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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr.

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Die Stigmatisierte von Dülmen

deren Ausrottung herbeizuführen, wünsche ich, daß sich die Protestanten mit
den vernünftigen Katholiken verständigen. Ursprünglich sind die Kanonisierungen
nicht aus diesem Interesse hervorgegangen. Das gläubige Volk braucht Götter
oder Heilige, und weil der Lokalgötter zu viele wurden, versuchte die Kurie
die Wucherung einzuschränken, indem sie die Lokalkulte von der päpstlichen
Genehmigung abhängig machte. Aber nachdem die Reformation das Heiligen-,
Wunder- und Visionenwesen abgeschafft hatte, stempelte man die angebliche
Fortdauer der Wunderkraft und der Offenbarungen in der katholischen Kirche
zu einem Beweis ihrer Göttlichkeit. In einer naiven Zeit konnte ein Heilig¬
sprechungsprozeß mit seinen Wunderbeweisen ernsthaft genommen werden. Das
ist heutzutage nicht mehr möglich. Wir wissen alle: ein Wunder kann niemals
bewiesen werden. Es kann bewiesen werden, daß hier oder dort, zum Beispiel
in Lourdes, plötzliche Heilungen vorgekommen sind, aber es kann nicht bewiesen
werden, daß diese plötzlichen Heilungen von Gott zur Ehre eines bestimmten
Heiligen gewirkte Wunder sind. Zudem ist es eine ungeheuerliche Anmaßung,
wenn sich eine päpstliche Behörde für ermächtigt hält, die Plätze im Jenseits
zu verteilen und zu verkündigen, der und der sei in den Hofstaat Gottes auf¬
genommen und mit dem Amt eines Fürbitters und Schutzpatrons betraut
worden. Auch haben wir heutigen Menschen im ganzen andre sittliche Ideale
als die von der Kurie durch Beatifikationsurkuuden geschaffnen und wünschen
nicht, daß sich unsre Jugend ausschließlich von solchen römischen Idealen leiten
lasse. Endlich muß sich -- darin hat Ricks Recht -- das deutsche Volk die
Heiligsprechung gerade der Dülmener Nonne und die darin liegende Autorisation
ihrer vorgeblichen Offenbarungen ganz entschieden verbitten, denn diese hat,
da ja der Stoff ihrer Phantasien von ultramontanen Andachtsbüchern und
ebensolche" Zuträgern geliefert wurde, in der evangelischen Kirche die Kirche
Satans, in den Beauftragten der preußischen Regierung oder wenigstens hinter
ihnen lauter Teufel gesehen. Einem in solchem Geist erzognen Geschlechte
katholischer Männer könnte keine protestantische Regierung die bürgerliche
Gleichberechtigung zugestehn. Die Zeiten, wo die Kurie Gleichberechtigung
oder gar Herrschaft erzwingen konnte, sind vorüber; die katholische Kirche
muß auch in den sogenannten katholischen Ländern schon froh sein, wenn sie
nur geduldet wird. Wollen die deutschen Katholiken einen dauernden Frieden
und einen für beide Teile erträglichen moclus vivzucü, so müssen sie bei solchen
Gelegenheiten erklären: Wir lassen dem Papste den Ehrenprimat und seine
Jurisdiktiousgewalt in rein geistlichen Dingen, die ihm beide durch die historische
Entwicklung zugefallen, und die für die Kirche nützlich sind; aber als Lehrerin
der Wahrheit lind als unfehlbare Jnterpretin der göttlichen Offenbarung ver¬
mögen wir die italienische Prälatur, deren Charakter seit einem Jahrtausend
bekannt ist, nicht anzuerkennen. Kommen von Rom Beschlüsse, die anzunehmen
Vernunft und Gewissen verbieten, so weisen wir sie zurück, und will uns
Rom denn exkommunizieren, so mag es sich ohne uns Deutsche behelfen wie
,
L. I. es kann.




