Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr.Wahn steigern konnten, "Einsam und trotzig," im Grunde immer seine eigne In Wien war damals der bürgerministerielle Zentralismus am Nuder. Wahn steigern konnten, „Einsam und trotzig," im Grunde immer seine eigne In Wien war damals der bürgerministerielle Zentralismus am Nuder. <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0543" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/295762"/> <fw type="header" place="top"/><lb/> <p xml:id="ID_2820" prev="#ID_2819"> Wahn steigern konnten, „Einsam und trotzig," im Grunde immer seine eigne<lb/> Partei bildend, war er fortwährend in Kampfstellung, er sah überall Feinde,<lb/> und wo ihm solche entgegentraten, sah er sie in übertreibendem Lichte. So<lb/> behauptet er wiederholt, daß seine Person ganz besonders dem Hasse der<lb/> deutschen Partei ein Ziel gewesen sei, daß er zugleich die Todfeindschaft<lb/> Varnbülers genossen, und daß ihm diese „eine Art Austreibung aus der Hei¬<lb/> mat" eingetragen habe. Allerdings tat das württembergische Ministerium<lb/> nichts, ihn in Tübingen zu halten, als er im Sommer 1368, während er<lb/> noch beim Zollparlament in Berlin war, einen Ruf an die Wiener Universität<lb/> erhielt. Schon im Jahre 1863 war ihm dnrch Schmerling eine Professur in<lb/> Wien angeboten worden, die er jedoch abgelehnt hatte. Ob bei diesen Berufungen<lb/> auch an Belohnung für politische Dienste gedacht war, steht dahin; jedenfalls<lb/> war Schaffte nach seinen wissenschaftlichen Leistungen berechtigt, sie nicht bloß<lb/> so aufzufassen; es war doch ein andrer Fall, als mit Orges oder den Preußen-<lb/> feindlichen Publizisten zweiten Ranges, die in jenen Jahren zur Belohnung<lb/> eine mehr oder weniger kümmerliche Unterkunft in Wien fanden. Den Herrn<lb/> Julius Frese, der nach 1866 in Stuttgart den demokratischen Zeitungen Süd¬<lb/> deutschlands die Leitartikel besorgt hatte, traf er im Vorzimmer des Herrn<lb/> von Beust.</p><lb/> <p xml:id="ID_2821" next="#ID_2822"> In Wien war damals der bürgerministerielle Zentralismus am Nuder.<lb/> Von der innern staatsrechtlichen Lage Österreichs hatte Schüffle, wie er er¬<lb/> zählt, noch nicht die mindeste Kenntnis. Er hatte mit Staatsmännern des<lb/> absolutistisch-bureaukratischen Systems, wie Hock, in Beziehung gestanden, aber<lb/> diese waren jetzt durch den neuen parlamentarischen Zentralismus kaltgestellt.<lb/> „Davon, daß der Zentralismus überhaupt bereits bankrott war, derjenige<lb/> Schmerlings und Auerspergs noch rascher und entschiedner als der absolu¬<lb/> tistische Schwarzeubergs, Stations, Brucks und Bachs, hatte ich beim Über¬<lb/> tritt nach Österreich noch keine Ahnung." Zunächst folgte ein Zusammenstoß<lb/> mit Beust, dem Reichskanzler, der ihm die Teilnahme an einer gegen Vörsen-<lb/> korruption und Agiotage ankämpfenden Zeitschrift verübelte. Erst seine aka¬<lb/> demischen Vorlesungen über Verfasfungspolitik führten ihn dann zu genauern<lb/> Studien über das österreichische Staatswesen, wobei ihm der Glaube an die<lb/> Allmacht des Zentralismus bald zerging. Im häufigen Umgang mit seinem<lb/> Kollegen Habietinek und dessen deutschen wie böhmischen Freunden lernte er<lb/> zum erstenmal die böhmischen Verhältnisse kennen. „Den juridisch-politischen<lb/> Beichtvater nannte ich ihn damals schon scherzweise. Durch Habietinek über¬<lb/> zeugte ich mich vor allem von dem unbeugsamen Ernst der vereinigten strei¬<lb/> kenden tschechischen Majorität Böhmens und des konservativen böhmischen<lb/> Hochadels, namentlich erstmals vom Charakter und von der Bedeutung der<lb/> führenden Persönlichkeiten. Bestverleumdete und »Feudale« lernte ich als be¬<lb/> deutende vorurteilslose und brave Menschen kennen, viele der liberalen Tages¬<lb/> götzen des Parlamentarismus fand ich mit dem Kot der Korruption be¬<lb/> schmutzt." Durch einen Grafen Dürckheim, der Adjutant des Kaisers Franz<lb/> Joseph gewesen und jetzt Mitglied des Abgeordnetenhauses war, wurde er mit<lb/> den traurigen und verfahrnen Parteizuständen der Volksvertretung bekannt,</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0543]
