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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr.

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Uonstantinopolitanische Reiseerlebnisse

sich dazu hin und her und murmelten Sprüche vor sich hin. Durch eine Tür, schräg
uns gegenüber, traten immer noch neue Andachtsbegierige ein, wurden rasch mit
Kasten und Kappen bekleidet, setzten sich mit in die Reihe und fingen ebenfalls
an, sich zu wiegen und zu murmeln. Auch drei Knaben nahmen Platz, davon einer
mit einem wahrhaft idealen, begeisterten Gesicht, das Hauschild zu meinem Erstaunen
als "echt türkisch" bezeichnete. Wieder öffnete sich die Tür, und Herr Hauschild
rief mit allen Zeichen des Erstaunens: "Um Gottes willen, da ist ja ein Kollege!"
Herein trat ein tiefschwarzer Neger, eine wahre Hünengestalt in der Uniform eines
Kaimaknms. Er wurde sofort eingekleidet und erhielt den Ehrenplatz in der Mitte
der Reihe, von wo ans sein schwarzes Wollhaupt über alle andern hinwegragte.
Nachher hörten wir, daß dieser fromme Kriegsmann jeden Donnerstag in Skutari
und jeden Sonntag in Kassia-Pascha mit den Derwischen heule. Und warum auch
nicht? Heult doch so mancher Christ sein ganzes Leben lang mit den Wölfen.
Übrigens wirkte das gleichförmige Singen, Murmeln und Sichwiegen noch ein¬
schläfernder als die Predigt. Ich wollte eben vorschlagen, doch lieber zu gehn, da
standen auf einen Wink des Scheiks plötzlich alle Andächtigen auf. Die Lammfelle
wurden weggetragen, die Filzkappen abgenommen, geküßt und vor der Nische in einer
Reihe aufgestellt. Unter ihnen trug, wie sich jetzt zeigte, jeder noch eine weiße leinene
Mütze, die mit Sprüchen bestickt war. Darauf traten die Derwische von neuem in
eine Reihe, deren Mittelpunkt wieder der schwarze Oberstleutnant bildete, und nun
begann erst die eigentliche Heulerei. Was wir bisher gehört hatten, war nur das
Vorspiel gewesen. Sie wiegten sich, beugten sich vor- und rückwärts, schmissen die
Köpfe hin und her nud schrien unaufhörlich und mit lauten Stimmen: 1" it-ur
(d. h. "es gibt keinen Gott als Gott"), mit starkem Ton auf dem zweiten
it. Zu den beiden Vorsängern gesellten sich noch zwei andre, der Gesang wurde
lauter, lärmender, indem zwei in hohen, rasch wechselnden Läufen sangen, während
die beiden andern einen tiefen (Artus üimns hielten. Die Gesichter wurden immer
verzerrter, die Bewegungen immer rascher und leidenschaftlicher, und das Geheul
selbst immer wilder und unartikulierter. Es klang bald nur noch wie Haine^IiÄn
McllÄulgu, und in dieser Form hat es sich meinem Gedächtnis unauslöschlich ein¬
geprägt. Bald troffen die frommen Henker von Schweiß, und ein Dunst entwickelte
sich, der wahrlich kein Vorgeruch des Paradieses war. Die heiligen Männer
müssen, wenn sie in Eden eingehn, von den schönen Paradiesjnngfrauen erst ganz
gehörig parfümiert werden. Einigen der zuschauenden Damen wurde schlecht, sie
ließen sich hinausführen, aber unsre Fran Oberstleutnant hielt mit gespannter Auf¬
merksamkeit aus. Bald tönten auch andre gellende Rufe , durch das Geschrei, ein
lautes: An, lui, Ku! ("Er"), und dann wieder aus der Mitte heraus ein wildes
"Hurra!" -- so klang es uns anfangs, es hieß aber dura-U ("hierher").

