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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr.

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Ungarn

ungarische Landwirt noch viel weniger angelegt als sein Kollege in Deutsch¬
land. Der ungarische Bauer vermag die Vorteile des Genossenschaftswesens
nur langsam einzusehen, um so mehr da viele Leute allen Grund haben, sie
ihm als "Beschränkung seiner persönlichen Freiheit" auszureden. Es sind
wohl hie und da wirtschaftliche Berufsgenossenschaften entstanden, sie sind
aber meist wegen Unfähigkeit der zur Leitung berufnen kaufmännischen An¬
gestellten bald wieder eingegangen oder fristen nur ein kümmerliches Dasein.
Nur den Kreditgeuossenschaftcn geht es besser, namentlich seitdem sie sich
auf Betreiben des Grafen Alexander Karolyi zu einem Zentralverband zu¬
sammengeschlossen haben, den: auch der Staat einen bedeutenden Zuschuß ge¬
währt. Auf dem sechsten internationalen Genossenschaftskongreß, der in der
ersten Septemberwoche in Budapest abgehalten wurde, betonte auch Graf
Karolyi mehrfach, daß das Genossenschaftswesen vor allem dazu bestimmt sei,
gegen den in so vielen Formen auftretenden verheerenden Wucher Front
zu machen und das Volk gegen die Übergriffe des finanziell Stärkern zu
schützen.

Die Folgen dieses unerträglichen Zustandes der landwirtschaftlichen Ver¬
hältnisse sind in Ungarn eine ungeheuer hohe Auswanderungszahl wie in
Italien und Galizien und außerdem das Überhandnehmen der Sozialdemo¬
kratie in der verarmten landwirtschaftlichen Bevölkerung. Es ist keineswegs
Übermut, sondern die bittere Not, was die ungarischen Bauern treibt, die
heimische Scholle, an der sie sonst mit aller Liebe und Treue Hunger, zu
verlassen und in der Fremde Arbeit zu suchen. Übervölkerung hat das Land
nicht, denn auf den Quadratkilometer kommen nur 58 Bewohner, dabei leidet
die Landwirtschaft unter empfindlichen Arbeitermangel, und auch der Industrie
fehlt es an Arbeitskräften. Trotzdem sind allein aus Ungarn im Jahre 1903
nach den Vereinigten Staaten über 100000 Personen ausgewandert. Die
Nachteile davon zeigen sich schon bei der Rekrutierung. Im letzten Jahre
hatten sich im Zipser Komitat 5287 Stellungspflichtige zu melden, es kamen
aber nur 2042 Mann; die meisten Ausgebliebnen hatten das Land verlassen,
und von den Anwesenden wurden nur 451 tauglich befunden. Zu den Ur¬
sachen der Auswanderung kommt allerdings noch hinzu die Behandlung, die
den nichtmagyarischen Nationalitäten zuteil wird. Alle Aufwendungen aus
Staatsmitteln kommen nur den Magyaren zugute, alle andern haben nichts
zu erwarten als mehr oder minder gehässige Magyarisierungsmaßregeln. Aus
begreiflichen Gründen wandten sich die ungarischen Auswandrer bisher über
die deutschen Häfen. Um dem zu begegnen, hat die ungarische Regierung
eine ganz den dortigen Anschauungen entsprechende Maßregel ergriffen und
zwingt die Auswandrer, über den Hafen Fiume zu gehn. Zu dem Zweck hat
sie mit der englischen Cunardlinie einen Vertrag abgeschlossen, worin sie dieser
mindestens 30000 Auswandrer im Jahre zu liefern verspricht, warum sie
einfach angeordnet hat, daß alle Auswandrer über Fiume zu gehn' haben.
Daß dadurch für diese Leute eine Verlängerung der Reise um mindestens
zwölf Tage entsteht, fällt bei dem "nationalen" Standpunkt der Regierung
ebensowenig ins Gewicht, wie die Tatsache, daß sie der Cunardlinie 180 Kronen