Wahn steigern konnten, „Einsam und trotzig," im Grunde immer seine eigne
Partei bildend, war er fortwährend in Kampfstellung, er sah überall Feinde,
und wo ihm solche entgegentraten, sah er sie in übertreibendem Lichte. So
behauptet er wiederholt, daß seine Person ganz besonders dem Hasse der
deutschen Partei ein Ziel gewesen sei, daß er zugleich die Todfeindschaft
Varnbülers genossen, und daß ihm diese „eine Art Austreibung aus der Hei¬
mat" eingetragen habe. Allerdings tat das württembergische Ministerium
nichts, ihn in Tübingen zu halten, als er im Sommer 1368, während er
noch beim Zollparlament in Berlin war, einen Ruf an die Wiener Universität
erhielt. Schon im Jahre 1863 war ihm dnrch Schmerling eine Professur in
Wien angeboten worden, die er jedoch abgelehnt hatte. Ob bei diesen Berufungen
auch an Belohnung für politische Dienste gedacht war, steht dahin; jedenfalls
war Schaffte nach seinen wissenschaftlichen Leistungen berechtigt, sie nicht bloß
so aufzufassen; es war doch ein andrer Fall, als mit Orges oder den Preußen-
feindlichen Publizisten zweiten Ranges, die in jenen Jahren zur Belohnung
eine mehr oder weniger kümmerliche Unterkunft in Wien fanden. Den Herrn
Julius Frese, der nach 1866 in Stuttgart den demokratischen Zeitungen Süd¬
deutschlands die Leitartikel besorgt hatte, traf er im Vorzimmer des Herrn
von Beust.
In Wien war damals der bürgerministerielle Zentralismus am Nuder.
Von der innern staatsrechtlichen Lage Österreichs hatte Schüffle, wie er er¬
zählt, noch nicht die mindeste Kenntnis. Er hatte mit Staatsmännern des
absolutistisch-bureaukratischen Systems, wie Hock, in Beziehung gestanden, aber
diese waren jetzt durch den neuen parlamentarischen Zentralismus kaltgestellt.
„Davon, daß der Zentralismus überhaupt bereits bankrott war, derjenige
Schmerlings und Auerspergs noch rascher und entschiedner als der absolu¬
tistische Schwarzeubergs, Stations, Brucks und Bachs, hatte ich beim Über¬
tritt nach Österreich noch keine Ahnung." Zunächst folgte ein Zusammenstoß
mit Beust, dem Reichskanzler, der ihm die Teilnahme an einer gegen Vörsen-
korruption und Agiotage ankämpfenden Zeitschrift verübelte. Erst seine aka¬
demischen Vorlesungen über Verfasfungspolitik führten ihn dann zu genauern
Studien über das österreichische Staatswesen, wobei ihm der Glaube an die
Allmacht des Zentralismus bald zerging. Im häufigen Umgang mit seinem
Kollegen Habietinek und dessen deutschen wie böhmischen Freunden lernte er
zum erstenmal die böhmischen Verhältnisse kennen. „Den juridisch-politischen
Beichtvater nannte ich ihn damals schon scherzweise. Durch Habietinek über¬
zeugte ich mich vor allem von dem unbeugsamen Ernst der vereinigten strei¬
kenden tschechischen Majorität Böhmens und des konservativen böhmischen
Hochadels, namentlich erstmals vom Charakter und von der Bedeutung der
führenden Persönlichkeiten. Bestverleumdete und »Feudale« lernte ich als be¬
deutende vorurteilslose und brave Menschen kennen, viele der liberalen Tages¬
götzen des Parlamentarismus fand ich mit dem Kot der Korruption be¬
schmutzt." Durch einen Grafen Dürckheim, der Adjutant des Kaisers Franz
Joseph gewesen und jetzt Mitglied des Abgeordnetenhauses war, wurde er mit
den traurigen und verfahrnen Parteizuständen der Volksvertretung bekannt,
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