Der Scheik stand mit krummer Nase und ehernem Gesicht, aus dem das Weiße
des Auges nahezu faszinierend herausglänzte, wie ein Feldherr vor der tollen Schar
und feuerte sie, wenn die Begeisterung nachzulassen schien, dnrch eine Bewegung
des Armes oder ein Aufstampfen mit dem Fuße zu erneutem gottesdienstlichen
Kraftgeheul an. Der Widerstreit des melodiösen Lanfgesanges und des grauen¬
vollen Geheuls wurde immer krasser, und gleich einer Eruption des Fanatismus
übertönte beides in Pausen das wie Kampfgeschrei schmetternde buiMI Als der
Tollste der Tollen gebärdete sich der schwarze Offizier; der fletschte die Zähne,
weiße, bläkende, riesige Anthropophagenzähne, schmiß den Kopf hin und her, als
wollte er ihn sich vom Halse werfen, und arbeitete mit dem Oberkörper und den
Armen wie ein Elefant; der Schweiß floß ihn, in Strömen über Gesicht und Hals.
Ich flüsterte meinem Nachbar nicht ohne Bosheit zu: "Fragen Sie doch einmal
beim nächsten Liebesmahl Ihren Herrn Kameraden, was er sich eigentlich bei diesem
Rummel denkt." Der Oberstleutnant lächelte ablehnend.

Jetzt bemächtigte sich die Erregung auch der Zuschauer uns gegenüber auf
der Estrade. Solche religiösen Wahnsinnsansbrüche haben ja immer eine mächtige


Uonstantinopolitanische Reiseerlebnisse

sich dazu hin und her und murmelten Sprüche vor sich hin. Durch eine Tür, schräg
uns gegenüber, traten immer noch neue Andachtsbegierige ein, wurden rasch mit
Kasten und Kappen bekleidet, setzten sich mit in die Reihe und fingen ebenfalls
an, sich zu wiegen und zu murmeln. Auch drei Knaben nahmen Platz, davon einer
mit einem wahrhaft idealen, begeisterten Gesicht, das Hauschild zu meinem Erstaunen
als „echt türkisch" bezeichnete. Wieder öffnete sich die Tür, und Herr Hauschild
rief mit allen Zeichen des Erstaunens: „Um Gottes willen, da ist ja ein Kollege!"
Herein trat ein tiefschwarzer Neger, eine wahre Hünengestalt in der Uniform eines
Kaimaknms. Er wurde sofort eingekleidet und erhielt den Ehrenplatz in der Mitte
der Reihe, von wo ans sein schwarzes Wollhaupt über alle andern hinwegragte.
Nachher hörten wir, daß dieser fromme Kriegsmann jeden Donnerstag in Skutari
und jeden Sonntag in Kassia-Pascha mit den Derwischen heule. Und warum auch
nicht? Heult doch so mancher Christ sein ganzes Leben lang mit den Wölfen.
Übrigens wirkte das gleichförmige Singen, Murmeln und Sichwiegen noch ein¬
schläfernder als die Predigt. Ich wollte eben vorschlagen, doch lieber zu gehn, da
standen auf einen Wink des Scheiks plötzlich alle Andächtigen auf. Die Lammfelle
wurden weggetragen, die Filzkappen abgenommen, geküßt und vor der Nische in einer
Reihe aufgestellt. Unter ihnen trug, wie sich jetzt zeigte, jeder noch eine weiße leinene
Mütze, die mit Sprüchen bestickt war. Darauf traten die Derwische von neuem in
eine Reihe, deren Mittelpunkt wieder der schwarze Oberstleutnant bildete, und nun
begann erst die eigentliche Heulerei. Was wir bisher gehört hatten, war nur das
Vorspiel gewesen. Sie wiegten sich, beugten sich vor- und rückwärts, schmissen die
Köpfe hin und her nud schrien unaufhörlich und mit lauten Stimmen: 1» it-ur
(d. h. „es gibt keinen Gott als Gott"), mit starkem Ton auf dem zweiten
it. Zu den beiden Vorsängern gesellten sich noch zwei andre, der Gesang wurde
lauter, lärmender, indem zwei in hohen, rasch wechselnden Läufen sangen, während
die beiden andern einen tiefen (Artus üimns hielten. Die Gesichter wurden immer
verzerrter, die Bewegungen immer rascher und leidenschaftlicher, und das Geheul
selbst immer wilder und unartikulierter. Es klang bald nur noch wie Haine^IiÄn
McllÄulgu, und in dieser Form hat es sich meinem Gedächtnis unauslöschlich ein¬
geprägt. Bald troffen die frommen Henker von Schweiß, und ein Dunst entwickelte
sich, der wahrlich kein Vorgeruch des Paradieses war. Die heiligen Männer
müssen, wenn sie in Eden eingehn, von den schönen Paradiesjnngfrauen erst ganz
gehörig parfümiert werden. Einigen der zuschauenden Damen wurde schlecht, sie
ließen sich hinausführen, aber unsre Fran Oberstleutnant hielt mit gespannter Auf¬
merksamkeit aus. Bald tönten auch andre gellende Rufe , durch das Geschrei, ein
lautes: An, lui, Ku! („Er"), und dann wieder aus der Mitte heraus ein wildes
„Hurra!" — so klang es uns anfangs, es hieß aber dura-U („hierher").

