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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr.

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Die Vereinfachung der Arbeiterversicherung
von Hugo Böttger

<M^-G>er "Lokomotivführer der Sozialgesetzgebung" im Reiche, Graf
Posadowsky, hat im Februar vorigen Jahres dem Reichstag er¬
klärt, daß die "jetzige Verfassung unsrer gesamten sozialpolitischen
Gesetzgebung auf die Länge nicht weiter so bestehn" könne, und
!daß, wenn wir nicht vor einer vollendeten Tatsache stünden,
niemand daran denken könnte, eine besondre Organisation der Krankenver¬
sicherung, eine besondre Organisation der Unfallversicherung und eine besondre
Organisation der Alters- und der Jnvaliditätsversicherung zu schaffen. Denn
Unfall, Krankheit und Invalidität sind drei Zustände, die miteinander in ihren
Ursachen und Wirkungen eng zusammenhängen. Ihre sozialpolitische Trennung
erklärt sich nur aus der zeitlich getrennten Entwicklung der Gesetzgebung.
Diese bildet, obwohl die einzelnen Gesetze ineinandergreifen, kein organisches
Ganzes, sondern ein buntes unhaltbares Mosaik. Also muß eine einheitliche
Organisation geschaffen werden zur Verbesserung und Vereinfachung des Werks
und zur Verringerung der Kosten. Diese Notwendigkeit drängt sich noch mehr
auf, wenn man daran denkt, daß demnächst ein vierter Zweig, die Hinter-
bliebnenverficherung, erwachsen soll. Graf Posadowsky ist über die Schwierig¬
keit des neuen Unternehmens nicht im unklaren; er hält die Allmacht und die
Kraft eines Diktators gerade für ausreichend, den einheitlichen, klaren und
schnell arbeitenden Organismus der Zukunft zu schaffen, und der Staatssekretär
des Reichsamts des Innern kennt seine Leute in der Verwaltung und im
Parlament. Jedoch die Lösung muß kommen. Die Krankenkassen sind zum
Teil der Sozialdemokratie als Stützpunkte der Macht ausgeliefert; ihre Kämpfe
mit der Ärzteschaft haben die Kassen in einer keineswegs sozialen Beleuchtung
gezeigt. Es hat sich in ihnen eine Rentenhhsterie entwickelt, eine Sucht nach
Rente, Simulation und Betrug, daß nach dem Ausspruch eines bekannten
Nervenarztes etwa ein Drittel aller Krankengelder nicht für wirkliche Krank¬
heiten bezahlt werden soll, sondern für fingierte. Bei der Jnvaliditäts- und
Altersversicherung hat man finanzielle Schwierigkeiten entdeckt, die man darauf
zurückführt, daß die Lokalbehörden mit Arbeiten überhäuft sind, daß sie die
Rentenanträge nicht tief genug prüfe" können und damit die Anträge allzu
schematisch behandeln. So fehlt ein solider Unterbau, und der Oberbau, das
Reichsversicherungsamt, erliegt fast unter dem Druck der Rückstände, die Maschine
gerät überall ins Stocken, und das Publikum, die arbeitenden Klassen und die
Unternehmer, fühlen sich gleichermaßen benachteiligt.

Wie sehr Vereinfachung not tut, beweisen die Tatsachen und die jüngste
Statistik, die eine kaum zu übertreffende Zersplitterung der Kräfte und eine




Die Vereinfachung der Arbeiterversicherung
von Hugo Böttger

<M^-G>er „Lokomotivführer der Sozialgesetzgebung" im Reiche, Graf
Posadowsky, hat im Februar vorigen Jahres dem Reichstag er¬
klärt, daß die „jetzige Verfassung unsrer gesamten sozialpolitischen
Gesetzgebung auf die Länge nicht weiter so bestehn" könne, und
!daß, wenn wir nicht vor einer vollendeten Tatsache stünden,
niemand daran denken könnte, eine besondre Organisation der Krankenver¬
sicherung, eine besondre Organisation der Unfallversicherung und eine besondre
Organisation der Alters- und der Jnvaliditätsversicherung zu schaffen. Denn
Unfall, Krankheit und Invalidität sind drei Zustände, die miteinander in ihren
Ursachen und Wirkungen eng zusammenhängen. Ihre sozialpolitische Trennung
erklärt sich nur aus der zeitlich getrennten Entwicklung der Gesetzgebung.
Diese bildet, obwohl die einzelnen Gesetze ineinandergreifen, kein organisches
Ganzes, sondern ein buntes unhaltbares Mosaik. Also muß eine einheitliche
Organisation geschaffen werden zur Verbesserung und Vereinfachung des Werks
und zur Verringerung der Kosten. Diese Notwendigkeit drängt sich noch mehr
auf, wenn man daran denkt, daß demnächst ein vierter Zweig, die Hinter-
bliebnenverficherung, erwachsen soll. Graf Posadowsky ist über die Schwierig¬
keit des neuen Unternehmens nicht im unklaren; er hält die Allmacht und die
Kraft eines Diktators gerade für ausreichend, den einheitlichen, klaren und
schnell arbeitenden Organismus der Zukunft zu schaffen, und der Staatssekretär
des Reichsamts des Innern kennt seine Leute in der Verwaltung und im
Parlament. Jedoch die Lösung muß kommen. Die Krankenkassen sind zum
Teil der Sozialdemokratie als Stützpunkte der Macht ausgeliefert; ihre Kämpfe
mit der Ärzteschaft haben die Kassen in einer keineswegs sozialen Beleuchtung
gezeigt. Es hat sich in ihnen eine Rentenhhsterie entwickelt, eine Sucht nach
Rente, Simulation und Betrug, daß nach dem Ausspruch eines bekannten
Nervenarztes etwa ein Drittel aller Krankengelder nicht für wirkliche Krank¬
heiten bezahlt werden soll, sondern für fingierte. Bei der Jnvaliditäts- und
Altersversicherung hat man finanzielle Schwierigkeiten entdeckt, die man darauf
zurückführt, daß die Lokalbehörden mit Arbeiten überhäuft sind, daß sie die
Rentenanträge nicht tief genug prüfe» können und damit die Anträge allzu
schematisch behandeln. So fehlt ein solider Unterbau, und der Oberbau, das
Reichsversicherungsamt, erliegt fast unter dem Druck der Rückstände, die Maschine
gerät überall ins Stocken, und das Publikum, die arbeitenden Klassen und die
Unternehmer, fühlen sich gleichermaßen benachteiligt.

Wie sehr Vereinfachung not tut, beweisen die Tatsachen und die jüngste
Statistik, die eine kaum zu übertreffende Zersplitterung der Kräfte und eine


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_296010/20>, abgerufen am 15.01.2025.