Die Stigmatisierte von Dülmen

deren Ausrottung herbeizuführen, wünsche ich, daß sich die Protestanten mit
den vernünftigen Katholiken verständigen. Ursprünglich sind die Kanonisierungen
nicht aus diesem Interesse hervorgegangen. Das gläubige Volk braucht Götter
oder Heilige, und weil der Lokalgötter zu viele wurden, versuchte die Kurie
die Wucherung einzuschränken, indem sie die Lokalkulte von der päpstlichen
Genehmigung abhängig machte. Aber nachdem die Reformation das Heiligen-,
Wunder- und Visionenwesen abgeschafft hatte, stempelte man die angebliche
Fortdauer der Wunderkraft und der Offenbarungen in der katholischen Kirche
zu einem Beweis ihrer Göttlichkeit. In einer naiven Zeit konnte ein Heilig¬
sprechungsprozeß mit seinen Wunderbeweisen ernsthaft genommen werden. Das
ist heutzutage nicht mehr möglich. Wir wissen alle: ein Wunder kann niemals
bewiesen werden. Es kann bewiesen werden, daß hier oder dort, zum Beispiel
in Lourdes, plötzliche Heilungen vorgekommen sind, aber es kann nicht bewiesen
werden, daß diese plötzlichen Heilungen von Gott zur Ehre eines bestimmten
Heiligen gewirkte Wunder sind. Zudem ist es eine ungeheuerliche Anmaßung,
wenn sich eine päpstliche Behörde für ermächtigt hält, die Plätze im Jenseits
zu verteilen und zu verkündigen, der und der sei in den Hofstaat Gottes auf¬
genommen und mit dem Amt eines Fürbitters und Schutzpatrons betraut
worden. Auch haben wir heutigen Menschen im ganzen andre sittliche Ideale
als die von der Kurie durch Beatifikationsurkuuden geschaffnen und wünschen
nicht, daß sich unsre Jugend ausschließlich von solchen römischen Idealen leiten
lasse. Endlich muß sich — darin hat Ricks Recht — das deutsche Volk die
Heiligsprechung gerade der Dülmener Nonne und die darin liegende Autorisation
ihrer vorgeblichen Offenbarungen ganz entschieden verbitten, denn diese hat,
da ja der Stoff ihrer Phantasien von ultramontanen Andachtsbüchern und
ebensolche» Zuträgern geliefert wurde, in der evangelischen Kirche die Kirche
Satans, in den Beauftragten der preußischen Regierung oder wenigstens hinter
ihnen lauter Teufel gesehen. Einem in solchem Geist erzognen Geschlechte
katholischer Männer könnte keine protestantische Regierung die bürgerliche
Gleichberechtigung zugestehn. Die Zeiten, wo die Kurie Gleichberechtigung
oder gar Herrschaft erzwingen konnte, sind vorüber; die katholische Kirche
muß auch in den sogenannten katholischen Ländern schon froh sein, wenn sie
nur geduldet wird. Wollen die deutschen Katholiken einen dauernden Frieden
und einen für beide Teile erträglichen moclus vivzucü, so müssen sie bei solchen
Gelegenheiten erklären: Wir lassen dem Papste den Ehrenprimat und seine
Jurisdiktiousgewalt in rein geistlichen Dingen, die ihm beide durch die historische
Entwicklung zugefallen, und die für die Kirche nützlich sind; aber als Lehrerin
der Wahrheit lind als unfehlbare Jnterpretin der göttlichen Offenbarung ver¬
mögen wir die italienische Prälatur, deren Charakter seit einem Jahrtausend
bekannt ist, nicht anzuerkennen. Kommen von Rom Beschlüsse, die anzunehmen
Vernunft und Gewissen verbieten, so weisen wir sie zurück, und will uns
Rom denn exkommunizieren, so mag es sich ohne uns Deutsche behelfen wie
,
L. I. es kann.