Der Scheik stand mit krummer Nase und ehernem Gesicht, aus dem das Weiße
des Auges nahezu faszinierend herausglänzte, wie ein Feldherr vor der tollen Schar
und feuerte sie, wenn die Begeisterung nachzulassen schien, dnrch eine Bewegung
des Armes oder ein Aufstampfen mit dem Fuße zu erneutem gottesdienstlichen
Kraftgeheul an. Der Widerstreit des melodiösen Lanfgesanges und des grauen¬
vollen Geheuls wurde immer krasser, und gleich einer Eruption des Fanatismus
übertönte beides in Pausen das wie Kampfgeschrei schmetternde buiMI Als der
Tollste der Tollen gebärdete sich der schwarze Offizier; der fletschte die Zähne,
weiße, bläkende, riesige Anthropophagenzähne, schmiß den Kopf hin und her, als
wollte er ihn sich vom Halse werfen, und arbeitete mit dem Oberkörper und den
Armen wie ein Elefant; der Schweiß floß ihn, in Strömen über Gesicht und Hals.
Ich flüsterte meinem Nachbar nicht ohne Bosheit zu: „Fragen Sie doch einmal
beim nächsten Liebesmahl Ihren Herrn Kameraden, was er sich eigentlich bei diesem
Rummel denkt." Der Oberstleutnant lächelte ablehnend.

Jetzt bemächtigte sich die Erregung auch der Zuschauer uns gegenüber auf
der Estrade. Solche religiösen Wahnsinnsansbrüche haben ja immer eine mächtige


