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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr.

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Habsburgischen Monarchie erlangt, aber ihre Selbständigkeitsbestrebungen sind
damit nicht zur Ruhe gekommen, das Unkraut der Agitation wuchert eben
weiter. Die Heißsporne meinen, ein selbständiges Ungarn werde und könne
eine Rolle wie etwa Spanien spielen, sie vergessen aber, das dieses Land,
abgetrennt durch ein Hochgebirge, in der äußersten Ecke von Europa liegt, sie
aber mitten in einem Völkergemisch leben, das seit Jahrhunderten in der
Gärung der Staatenbildung begriffen ist, und aus dem sich erst seit zwei¬
hundertundfünfzig Jahren die habsburgische Monarchie mit einiger Festigkeit
herauskristallisiert hat.

Die fortwährenden Kämpfe und die unausgesetzten Schwierigkeiten, die
die Aufrichtung der bedingten Unabhängigkeit des Landes mit sich brachten,
hatten unter den seinerzeit allein in Betracht kommenden Ständen, dem Adel
und der höhern Geistlichkeit, eine traditionelle Staatsklugheit erzeugt, die
immer vorteilhaft das Interesse des Landes zu wahren weiß und alle
Leistungen für das Gesamtreich sorgsam gegen die eignen Vorteile abwägt.
Man hatte auch glücklich die Zeiten der übermächtigen Ausbildung der landes¬
herrlichen Souveränität überstanden, freilich unter der Begünstigung, daß die
Habsburger fast in ununterbrochne Kriege mit dem halben Weltteil verwickelt
und oft genug auf deu guten Willen der ungarischen Stände angewiesen
waren. Der erste Bruch mit der traditionellen politischen Klugheit erfolgte,
als die liberale Agitation des vorigen Jahrhunderts auch in Ungarn an die
Oberfläche gelangte, und Kossuth seine republikanischen Abenteuer in Szene
setzte, die den kläglichsten Ausgang nahmen. Nach dem Scheitern der auf
Undank gegen Nußland und Mißachtung Preußens gerichteten Wiener Politik
1866 lächelte deu gedemütigten die Glückssonne unerwartet früh von neuem,
und diesesmal kam auch die altbewährte politische Klugheit der ungarischen
Führer wieder zur Geltung. Der "Weise der Nation," Franz Deal. brachte
mit besondrer Unterstützung von Graf Julius Andrassy, Graf Melchior
Lonyay, Baron Joseph Eötvös u. a. den staatsrechtlichen Ausgleich von
1867 zustande, der mit dem größten juristischen Scharfsinn die Selbständigkeit
Ungarns verbürgt, aber auch die in der Pragmatischen Sanktion ausgesprochne
Union mit Österreich und die Scheidelinie zwischen gemeinsamen und selb¬
ständigen Angelegenheiten so klar wie möglich ausdrückt. Damit hatten die
Magyaren ihre verloren gegangne Stellung mit einem Schlage wieder erreicht.
Um sie noch mehr zu sichern, ergänzte Deal sein Werk weiter durch einen
Ausgleich mit Kroatien und ein Nationalitätengesetz in der Absicht, dadurch
alle nationalen Schwierigkeiten zu beseitigen, die eine gesunde Politik Hütten
beeinträchtigen können. Die große Mehrheit des ungarischen Reichstags trat
begreiflicherweise init voller Überzeugung für den Ausgleich ein, der gar nicht
günstiger hätte ausfallen können, das linke Zentrum bekrittelte wohl einige
Punkte, ging aber schon 1875 zur Deakpartei über. Dagegen war nur die
Unabhüngigkeitspartei, die die Unabhängigkeit von 1848 anstrebte und allein
die reine Personalunion, nach der auch Hofhalt, Heer, Diplomatie usw. für
Ungarn selbständig sein müsse, verlangte.