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[0162] Die Stigmatisierte von Dülmen deren Ausrottung herbeizuführen, wünsche ich, daß sich die Protestanten mit den vernünftigen Katholiken verständigen. Ursprünglich sind die Kanonisierungen nicht aus diesem Interesse hervorgegangen. Das gläubige Volk braucht Götter oder Heilige, und weil der Lokalgötter zu viele wurden, versuchte die Kurie die Wucherung einzuschränken, indem sie die Lokalkulte von der päpstlichen Genehmigung abhängig machte. Aber nachdem die Reformation das Heiligen-, Wunder- und Visionenwesen abgeschafft hatte, stempelte man die angebliche Fortdauer der Wunderkraft und der Offenbarungen in der katholischen Kirche zu einem Beweis ihrer Göttlichkeit. In einer naiven Zeit konnte ein Heilig¬ sprechungsprozeß mit seinen Wunderbeweisen ernsthaft genommen werden. Das ist heutzutage nicht mehr möglich. Wir wissen alle: ein Wunder kann niemals bewiesen werden. Es kann bewiesen werden, daß hier oder dort, zum Beispiel in Lourdes, plötzliche Heilungen vorgekommen sind, aber es kann nicht bewiesen werden, daß diese plötzlichen Heilungen von Gott zur Ehre eines bestimmten Heiligen gewirkte Wunder sind. Zudem ist es eine ungeheuerliche Anmaßung, wenn sich eine päpstliche Behörde für ermächtigt hält, die Plätze im Jenseits zu verteilen und zu verkündigen, der und der sei in den Hofstaat Gottes auf¬ genommen und mit dem Amt eines Fürbitters und Schutzpatrons betraut worden. Auch haben wir heutigen Menschen im ganzen andre sittliche Ideale als die von der Kurie durch Beatifikationsurkuuden geschaffnen und wünschen nicht, daß sich unsre Jugend ausschließlich von solchen römischen Idealen leiten lasse. Endlich muß sich — darin hat Ricks Recht — das deutsche Volk die Heiligsprechung gerade der Dülmener Nonne und die darin liegende Autorisation ihrer vorgeblichen Offenbarungen ganz entschieden verbitten, denn diese hat, da ja der Stoff ihrer Phantasien von ultramontanen Andachtsbüchern und ebensolche» Zuträgern geliefert wurde, in der evangelischen Kirche die Kirche Satans, in den Beauftragten der preußischen Regierung oder wenigstens hinter ihnen lauter Teufel gesehen. Einem in solchem Geist erzognen Geschlechte katholischer Männer könnte keine protestantische Regierung die bürgerliche Gleichberechtigung zugestehn. Die Zeiten, wo die Kurie Gleichberechtigung oder gar Herrschaft erzwingen konnte, sind vorüber; die katholische Kirche muß auch in den sogenannten katholischen Ländern schon froh sein, wenn sie nur geduldet wird. Wollen die deutschen Katholiken einen dauernden Frieden und einen für beide Teile erträglichen moclus vivzucü, so müssen sie bei solchen Gelegenheiten erklären: Wir lassen dem Papste den Ehrenprimat und seine Jurisdiktiousgewalt in rein geistlichen Dingen, die ihm beide durch die historische Entwicklung zugefallen, und die für die Kirche nützlich sind; aber als Lehrerin der Wahrheit lind als unfehlbare Jnterpretin der göttlichen Offenbarung ver¬ mögen wir die italienische Prälatur, deren Charakter seit einem Jahrtausend bekannt ist, nicht anzuerkennen. Kommen von Rom Beschlüsse, die anzunehmen Vernunft und Gewissen verbieten, so weisen wir sie zurück, und will uns Rom denn exkommunizieren, so mag es sich ohne uns Deutsche behelfen wie , L. I. es kann.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_296010/162>, abgerufen am 15.01.2025.