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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr.

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Ronstcmtinopolitanische Reiseerlebnisse

Hinter diesem und einem dritten Tore kommen dann erst die jetzt verwahrlosten
und durch die Eisenbahn entweihten ehemaligen Zaubergärten des Serail und die
Prunkgebäude und Säle mit den fabelhaften Schätzen. Aber welche Schreckenszenen
spielten sich dort anch zwischen den Laubgängen, Rosen- und Tulpenbeeten ab!
Noch ist das Tor vorhanden, durch das die Körper heimlich Gerichteter hinausge¬
worfen wurden ins Meer, noch die Seufzerkammern, in denen unbequeme Halb¬
brüder oder andre Verwandte des regierenden Herrn für immer verschwanden,
noch die Stelle, wo die schönen Frauen, deren der launische Eheherr überdrüssig
geworden war, in Säcke genäht hinabgerollt wurden in die verschwiegne Flut.
Wie viele menschliche Leichen mag wohl dieses Meer unter seinem sanften, blauen
Spiegel zur ewigen Ruhe gebettet haben!

Wir wenden uns ab von dieser Stätte unerhörter Pracht und noch uner¬
hörterer Greuel und schreiten nach links, hinunter, an der Kunstschule vorüber. Da
stehn wir plötzlich zwischen den beiden kaiserlichen Museen; links haben wir das
alte, rechts das neue. Auf dem Platze dazwischen liegen Säulenstümpfe, Löwen,
Kapitelle. Wir nehmen ein Billett, das für beide Giltigkeit hat, und wollen uns
zuerst das alte ansehen, aber der Beamte dort weist uns zurück. Man muß mit
dem neuen anfangen. Echt türkisch! Das alte hat mehr für den Archäologen und
Altertumsforscher Interesse, das neue in höchstem Grade auch für den Kunstfreund.
Jenes enthält eine Menge griechisch-römischer, byzantinischer, cyprischer und semitischer
Altertümer, auch einen Teil der von Schliemann in Troja ausgegrcibnen Schmucksachen,
ferner Silberschalen, Bronzestatuen und Marmorstandbilder, die auch der Nichtfach-
mann wegen ihrer Schönheit gern betrachten wird. Doch gibt es hier keine Kunst¬
werke ersten Ranges. Im neuen Museum dagegen kann man, obwohl es nur aus
zwei Sälen besteht -- denn der Oberstock kommt kaum in Betracht --, stundenlang
verweilen. Das, was man in ihm zu sehen bekommt, ist teilweise von allerhöchstem
Kunstwert. Hier stehn nämlich die von Hamdi-Bei 1887 aus den Totengrüften von
Sidon zutage geförderten siebzehn großen Steinsarkophage, deren Besitz dieses türkische
Museum fast auf dieselbe Höhe mit den bedeutendsten abendländischen Galerien stellt.
Zwei von ihnen kann man dreist als die beiden schönsten Särge bezeichnen, die es
überhaupt auf Erden gibt. Der eine ist der mit den trauernden Frauen, den so¬
genannten xlsursusizs, achtzehn herrlichen Reliefgestalten, die die verschiedensten Aus¬
drucksformen des Schmerzes von seinem ersten lähmenden Stoß durch alle Stadien
des Jammers hindurch bis zur spät errungnen stillen Ergebung in unübertrefflich
edeln Formen zur Darstellung bringen. Der andre ist der weltberühmte Alexander¬
sarkophag, der uns auf seiner einen Langseite eine Löwenjagd, auf der andern eine
Reiterschlacht des großen Makedonenkönigs bietet. Wunderbare Realistik dieser wild¬
bewegten Szenen. Hier ist alles Wahrheit und Kraft und doch zugleich maßvolle
Schönheit. Elastisch schwellen die stürmisch bewegten Gestalten der Menschen und
Rosse aus dem marmornen Hintergrund heraus, jede Muskel gespannt, jedes Gesicht
in leidenschaftlicher Erregung, die Augen förmlich strahlend, das Ganze das Meister¬
werk eines attischen Meißels, bestimmt, den Leichnam eines sidmnschen Königs auf¬
zunehmen, der den Alexander willig als seinen Lehnsherrn anerkannte und dessen
Taten sür den besten Schmuck seines Sarkophags ansah.