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[0756] Uonstantinopolitanische Reiseerlebnisse sich dazu hin und her und murmelten Sprüche vor sich hin. Durch eine Tür, schräg uns gegenüber, traten immer noch neue Andachtsbegierige ein, wurden rasch mit Kasten und Kappen bekleidet, setzten sich mit in die Reihe und fingen ebenfalls an, sich zu wiegen und zu murmeln. Auch drei Knaben nahmen Platz, davon einer mit einem wahrhaft idealen, begeisterten Gesicht, das Hauschild zu meinem Erstaunen als „echt türkisch" bezeichnete. Wieder öffnete sich die Tür, und Herr Hauschild rief mit allen Zeichen des Erstaunens: „Um Gottes willen, da ist ja ein Kollege!" Herein trat ein tiefschwarzer Neger, eine wahre Hünengestalt in der Uniform eines Kaimaknms. Er wurde sofort eingekleidet und erhielt den Ehrenplatz in der Mitte der Reihe, von wo ans sein schwarzes Wollhaupt über alle andern hinwegragte. Nachher hörten wir, daß dieser fromme Kriegsmann jeden Donnerstag in Skutari und jeden Sonntag in Kassia-Pascha mit den Derwischen heule. Und warum auch nicht? Heult doch so mancher Christ sein ganzes Leben lang mit den Wölfen. Übrigens wirkte das gleichförmige Singen, Murmeln und Sichwiegen noch ein¬ schläfernder als die Predigt. Ich wollte eben vorschlagen, doch lieber zu gehn, da standen auf einen Wink des Scheiks plötzlich alle Andächtigen auf. Die Lammfelle wurden weggetragen, die Filzkappen abgenommen, geküßt und vor der Nische in einer Reihe aufgestellt. Unter ihnen trug, wie sich jetzt zeigte, jeder noch eine weiße leinene Mütze, die mit Sprüchen bestickt war. Darauf traten die Derwische von neuem in eine Reihe, deren Mittelpunkt wieder der schwarze Oberstleutnant bildete, und nun begann erst die eigentliche Heulerei. Was wir bisher gehört hatten, war nur das Vorspiel gewesen. Sie wiegten sich, beugten sich vor- und rückwärts, schmissen die Köpfe hin und her nud schrien unaufhörlich und mit lauten Stimmen: 1» it-ur (d. h. „es gibt keinen Gott als Gott"), mit starkem Ton auf dem zweiten it. Zu den beiden Vorsängern gesellten sich noch zwei andre, der Gesang wurde lauter, lärmender, indem zwei in hohen, rasch wechselnden Läufen sangen, während die beiden andern einen tiefen (Artus üimns hielten. Die Gesichter wurden immer verzerrter, die Bewegungen immer rascher und leidenschaftlicher, und das Geheul selbst immer wilder und unartikulierter. Es klang bald nur noch wie Haine^IiÄn McllÄulgu, und in dieser Form hat es sich meinem Gedächtnis unauslöschlich ein¬ geprägt. Bald troffen die frommen Henker von Schweiß, und ein Dunst entwickelte sich, der wahrlich kein Vorgeruch des Paradieses war. Die heiligen Männer müssen, wenn sie in Eden eingehn, von den schönen Paradiesjnngfrauen erst ganz gehörig parfümiert werden. Einigen der zuschauenden Damen wurde schlecht, sie ließen sich hinausführen, aber unsre Fran Oberstleutnant hielt mit gespannter Auf¬ merksamkeit aus. Bald tönten auch andre gellende Rufe , durch das Geschrei, ein lautes: An, lui, Ku! („Er"), und dann wieder aus der Mitte heraus ein wildes „Hurra!" — so klang es uns anfangs, es hieß aber dura-U („hierher"). Der Scheik stand mit krummer Nase und ehernem Gesicht, aus dem das Weiße des Auges nahezu faszinierend herausglänzte, wie ein Feldherr vor der tollen Schar und feuerte sie, wenn die Begeisterung nachzulassen schien, dnrch eine Bewegung des Armes oder ein Aufstampfen mit dem Fuße zu erneutem gottesdienstlichen Kraftgeheul an. Der Widerstreit des melodiösen Lanfgesanges und des grauen¬ vollen Geheuls wurde immer krasser, und gleich einer Eruption des Fanatismus übertönte beides in Pausen das wie Kampfgeschrei schmetternde buiMI Als der Tollste der Tollen gebärdete sich der schwarze Offizier; der fletschte die Zähne, weiße, bläkende, riesige Anthropophagenzähne, schmiß den Kopf hin und her, als wollte er ihn sich vom Halse werfen, und arbeitete mit dem Oberkörper und den Armen wie ein Elefant; der Schweiß floß ihn, in Strömen über Gesicht und Hals. Ich flüsterte meinem Nachbar nicht ohne Bosheit zu: „Fragen Sie doch einmal beim nächsten Liebesmahl Ihren Herrn Kameraden, was er sich eigentlich bei diesem Rummel denkt." Der Oberstleutnant lächelte ablehnend. Jetzt bemächtigte sich die Erregung auch der Zuschauer uns gegenüber auf der Estrade. Solche religiösen Wahnsinnsansbrüche haben ja immer eine mächtige

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Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_295218/756>, abgerufen am 29.06.2024.