Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
UngaM

allem die Neigung zur Agitation, zur Parteizersplitterung, zur Aufstellung
politisch oder sozial unmöglicher Forderungen, zur unbedingten Bekämpfung
der Staats- und Kirchenbehörden usw. Das sind sämtlich Fragen, die sich
zeitweilig bei der Agitation um die Mandate nützlich verwenden lassen, häufig
aber mit der wirklichen Wohlfahrt des Landes nur in einem lockern und meist
bloß eingebildeten Verhältnis stehn, um so mehr, da sie Gegenbestrebungen
hervorrufen und damit Parteigegensütze wecken oder sie verschärfen. Diese zwar
aus denselben Wahlen hervorgehenden, aber doch nach ihrem Ursprung von den
adlichen verschiednen Abgeordneten finden sich in Ungarn in allen Parteien,
am meisten in den der Unabhängigkeit zugeneigten. Auch die herrschende
liberale Partei hat zahlreiche Mitglieder dieses politischen Charakters in ihren
Reihen, und ihr Einfluß unterdrückt mehr und mehr den der Adelspartei, die
nicht immer zur Leitung befähigte Männer hat.

Es erscheint auffällig, daß sich gerade in Ungarn seit mehr als drei Jahr¬
zehnten der Liberalismus als alleinherrschender Staatsgrundsatz behauptet hat,
eigentlich ist die Sache aber nicht zu verwundern. In Ungarn herrschen eben
nur die begünstigten Schichten der Gesellschaft, während die breiten Volks¬
massen von allem Einfluß auf die Verwaltung und die Gestaltung des Staats¬
wesens ausgeschlossen sind, und die nichtmagyarischen Völkerschaften überhaupt
die Stelle der politisch Enterbten einnehmen. Man sieht schon daraus, daß
der Name eine falsche Flagge ist, unter der eine Parteiherrschaft in der
härtesten Form ausgeübt wird. Die Bezeichnung selbst schreibt sich eben noch
aus Zeiten her, in denen Ungarn seinen Reichstag wiedersahen wollte, und
sein Verlangen mit der allgemeinen liberalen Forderung von Parlamenten
zusammenfiel. Alle Teile des Volkes, die anderswo von Haus aus im konser¬
vativen Lager stehn, der Grundadel, der Bauernstand und die Geistlichkeit,
haben sich aus nationalen Rücksichten von der liberalen Partei ins Schlepptau
nehmen lassen, die durch die ihr ausschließlich zur Verfügung stehenden Hilfs¬
quellen des Staats zu einer geradezu uneinnehmbaren Stellung im Lande
empvrgelangt ist. Soweit die politische Leitung in Frage kommt, darf sie sich
alle Verdienste um die fast ausschlaggebende Stellung des Magyarismus in
Österreich zurechnen, und nächst Deal und Andrassy gebührt Koloman von Tiszci
unstreitig die größte Anerkennung dafür. Aber seit dieser Zeit hat die Politik
mit weitem Blick aufgehört, und der nach den Vorteilen des Tages haschende
parlamentarische Kleinbetrieb hat sich eingefunden wie anderswo auch, natürlich
nicht ohne den ausbeuterischen Anhang, der den parlamentarischen Liberalismus
in allen Ländern begleitet und ihn schließlich unmöglich macht. Schon unter
Tisza trat die unerfreuliche Tätigkeit solcher Elemente hervor, die die Früchte
der gehobnen Ordnung des Staatslebens vorwiegend in ihre Taschen zu leiten
verstehn, sodaß das eigentliche Volk davon nichts hat und eher noch ärmer
wird. Seine Nachfolger entbehrten der großen Auffassung ganz und gar.

(Schluß folgt)




UngaM

allem die Neigung zur Agitation, zur Parteizersplitterung, zur Aufstellung
politisch oder sozial unmöglicher Forderungen, zur unbedingten Bekämpfung
der Staats- und Kirchenbehörden usw. Das sind sämtlich Fragen, die sich
zeitweilig bei der Agitation um die Mandate nützlich verwenden lassen, häufig
aber mit der wirklichen Wohlfahrt des Landes nur in einem lockern und meist
bloß eingebildeten Verhältnis stehn, um so mehr, da sie Gegenbestrebungen
hervorrufen und damit Parteigegensütze wecken oder sie verschärfen. Diese zwar
aus denselben Wahlen hervorgehenden, aber doch nach ihrem Ursprung von den
adlichen verschiednen Abgeordneten finden sich in Ungarn in allen Parteien,
am meisten in den der Unabhängigkeit zugeneigten. Auch die herrschende
liberale Partei hat zahlreiche Mitglieder dieses politischen Charakters in ihren
Reihen, und ihr Einfluß unterdrückt mehr und mehr den der Adelspartei, die
nicht immer zur Leitung befähigte Männer hat.