Wie einfach und unscheinbar ist daneben der andre Basaltsarkophag, der -- wie
eine hieroglyphische Inschrift zeigt -- erst einem ägyptischen Großen gedient und
dann den sidonischen Fürsten Täbnit beherbergt hat. Dieser hat in phönizischen
Buchstaben darauf geschrieben: "Wer du seiest, entweihe nicht meine Gruft, du
findest keine Schätze. Störe nicht meine ewige Ruhe. Wer es dennoch tun will,
sei verflucht in Ewigkeit!" Wie wenig hat ihm diese Bitte und dieser Fluch ge¬
holfen! Jetzt liegt seine mumifizierte Leiche nicht mehr in dem Sarge, sondern
daneben nnter einem gläsernen Kasten, der mit einem roten Tuche bedeckt ist.
Jeder Museumsbesucher kann es fortziehn und sich den Täbnit ansehen. Wenn
der alte Phönizierfürst geahnt hätte, daß er noch nach zweitausend Jahren in einem


Ronstcmtinopolitanische Reiseerlebnisse

Hinter diesem und einem dritten Tore kommen dann erst die jetzt verwahrlosten
und durch die Eisenbahn entweihten ehemaligen Zaubergärten des Serail und die
Prunkgebäude und Säle mit den fabelhaften Schätzen. Aber welche Schreckenszenen
spielten sich dort anch zwischen den Laubgängen, Rosen- und Tulpenbeeten ab!
Noch ist das Tor vorhanden, durch das die Körper heimlich Gerichteter hinausge¬
worfen wurden ins Meer, noch die Seufzerkammern, in denen unbequeme Halb¬
brüder oder andre Verwandte des regierenden Herrn für immer verschwanden,
noch die Stelle, wo die schönen Frauen, deren der launische Eheherr überdrüssig
geworden war, in Säcke genäht hinabgerollt wurden in die verschwiegne Flut.
Wie viele menschliche Leichen mag wohl dieses Meer unter seinem sanften, blauen
Spiegel zur ewigen Ruhe gebettet haben!

