Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Aonstantinopolitanische Reiseerlebnisse

Berechtigung haben. Daß sie sich aber auch in dem europäischen oder doch für
europäisch gelten wollenden Pera breit und laut machen dürfen, ist doch eigentlich
eine Ungereimtheit.

Dieselbe Mischung kann man auch bei den Gebäuden an der Perastrciße be¬
obachten. Da liegt zum Beispiel in unmittelbarer Nähe der schwedischen Gesandt¬
schaft, des deutscheu Klubs Teutonia und hart neben der vortrefflichen deutschen
Schule, die auch von vielen nichtdeutschen Kindern besucht wird, ein wüstes Telle
oder Kloster, worin fanatische Derwische ihre wahnsinnigen Tänze aufführen. Jeden
Freitag Nachmittag kann sich der Fremdling gegen einen Quartaki Trinkgeld die
Sache ansehen. In einem runden, hölzernen Saale drehn sich etwa zwanzig Mönche
in weißen Jacken, langen weißen Gewändern, die beim Tanze wie Ballettrvcke auf¬
fliegen, mit wagerecht ausgestreckten Armen, die rechte Hand uach oben, die linke
nach unten geöffnet, die mit hohen, krempenlosen Filzkappen bedeckten Köpfe seit¬
wärts geneigt und die Augen geschlossen, was ihnen etwas Schwärmerisches, Hin¬
gebendes verleiht. Sie drehen sich wie die Kreisel um sich selbst und verfolgen
zugleich eine bestimmte Bahn, und zwar in einem größern äußern Ring, der sich
rascher, und in einem kleinen innern, der sich langsamer bewegt. Dazwischen stapft
ein Scheik oder Tanzordner in einem hellbraunen Gewände hin und her und feuert
die Säumigwerdenden zu erneuten Kraftcmstrengmigen an, während von oben her
aus einer Loge eine leise, klagende, schnarrende, für unsre Ohren höchst mißtönende
Musik erschallt. Man sagt, daß diese "Drehwische," wie sie einer der Zuschauer
witzig nannte, die Bahnen der Gestirne und die andachtsvolle Versenkung in Gottes
kosmisches Walten versinnbildlichen sollen. Jedenfalls entwickeln sie dabei eine un¬
glaubliche Ausdauer und eine höchst beneidenswerte Schwindelfestigkeit. Besonders
eine" Knaben von etwa vierzehn Jahren mußte ich bewundern, der während der
ganzen Zeit, wo ich da war, fast drei Viertelstunden laug, nicht aufhörte, sich in
schnellstem Tempo zu drehn, und dabei ein seliges, fast verzücktes Gesicht machte.
Wunderbare Macht des Fanatismus! Er befähigt zu Leistungen, denen wir ver¬
standesklaren Bildungsmenschen nicht entfernt gewachsen wären. Und Mauer an
Mauer mit diesem Unsinn die deutsche Schule mit Elementar-, Real- und höherer
Töchterabteilung! I^es extiSmos so touobsnt.

Eine andre, aber sinnvollere Merkwürdigkeit ist beim nördlichen Beginn der
Perastraße am Taksimplatze zu sehen. Dort gibt es ini Hofe der griechischen
Dreieinigkeitskirche (a^is, trias) einen Brunnen mit der Inschrift nixsoii Momslnat"
ins wollen oxsin, ein Palindrom, der von hinten gelesen dasselbe ergibt wie von
vorn (xs ist im Griechischen nur ein Buchstabe). Die Worte bedeute": "Wasche
die Sünden, nicht nur das Antlitz." Dieser sinnige Spruch stand ehemals auf dem
großen Marmorbecken in der Agia Sophia, wo die Eintretenden die Hände zu
waschen pflegten. Ich habe ihn zu Leoni am Starnbergersee an einer Quelle im
Garten einer Villa wiedergefunden.

Während Pera die Höhe des Plateaus einnimmt, liegt Galata auf dem Abfall
zum Goldueu Horn und auf dem schmalen Uferstrande. Es besteht aus einen:
Gewirr schmaler, winkliger und schmutziger Gassen, in denen sich Menschen aller
Nationen drängen. Doch habe ich das Gewühl und das Getriebe nicht so unbeschreiblich
und sinnverwirrend gefunden, wie es Reisebücher und Neiseschilderungen voneinander
abzuschreiben lieben. Allerdings hat ein Vergnügnngs-, Altertums- und Kunst¬
reisender wie ich heutzutage kaum noch Veranlassung, die schmutzige" Winkelgnssen
Galatas zu durchstreifen oder die große Treppe, das sogenannte "steile Pflaster,"
das direkt zur Arsnäo ins as ?örs. hinaufführt, hinanzusteigen. Denn seit 1873
führt eine unterirdische Drahtseilbahn hinauf, seit 1882 auch in großem Bogen
eine Pferdebahn. Diese freilich "funktioniert" nicht ganz glatt. Ich habe es er¬
lebt, daß eines Abends, als der Wagen voll war, sogar vier Pferde die Steigung
nicht überwinden konnten. Zweimal mußten die ermüdeten Tiere abgelöst werden,
und zweimal fing der Wagen an rückwärts bergab zu laufen, sodaß der Kutscher


Aonstantinopolitanische Reiseerlebnisse

Berechtigung haben. Daß sie sich aber auch in dem europäischen oder doch für
europäisch gelten wollenden Pera breit und laut machen dürfen, ist doch eigentlich
eine Ungereimtheit.