Es erscheint auffällig, daß sich gerade in Ungarn seit mehr als drei Jahr¬
zehnten der Liberalismus als alleinherrschender Staatsgrundsatz behauptet hat,
eigentlich ist die Sache aber nicht zu verwundern. In Ungarn herrschen eben
nur die begünstigten Schichten der Gesellschaft, während die breiten Volks¬
massen von allem Einfluß auf die Verwaltung und die Gestaltung des Staats¬
wesens ausgeschlossen sind, und die nichtmagyarischen Völkerschaften überhaupt
die Stelle der politisch Enterbten einnehmen. Man sieht schon daraus, daß
der Name eine falsche Flagge ist, unter der eine Parteiherrschaft in der
härtesten Form ausgeübt wird. Die Bezeichnung selbst schreibt sich eben noch
aus Zeiten her, in denen Ungarn seinen Reichstag wiedersahen wollte, und
sein Verlangen mit der allgemeinen liberalen Forderung von Parlamenten
zusammenfiel. Alle Teile des Volkes, die anderswo von Haus aus im konser¬
vativen Lager stehn, der Grundadel, der Bauernstand und die Geistlichkeit,
haben sich aus nationalen Rücksichten von der liberalen Partei ins Schlepptau
nehmen lassen, die durch die ihr ausschließlich zur Verfügung stehenden Hilfs¬
quellen des Staats zu einer geradezu uneinnehmbaren Stellung im Lande
empvrgelangt ist. Soweit die politische Leitung in Frage kommt, darf sie sich
alle Verdienste um die fast ausschlaggebende Stellung des Magyarismus in
Österreich zurechnen, und nächst Deal und Andrassy gebührt Koloman von Tiszci
unstreitig die größte Anerkennung dafür. Aber seit dieser Zeit hat die Politik
mit weitem Blick aufgehört, und der nach den Vorteilen des Tages haschende
parlamentarische Kleinbetrieb hat sich eingefunden wie anderswo auch, natürlich
nicht ohne den ausbeuterischen Anhang, der den parlamentarischen Liberalismus
in allen Ländern begleitet und ihn schließlich unmöglich macht. Schon unter
Tisza trat die unerfreuliche Tätigkeit solcher Elemente hervor, die die Früchte
der gehobnen Ordnung des Staatslebens vorwiegend in ihre Taschen zu leiten
verstehn, sodaß das eigentliche Volk davon nichts hat und eher noch ärmer
wird. Seine Nachfolger entbehrten der großen Auffassung ganz und gar.

(Schluß folgt)