Wir wenden uns ab von dieser Stätte unerhörter Pracht und noch uner¬
hörterer Greuel und schreiten nach links, hinunter, an der Kunstschule vorüber. Da
stehn wir plötzlich zwischen den beiden kaiserlichen Museen; links haben wir das
alte, rechts das neue. Auf dem Platze dazwischen liegen Säulenstümpfe, Löwen,
Kapitelle. Wir nehmen ein Billett, das für beide Giltigkeit hat, und wollen uns
zuerst das alte ansehen, aber der Beamte dort weist uns zurück. Man muß mit
dem neuen anfangen. Echt türkisch! Das alte hat mehr für den Archäologen und
Altertumsforscher Interesse, das neue in höchstem Grade auch für den Kunstfreund.
Jenes enthält eine Menge griechisch-römischer, byzantinischer, cyprischer und semitischer
Altertümer, auch einen Teil der von Schliemann in Troja ausgegrcibnen Schmucksachen,
ferner Silberschalen, Bronzestatuen und Marmorstandbilder, die auch der Nichtfach-
mann wegen ihrer Schönheit gern betrachten wird. Doch gibt es hier keine Kunst¬
werke ersten Ranges. Im neuen Museum dagegen kann man, obwohl es nur aus
zwei Sälen besteht — denn der Oberstock kommt kaum in Betracht —, stundenlang
verweilen. Das, was man in ihm zu sehen bekommt, ist teilweise von allerhöchstem
Kunstwert. Hier stehn nämlich die von Hamdi-Bei 1887 aus den Totengrüften von
Sidon zutage geförderten siebzehn großen Steinsarkophage, deren Besitz dieses türkische
Museum fast auf dieselbe Höhe mit den bedeutendsten abendländischen Galerien stellt.
Zwei von ihnen kann man dreist als die beiden schönsten Särge bezeichnen, die es
überhaupt auf Erden gibt. Der eine ist der mit den trauernden Frauen, den so¬
genannten xlsursusizs, achtzehn herrlichen Reliefgestalten, die die verschiedensten Aus¬
drucksformen des Schmerzes von seinem ersten lähmenden Stoß durch alle Stadien
des Jammers hindurch bis zur spät errungnen stillen Ergebung in unübertrefflich
edeln Formen zur Darstellung bringen. Der andre ist der weltberühmte Alexander¬
sarkophag, der uns auf seiner einen Langseite eine Löwenjagd, auf der andern eine
Reiterschlacht des großen Makedonenkönigs bietet. Wunderbare Realistik dieser wild¬
bewegten Szenen. Hier ist alles Wahrheit und Kraft und doch zugleich maßvolle
Schönheit. Elastisch schwellen die stürmisch bewegten Gestalten der Menschen und
Rosse aus dem marmornen Hintergrund heraus, jede Muskel gespannt, jedes Gesicht
in leidenschaftlicher Erregung, die Augen förmlich strahlend, das Ganze das Meister¬
werk eines attischen Meißels, bestimmt, den Leichnam eines sidmnschen Königs auf¬
zunehmen, der den Alexander willig als seinen Lehnsherrn anerkannte und dessen
Taten sür den besten Schmuck seines Sarkophags ansah.

Wie einfach und unscheinbar ist daneben der andre Basaltsarkophag, der — wie
eine hieroglyphische Inschrift zeigt — erst einem ägyptischen Großen gedient und
dann den sidonischen Fürsten Täbnit beherbergt hat. Dieser hat in phönizischen
Buchstaben darauf geschrieben: „Wer du seiest, entweihe nicht meine Gruft, du
findest keine Schätze. Störe nicht meine ewige Ruhe. Wer es dennoch tun will,
sei verflucht in Ewigkeit!" Wie wenig hat ihm diese Bitte und dieser Fluch ge¬
holfen! Jetzt liegt seine mumifizierte Leiche nicht mehr in dem Sarge, sondern
daneben nnter einem gläsernen Kasten, der mit einem roten Tuche bedeckt ist.
Jeder Museumsbesucher kann es fortziehn und sich den Täbnit ansehen. Wenn
der alte Phönizierfürst geahnt hätte, daß er noch nach zweitausend Jahren in einem


