigt werden soll, erhält 1800 Mark Gehalt
und verzehrt auf Kosten der Kasse bei einem Darmkatarrh dreißig Flaschen
Rotwein! Für eine dreitägige Reise, die zwei Revisoren der Ortskrankenkasse
in Remscheid unternommen haben, um die Einrichtungen der Leipziger Orts¬
krankenkasse kennen zu lernen, liquidierten sie 450 Mark. Im Fremdenbuch
des Hotels hatten sie zwei Dirnen als ihre Frauen eingetragen. In der
Ortskrankenkasse Velbert bewilligte die Generalversammlung dem Vorsitzenden
an Stelle von 240 Mark eine jährliche Entschädigung für Zeitversäumnis von
300 Mark. Auf Beanstandung der Aufsichtsbehörde wurden die 60 Mark
zurückgezahlt, aber sie wurden von dem Revisionsarzt geborgt, der, bis die
60 Mark getilgt waren, eine erhöhte Nevisionsgebühr für die Rezepte erhielt.
In Kassel hatte der Vorsitzende einer Kasse für eine in Gemeinschaft mit dem
Kassenführer unternommne Reise von drei Tagen nach Nürnberg zur Jahres¬
versammlung des Zentralverbandes der Ortskrankenkassen 400 Mark entnommen.
Später wurden 320 Mark bewilligt, obwohl eine Verwendung von Kassen¬
mitteln zum Besuche der Versammlungen verboten ist. Daß politische Agita¬
toren in der Kassenverwaltung gut bezahlte Stellen bekommen, ist bekannt; daß
das Mißverhältnis zwischen Einnahmen und Ausgaben immer größer wird,
desgleichen.
Was haben dafür die Sozialdemokraten an Reformvorschlägen in petto?
Nur solche Forderungen, die von vornherein als unerfüllbar zu erkennen sind
und darum den gegenwärtigen Zustand nicht um ein Haar verschieben. Sie
wollen bei Unfällen, wobei auch chronische Gewerbekrankheiten als Folgen von
Betriebsunfällen angesehen werden, 75 bis 100 Prozent des Durchschnitts¬
verdienstes gewähren, bei Invalidität 50 bis 100 Prozent. Die Altersgrenze
für den Bezug der Altersrente soll nach einer Lesart auf das fünfnndsechzigste,
nach der andern auf das sechzigste Lebensjahr herabgesetzt werden. Der
Reichszuschuß zur Invalidenversicherung wird auf hundert Mark erhöht usw.
Bis auf weiteres wird es in Deutschland keinen Reichsschatzsekretür geben, der
bei der heutigen Finanzlage solche Vorschläge ernst nimmt.
Von größerm Belang sind die Einwände und Vorschläge der Kranken¬
kassenkommission des deutschen Ärztevereinsbundes. Sie fordern bekanntlich
freie Ärztewahl: zur Kassenpraxis bei allen Krankenkassen sei jeder unbescholtne
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