<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0610" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/295829"/>
          <fw type="header" place="top"> UngaM</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_3103" prev="#ID_3102"> allem die Neigung zur Agitation, zur Parteizersplitterung, zur Aufstellung<lb/>
politisch oder sozial unmöglicher Forderungen, zur unbedingten Bekämpfung<lb/>
der Staats- und Kirchenbehörden usw. Das sind sämtlich Fragen, die sich<lb/>
zeitweilig bei der Agitation um die Mandate nützlich verwenden lassen, häufig<lb/>
aber mit der wirklichen Wohlfahrt des Landes nur in einem lockern und meist<lb/>
bloß eingebildeten Verhältnis stehn, um so mehr, da sie Gegenbestrebungen<lb/>
hervorrufen und damit Parteigegensütze wecken oder sie verschärfen. Diese zwar<lb/>
aus denselben Wahlen hervorgehenden, aber doch nach ihrem Ursprung von den<lb/>
adlichen verschiednen Abgeordneten finden sich in Ungarn in allen Parteien,<lb/>
am meisten in den der Unabhängigkeit zugeneigten. Auch die herrschende<lb/>
liberale Partei hat zahlreiche Mitglieder dieses politischen Charakters in ihren<lb/>
Reihen, und ihr Einfluß unterdrückt mehr und mehr den der Adelspartei, die<lb/>
nicht immer zur Leitung befähigte Männer hat.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_3104"> Es erscheint auffällig, daß sich gerade in Ungarn seit mehr als drei Jahr¬<lb/>
zehnten der Liberalismus als alleinherrschender Staatsgrundsatz behauptet hat,<lb/>
eigentlich ist die Sache aber nicht zu verwundern. In Ungarn herrschen eben<lb/>
nur die begünstigten Schichten der Gesellschaft, während die breiten Volks¬<lb/>
massen von allem Einfluß auf die Verwaltung und die Gestaltung des Staats¬<lb/>
wesens ausgeschlossen sind, und die nichtmagyarischen Völkerschaften überhaupt<lb/>
die Stelle der politisch Enterbten einnehmen. Man sieht schon daraus, daß<lb/>
der Name eine falsche Flagge ist, unter der eine Parteiherrschaft in der<lb/>
härtesten Form ausgeübt wird. Die Bezeichnung selbst schreibt sich eben noch<lb/>
aus Zeiten her, in denen Ungarn seinen Reichstag wiedersahen wollte, und<lb/>
sein Verlangen mit der allgemeinen liberalen Forderung von Parlamenten<lb/>
zusammenfiel. Alle Teile des Volkes, die anderswo von Haus aus im konser¬<lb/>
vativen Lager stehn, der Grundadel, der Bauernstand und die Geistlichkeit,<lb/>
haben sich aus nationalen Rücksichten von der liberalen Partei ins Schlepptau<lb/>
nehmen lassen, die durch die ihr ausschließlich zur Verfügung stehenden Hilfs¬<lb/>
quellen des Staats zu einer geradezu uneinnehmbaren Stellung im Lande<lb/>
empvrgelangt ist. Soweit die politische Leitung in Frage kommt, darf sie sich<lb/>
alle Verdienste um die fast ausschlaggebende Stellung des Magyarismus in<lb/>
Österreich zurechnen, und nächst Deal und Andrassy gebührt Koloman von Tiszci<lb/>
unstreitig die größte Anerkennung dafür. Aber seit dieser Zeit hat die Politik<lb/>
mit weitem Blick aufgehört, und der nach den Vorteilen des Tages haschende<lb/>
parlamentarische Kleinbetrieb hat sich eingefunden wie anderswo auch, natürlich<lb/>
nicht ohne den ausbeuterischen Anhang, der den parlamentarischen Liberalismus<lb/>
in allen Ländern begleitet und ihn schließlich unmöglich macht. Schon unter<lb/>
Tisza trat die unerfreuliche Tätigkeit solcher Elemente hervor, die die Früchte<lb/>
der gehobnen Ordnung des Staatslebens vorwiegend in ihre Taschen zu leiten<lb/>
verstehn, sodaß das eigentliche Volk davon nichts hat und eher noch ärmer<lb/>
wird.  Seine Nachfolger entbehrten der großen Auffassung ganz und gar.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_3105"> (Schluß folgt)</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0610] UngaM allem die Neigung zur Agitation, zur Parteizersplitterung, zur Aufstellung politisch oder sozial unmöglicher Forderungen, zur unbedingten Bekämpfung der Staats- und Kirchenbehörden usw. Das sind sämtlich Fragen, die sich zeitweilig bei der Agitation um die Mandate nützlich verwenden lassen, häufig aber mit der wirklichen Wohlfahrt des Landes nur in einem lockern und meist bloß eingebildeten Verhältnis stehn, um so mehr, da sie Gegenbestrebungen hervorrufen und damit Parteigegensütze wecken oder sie verschärfen. Diese zwar aus denselben Wahlen hervorgehenden, aber doch nach ihrem Ursprung von den adlichen verschiednen Abgeordneten finden sich in Ungarn in allen Parteien, am meisten in den der Unabhängigkeit zugeneigten. Auch die herrschende liberale Partei hat zahlreiche Mitglieder dieses politischen Charakters in ihren Reihen, und ihr Einfluß unterdrückt mehr und mehr den der Adelspartei, die nicht immer zur Leitung befähigte Männer hat. Es erscheint auffällig, daß sich gerade in Ungarn seit mehr als drei Jahr¬ zehnten der Liberalismus als alleinherrschender Staatsgrundsatz behauptet hat, eigentlich ist die Sache aber nicht zu verwundern. In Ungarn herrschen eben nur die begünstigten Schichten der Gesellschaft, während die breiten Volks¬ massen von allem Einfluß auf die Verwaltung und die Gestaltung des Staats¬ wesens ausgeschlossen sind, und die nichtmagyarischen Völkerschaften überhaupt die Stelle der politisch Enterbten einnehmen. Man sieht schon daraus, daß der Name eine falsche Flagge ist, unter der eine Parteiherrschaft in der härtesten Form ausgeübt wird. Die Bezeichnung selbst schreibt sich eben noch aus Zeiten her, in denen Ungarn seinen Reichstag wiedersahen wollte, und sein Verlangen mit der allgemeinen liberalen Forderung von Parlamenten zusammenfiel. Alle Teile des Volkes, die anderswo von Haus aus im konser¬ vativen Lager stehn, der Grundadel, der Bauernstand und die Geistlichkeit, haben sich aus nationalen Rücksichten von der liberalen Partei ins Schlepptau nehmen lassen, die durch die ihr ausschließlich zur Verfügung stehenden Hilfs¬ quellen des Staats zu einer geradezu uneinnehmbaren Stellung im Lande empvrgelangt ist. Soweit die politische Leitung in Frage kommt, darf sie sich alle Verdienste um die fast ausschlaggebende Stellung des Magyarismus in Österreich zurechnen, und nächst Deal und Andrassy gebührt Koloman von Tiszci unstreitig die größte Anerkennung dafür. Aber seit dieser Zeit hat die Politik mit weitem Blick aufgehört, und der nach den Vorteilen des Tages haschende parlamentarische Kleinbetrieb hat sich eingefunden wie anderswo auch, natürlich nicht ohne den ausbeuterischen Anhang, der den parlamentarischen Liberalismus in allen Ländern begleitet und ihn schließlich unmöglich macht. Schon unter Tisza trat die unerfreuliche Tätigkeit solcher Elemente hervor, die die Früchte der gehobnen Ordnung des Staatslebens vorwiegend in ihre Taschen zu leiten verstehn, sodaß das eigentliche Volk davon nichts hat und eher noch ärmer wird. Seine Nachfolger entbehrten der großen Auffassung ganz und gar. (Schluß folgt)

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_295218
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_295218/610
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_295218/610>, abgerufen am 29.06.2024.