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[0580] Ronstcmtinopolitanische Reiseerlebnisse Hinter diesem und einem dritten Tore kommen dann erst die jetzt verwahrlosten und durch die Eisenbahn entweihten ehemaligen Zaubergärten des Serail und die Prunkgebäude und Säle mit den fabelhaften Schätzen. Aber welche Schreckenszenen spielten sich dort anch zwischen den Laubgängen, Rosen- und Tulpenbeeten ab! Noch ist das Tor vorhanden, durch das die Körper heimlich Gerichteter hinausge¬ worfen wurden ins Meer, noch die Seufzerkammern, in denen unbequeme Halb¬ brüder oder andre Verwandte des regierenden Herrn für immer verschwanden, noch die Stelle, wo die schönen Frauen, deren der launische Eheherr überdrüssig geworden war, in Säcke genäht hinabgerollt wurden in die verschwiegne Flut. Wie viele menschliche Leichen mag wohl dieses Meer unter seinem sanften, blauen Spiegel zur ewigen Ruhe gebettet haben! Wir wenden uns ab von dieser Stätte unerhörter Pracht und noch uner¬ hörterer Greuel und schreiten nach links, hinunter, an der Kunstschule vorüber. Da stehn wir plötzlich zwischen den beiden kaiserlichen Museen; links haben wir das alte, rechts das neue. Auf dem Platze dazwischen liegen Säulenstümpfe, Löwen, Kapitelle. Wir nehmen ein Billett, das für beide Giltigkeit hat, und wollen uns zuerst das alte ansehen, aber der Beamte dort weist uns zurück. Man muß mit dem neuen anfangen. Echt türkisch! Das alte hat mehr für den Archäologen und Altertumsforscher Interesse, das neue in höchstem Grade auch für den Kunstfreund. Jenes enthält eine Menge griechisch-römischer, byzantinischer, cyprischer und semitischer Altertümer, auch einen Teil der von Schliemann in Troja ausgegrcibnen Schmucksachen, ferner Silberschalen, Bronzestatuen und Marmorstandbilder, die auch der Nichtfach- mann wegen ihrer Schönheit gern betrachten wird. Doch gibt es hier keine Kunst¬ werke ersten Ranges. Im neuen Museum dagegen kann man, obwohl es nur aus zwei Sälen besteht — denn der Oberstock kommt kaum in Betracht —, stundenlang verweilen. Das, was man in ihm zu sehen bekommt, ist teilweise von allerhöchstem Kunstwert. Hier stehn nämlich die von Hamdi-Bei 1887 aus den Totengrüften von Sidon zutage geförderten siebzehn großen Steinsarkophage, deren Besitz dieses türkische Museum fast auf dieselbe Höhe mit den bedeutendsten abendländischen Galerien stellt. Zwei von ihnen kann man dreist als die beiden schönsten Särge bezeichnen, die es überhaupt auf Erden gibt. Der eine ist der mit den trauernden Frauen, den so¬ genannten xlsursusizs, achtzehn herrlichen Reliefgestalten, die die verschiedensten Aus¬ drucksformen des Schmerzes von seinem ersten lähmenden Stoß durch alle Stadien des Jammers hindurch bis zur spät errungnen stillen Ergebung in unübertrefflich edeln Formen zur Darstellung bringen. Der andre ist der weltberühmte Alexander¬ sarkophag, der uns auf seiner einen Langseite eine Löwenjagd, auf der andern eine Reiterschlacht des großen Makedonenkönigs bietet. Wunderbare Realistik dieser wild¬ bewegten Szenen. Hier ist alles Wahrheit und Kraft und doch zugleich maßvolle Schönheit. Elastisch schwellen die stürmisch bewegten Gestalten der Menschen und Rosse aus dem marmornen Hintergrund heraus, jede Muskel gespannt, jedes Gesicht in leidenschaftlicher Erregung, die Augen förmlich strahlend, das Ganze das Meister¬ werk eines attischen Meißels, bestimmt, den Leichnam eines sidmnschen Königs auf¬ zunehmen, der den Alexander willig als seinen Lehnsherrn anerkannte und dessen Taten sür den besten Schmuck seines Sarkophags ansah. Wie einfach und unscheinbar ist daneben der andre Basaltsarkophag, der — wie eine hieroglyphische Inschrift zeigt — erst einem ägyptischen Großen gedient und dann den sidonischen Fürsten Täbnit beherbergt hat. Dieser hat in phönizischen Buchstaben darauf geschrieben: „Wer du seiest, entweihe nicht meine Gruft, du findest keine Schätze. Störe nicht meine ewige Ruhe. Wer es dennoch tun will, sei verflucht in Ewigkeit!" Wie wenig hat ihm diese Bitte und dieser Fluch ge¬ holfen! Jetzt liegt seine mumifizierte Leiche nicht mehr in dem Sarge, sondern daneben nnter einem gläsernen Kasten, der mit einem roten Tuche bedeckt ist. Jeder Museumsbesucher kann es fortziehn und sich den Täbnit ansehen. Wenn der alte Phönizierfürst geahnt hätte, daß er noch nach zweitausend Jahren in einem

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Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_295218/580>, abgerufen am 23.07.2024.