Ungarn

ungarische Landwirt noch viel weniger angelegt als sein Kollege in Deutsch¬
land. Der ungarische Bauer vermag die Vorteile des Genossenschaftswesens
nur langsam einzusehen, um so mehr da viele Leute allen Grund haben, sie
ihm als „Beschränkung seiner persönlichen Freiheit" auszureden. Es sind
wohl hie und da wirtschaftliche Berufsgenossenschaften entstanden, sie sind
aber meist wegen Unfähigkeit der zur Leitung berufnen kaufmännischen An¬
gestellten bald wieder eingegangen oder fristen nur ein kümmerliches Dasein.
Nur den Kreditgeuossenschaftcn geht es besser, namentlich seitdem sie sich
auf Betreiben des Grafen Alexander Karolyi zu einem Zentralverband zu¬
sammengeschlossen haben, den: auch der Staat einen bedeutenden Zuschuß ge¬
währt. Auf dem sechsten internationalen Genossenschaftskongreß, der in der
ersten Septemberwoche in Budapest abgehalten wurde, betonte auch Graf
Karolyi mehrfach, daß das Genossenschaftswesen vor allem dazu bestimmt sei,
gegen den in so vielen Formen auftretenden verheerenden Wucher Front
zu machen und das Volk gegen die Übergriffe des finanziell Stärkern zu
schützen.

Die Folgen dieses unerträglichen Zustandes der landwirtschaftlichen Ver¬
hältnisse sind in Ungarn eine ungeheuer hohe Auswanderungszahl wie in
Italien und Galizien und außerdem das Überhandnehmen der Sozialdemo¬
kratie in der verarmten landwirtschaftlichen Bevölkerung. Es ist keineswegs
Übermut, sondern die bittere Not, was die ungarischen Bauern treibt, die
heimische Scholle, an der sie sonst mit aller Liebe und Treue Hunger, zu
verlassen und in der Fremde Arbeit zu suchen. Übervölkerung hat das Land
nicht, denn auf den Quadratkilometer kommen nur 58 Bewohner, dabei leidet
die Landwirtschaft unter empfindlichen Arbeitermangel, und auch der Industrie
fehlt es an Arbeitskräften. Trotzdem sind allein aus Ungarn im Jahre 1903
nach den Vereinigten Staaten über 100000 Personen ausgewandert. Die
Nachteile davon zeigen sich schon bei der Rekrutierung. Im letzten Jahre
hatten sich im Zipser Komitat 5287 Stellungspflichtige zu melden, es kamen
aber nur 2042 Mann; die meisten Ausgebliebnen hatten das Land verlassen,
und von den Anwesenden wurden nur 451 tauglich befunden. Zu den Ur¬
sachen der Auswanderung kommt allerdings noch hinzu die Behandlung, die
den nichtmagyarischen Nationalitäten zuteil wird. Alle Aufwendungen aus
Staatsmitteln kommen nur den Magyaren zugute, alle andern haben nichts
zu erwarten als mehr oder minder gehässige Magyarisierungsmaßregeln. Aus
begreiflichen Gründen wandten sich die ungarischen Auswandrer bisher über
die deutschen Häfen. Um dem zu begegnen, hat die ungarische Regierung
eine ganz den dortigen Anschauungen entsprechende Maßregel ergriffen und
zwingt die Auswandrer, über den Hafen Fiume zu gehn. Zu dem Zweck hat
sie mit der englischen Cunardlinie einen Vertrag abgeschlossen, worin sie dieser
mindestens 30000 Auswandrer im Jahre zu liefern verspricht, warum sie
einfach angeordnet hat, daß alle Auswandrer über Fiume zu gehn' haben.
Daß dadurch für diese Leute eine Verlängerung der Reise um mindestens
zwölf Tage entsteht, fällt bei dem „nationalen" Standpunkt der Regierung
ebensowenig ins Gewicht, wie die Tatsache, daß sie der Cunardlinie 180 Kronen