Ungarn hatte damit den äußern Nahmen seiner frühern Stellung, die


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Habsburgischen Monarchie erlangt, aber ihre Selbständigkeitsbestrebungen sind
damit nicht zur Ruhe gekommen, das Unkraut der Agitation wuchert eben
weiter. Die Heißsporne meinen, ein selbständiges Ungarn werde und könne
eine Rolle wie etwa Spanien spielen, sie vergessen aber, das dieses Land,
abgetrennt durch ein Hochgebirge, in der äußersten Ecke von Europa liegt, sie
aber mitten in einem Völkergemisch leben, das seit Jahrhunderten in der
Gärung der Staatenbildung begriffen ist, und aus dem sich erst seit zwei¬
hundertundfünfzig Jahren die habsburgische Monarchie mit einiger Festigkeit
herauskristallisiert hat.

Die fortwährenden Kämpfe und die unausgesetzten Schwierigkeiten, die
die Aufrichtung der bedingten Unabhängigkeit des Landes mit sich brachten,
hatten unter den seinerzeit allein in Betracht kommenden Ständen, dem Adel
und der höhern Geistlichkeit, eine traditionelle Staatsklugheit erzeugt, die
immer vorteilhaft das Interesse des Landes zu wahren weiß und alle
Leistungen für das Gesamtreich sorgsam gegen die eignen Vorteile abwägt.
Man hatte auch glücklich die Zeiten der übermächtigen Ausbildung der landes¬
herrlichen Souveränität überstanden, freilich unter der Begünstigung, daß die
Habsburger fast in ununterbrochne Kriege mit dem halben Weltteil verwickelt
und oft genug auf deu guten Willen der ungarischen Stände angewiesen
waren. Der erste Bruch mit der traditionellen politischen Klugheit erfolgte,
als die liberale Agitation des vorigen Jahrhunderts auch in Ungarn an die
Oberfläche gelangte, und Kossuth seine republikanischen Abenteuer in Szene
setzte, die den kläglichsten Ausgang nahmen. Nach dem Scheitern der auf
Undank gegen Nußland und Mißachtung Preußens gerichteten Wiener Politik
1866 lächelte deu gedemütigten die Glückssonne unerwartet früh von neuem,
und diesesmal kam auch die altbewährte politische Klugheit der ungarischen
Führer wieder zur Geltung. Der „Weise der Nation," Franz Deal. brachte
mit besondrer Unterstützung von Graf Julius Andrassy, Graf Melchior
Lonyay, Baron Joseph Eötvös u. a. den staatsrechtlichen Ausgleich von
1867 zustande, der mit dem größten juristischen Scharfsinn die Selbständigkeit
Ungarns verbürgt, aber auch die in der Pragmatischen Sanktion ausgesprochne
Union mit Österreich und die Scheidelinie zwischen gemeinsamen und selb¬
ständigen Angelegenheiten so klar wie möglich ausdrückt. Damit hatten die
Magyaren ihre verloren gegangne Stellung mit einem Schlage wieder erreicht.
Um sie noch mehr zu sichern, ergänzte Deal sein Werk weiter durch einen
Ausgleich mit Kroatien und ein Nationalitätengesetz in der Absicht, dadurch
alle nationalen Schwierigkeiten zu beseitigen, die eine gesunde Politik Hütten
beeinträchtigen können. Die große Mehrheit des ungarischen Reichstags trat
begreiflicherweise init voller Überzeugung für den Ausgleich ein, der gar nicht
günstiger hätte ausfallen können, das linke Zentrum bekrittelte wohl einige
Punkte, ging aber schon 1875 zur Deakpartei über. Dagegen war nur die
Unabhüngigkeitspartei, die die Unabhängigkeit von 1848 anstrebte und allein
die reine Personalunion, nach der auch Hofhalt, Heer, Diplomatie usw. für
Ungarn selbständig sein müsse, verlangte.