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[0674] Ungarn ungarische Landwirt noch viel weniger angelegt als sein Kollege in Deutsch¬ land. Der ungarische Bauer vermag die Vorteile des Genossenschaftswesens nur langsam einzusehen, um so mehr da viele Leute allen Grund haben, sie ihm als „Beschränkung seiner persönlichen Freiheit" auszureden. Es sind wohl hie und da wirtschaftliche Berufsgenossenschaften entstanden, sie sind aber meist wegen Unfähigkeit der zur Leitung berufnen kaufmännischen An¬ gestellten bald wieder eingegangen oder fristen nur ein kümmerliches Dasein. Nur den Kreditgeuossenschaftcn geht es besser, namentlich seitdem sie sich auf Betreiben des Grafen Alexander Karolyi zu einem Zentralverband zu¬ sammengeschlossen haben, den: auch der Staat einen bedeutenden Zuschuß ge¬ währt. Auf dem sechsten internationalen Genossenschaftskongreß, der in der ersten Septemberwoche in Budapest abgehalten wurde, betonte auch Graf Karolyi mehrfach, daß das Genossenschaftswesen vor allem dazu bestimmt sei, gegen den in so vielen Formen auftretenden verheerenden Wucher Front zu machen und das Volk gegen die Übergriffe des finanziell Stärkern zu schützen. Die Folgen dieses unerträglichen Zustandes der landwirtschaftlichen Ver¬ hältnisse sind in Ungarn eine ungeheuer hohe Auswanderungszahl wie in Italien und Galizien und außerdem das Überhandnehmen der Sozialdemo¬ kratie in der verarmten landwirtschaftlichen Bevölkerung. Es ist keineswegs Übermut, sondern die bittere Not, was die ungarischen Bauern treibt, die heimische Scholle, an der sie sonst mit aller Liebe und Treue Hunger, zu verlassen und in der Fremde Arbeit zu suchen. Übervölkerung hat das Land nicht, denn auf den Quadratkilometer kommen nur 58 Bewohner, dabei leidet die Landwirtschaft unter empfindlichen Arbeitermangel, und auch der Industrie fehlt es an Arbeitskräften. Trotzdem sind allein aus Ungarn im Jahre 1903 nach den Vereinigten Staaten über 100000 Personen ausgewandert. Die Nachteile davon zeigen sich schon bei der Rekrutierung. Im letzten Jahre hatten sich im Zipser Komitat 5287 Stellungspflichtige zu melden, es kamen aber nur 2042 Mann; die meisten Ausgebliebnen hatten das Land verlassen, und von den Anwesenden wurden nur 451 tauglich befunden. Zu den Ur¬ sachen der Auswanderung kommt allerdings noch hinzu die Behandlung, die den nichtmagyarischen Nationalitäten zuteil wird. Alle Aufwendungen aus Staatsmitteln kommen nur den Magyaren zugute, alle andern haben nichts zu erwarten als mehr oder minder gehässige Magyarisierungsmaßregeln. Aus begreiflichen Gründen wandten sich die ungarischen Auswandrer bisher über die deutschen Häfen. Um dem zu begegnen, hat die ungarische Regierung eine ganz den dortigen Anschauungen entsprechende Maßregel ergriffen und zwingt die Auswandrer, über den Hafen Fiume zu gehn. Zu dem Zweck hat sie mit der englischen Cunardlinie einen Vertrag abgeschlossen, worin sie dieser mindestens 30000 Auswandrer im Jahre zu liefern verspricht, warum sie einfach angeordnet hat, daß alle Auswandrer über Fiume zu gehn' haben. Daß dadurch für diese Leute eine Verlängerung der Reise um mindestens zwölf Tage entsteht, fällt bei dem „nationalen" Standpunkt der Regierung ebensowenig ins Gewicht, wie die Tatsache, daß sie der Cunardlinie 180 Kronen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_295218/674>, abgerufen am 23.07.2024.