Ungarn hatte damit den äußern Nahmen seiner frühern Stellung, die


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[0607] UngaM Habsburgischen Monarchie erlangt, aber ihre Selbständigkeitsbestrebungen sind damit nicht zur Ruhe gekommen, das Unkraut der Agitation wuchert eben weiter. Die Heißsporne meinen, ein selbständiges Ungarn werde und könne eine Rolle wie etwa Spanien spielen, sie vergessen aber, das dieses Land, abgetrennt durch ein Hochgebirge, in der äußersten Ecke von Europa liegt, sie aber mitten in einem Völkergemisch leben, das seit Jahrhunderten in der Gärung der Staatenbildung begriffen ist, und aus dem sich erst seit zwei¬ hundertundfünfzig Jahren die habsburgische Monarchie mit einiger Festigkeit herauskristallisiert hat. Die fortwährenden Kämpfe und die unausgesetzten Schwierigkeiten, die die Aufrichtung der bedingten Unabhängigkeit des Landes mit sich brachten, hatten unter den seinerzeit allein in Betracht kommenden Ständen, dem Adel und der höhern Geistlichkeit, eine traditionelle Staatsklugheit erzeugt, die immer vorteilhaft das Interesse des Landes zu wahren weiß und alle Leistungen für das Gesamtreich sorgsam gegen die eignen Vorteile abwägt. Man hatte auch glücklich die Zeiten der übermächtigen Ausbildung der landes¬ herrlichen Souveränität überstanden, freilich unter der Begünstigung, daß die Habsburger fast in ununterbrochne Kriege mit dem halben Weltteil verwickelt und oft genug auf deu guten Willen der ungarischen Stände angewiesen waren. Der erste Bruch mit der traditionellen politischen Klugheit erfolgte, als die liberale Agitation des vorigen Jahrhunderts auch in Ungarn an die Oberfläche gelangte, und Kossuth seine republikanischen Abenteuer in Szene setzte, die den kläglichsten Ausgang nahmen. Nach dem Scheitern der auf Undank gegen Nußland und Mißachtung Preußens gerichteten Wiener Politik 1866 lächelte deu gedemütigten die Glückssonne unerwartet früh von neuem, und diesesmal kam auch die altbewährte politische Klugheit der ungarischen Führer wieder zur Geltung. Der „Weise der Nation," Franz Deal. brachte mit besondrer Unterstützung von Graf Julius Andrassy, Graf Melchior Lonyay, Baron Joseph Eötvös u. a. den staatsrechtlichen Ausgleich von 1867 zustande, der mit dem größten juristischen Scharfsinn die Selbständigkeit Ungarns verbürgt, aber auch die in der Pragmatischen Sanktion ausgesprochne Union mit Österreich und die Scheidelinie zwischen gemeinsamen und selb¬ ständigen Angelegenheiten so klar wie möglich ausdrückt. Damit hatten die Magyaren ihre verloren gegangne Stellung mit einem Schlage wieder erreicht. Um sie noch mehr zu sichern, ergänzte Deal sein Werk weiter durch einen Ausgleich mit Kroatien und ein Nationalitätengesetz in der Absicht, dadurch alle nationalen Schwierigkeiten zu beseitigen, die eine gesunde Politik Hütten beeinträchtigen können. Die große Mehrheit des ungarischen Reichstags trat begreiflicherweise init voller Überzeugung für den Ausgleich ein, der gar nicht günstiger hätte ausfallen können, das linke Zentrum bekrittelte wohl einige Punkte, ging aber schon 1875 zur Deakpartei über. Dagegen war nur die Unabhüngigkeitspartei, die die Unabhängigkeit von 1848 anstrebte und allein die reine Personalunion, nach der auch Hofhalt, Heer, Diplomatie usw. für Ungarn selbständig sein müsse, verlangte. Ungarn hatte damit den äußern Nahmen seiner frühern Stellung, die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_295218/607>, abgerufen am 23.07.2024.