Dieselbe Mischung kann man auch bei den Gebäuden an der Perastrciße be¬
obachten. Da liegt zum Beispiel in unmittelbarer Nähe der schwedischen Gesandt¬
schaft, des deutscheu Klubs Teutonia und hart neben der vortrefflichen deutschen
Schule, die auch von vielen nichtdeutschen Kindern besucht wird, ein wüstes Telle
oder Kloster, worin fanatische Derwische ihre wahnsinnigen Tänze aufführen. Jeden
Freitag Nachmittag kann sich der Fremdling gegen einen Quartaki Trinkgeld die
Sache ansehen. In einem runden, hölzernen Saale drehn sich etwa zwanzig Mönche
in weißen Jacken, langen weißen Gewändern, die beim Tanze wie Ballettrvcke auf¬
fliegen, mit wagerecht ausgestreckten Armen, die rechte Hand uach oben, die linke
nach unten geöffnet, die mit hohen, krempenlosen Filzkappen bedeckten Köpfe seit¬
wärts geneigt und die Augen geschlossen, was ihnen etwas Schwärmerisches, Hin¬
gebendes verleiht. Sie drehen sich wie die Kreisel um sich selbst und verfolgen
zugleich eine bestimmte Bahn, und zwar in einem größern äußern Ring, der sich
rascher, und in einem kleinen innern, der sich langsamer bewegt. Dazwischen stapft
ein Scheik oder Tanzordner in einem hellbraunen Gewände hin und her und feuert
die Säumigwerdenden zu erneuten Kraftcmstrengmigen an, während von oben her
aus einer Loge eine leise, klagende, schnarrende, für unsre Ohren höchst mißtönende
Musik erschallt. Man sagt, daß diese „Drehwische," wie sie einer der Zuschauer
witzig nannte, die Bahnen der Gestirne und die andachtsvolle Versenkung in Gottes
kosmisches Walten versinnbildlichen sollen. Jedenfalls entwickeln sie dabei eine un¬
glaubliche Ausdauer und eine höchst beneidenswerte Schwindelfestigkeit. Besonders
eine« Knaben von etwa vierzehn Jahren mußte ich bewundern, der während der
ganzen Zeit, wo ich da war, fast drei Viertelstunden laug, nicht aufhörte, sich in
schnellstem Tempo zu drehn, und dabei ein seliges, fast verzücktes Gesicht machte.
Wunderbare Macht des Fanatismus! Er befähigt zu Leistungen, denen wir ver¬
standesklaren Bildungsmenschen nicht entfernt gewachsen wären. Und Mauer an
Mauer mit diesem Unsinn die deutsche Schule mit Elementar-, Real- und höherer
Töchterabteilung! I^es extiSmos so touobsnt.

Eine andre, aber sinnvollere Merkwürdigkeit ist beim nördlichen Beginn der
Perastraße am Taksimplatze zu sehen. Dort gibt es ini Hofe der griechischen
Dreieinigkeitskirche (a^is, trias) einen Brunnen mit der Inschrift nixsoii Momslnat»
ins wollen oxsin, ein Palindrom, der von hinten gelesen dasselbe ergibt wie von
vorn (xs ist im Griechischen nur ein Buchstabe). Die Worte bedeute»: „Wasche
die Sünden, nicht nur das Antlitz." Dieser sinnige Spruch stand ehemals auf dem
großen Marmorbecken in der Agia Sophia, wo die Eintretenden die Hände zu
waschen pflegten. Ich habe ihn zu Leoni am Starnbergersee an einer Quelle im
Garten einer Villa wiedergefunden.

Während Pera die Höhe des Plateaus einnimmt, liegt Galata auf dem Abfall
zum Goldueu Horn und auf dem schmalen Uferstrande. Es besteht aus einen:
Gewirr schmaler, winkliger und schmutziger Gassen, in denen sich Menschen aller
Nationen drängen. Doch habe ich das Gewühl und das Getriebe nicht so unbeschreiblich
und sinnverwirrend gefunden, wie es Reisebücher und Neiseschilderungen voneinander
abzuschreiben lieben. Allerdings hat ein Vergnügnngs-, Altertums- und Kunst¬
reisender wie ich heutzutage kaum noch Veranlassung, die schmutzige» Winkelgnssen
Galatas zu durchstreifen oder die große Treppe, das sogenannte „steile Pflaster,"
das direkt zur Arsnäo ins as ?örs. hinaufführt, hinanzusteigen. Denn seit 1873
führt eine unterirdische Drahtseilbahn hinauf, seit 1882 auch in großem Bogen
eine Pferdebahn. Diese freilich „funktioniert" nicht ganz glatt. Ich habe es er¬
lebt, daß eines Abends, als der Wagen voll war, sogar vier Pferde die Steigung
nicht überwinden konnten. Zweimal mußten die ermüdeten Tiere abgelöst werden,
und zweimal fing der Wagen an rückwärts bergab zu laufen, sodaß der Kutscher


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0524" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/295743"/>
            <fw type="header" place="top"> Aonstantinopolitanische Reiseerlebnisse</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_2629" prev="#ID_2628"> Berechtigung haben. Daß sie sich aber auch in dem europäischen oder doch für<lb/>
europäisch gelten wollenden Pera breit und laut machen dürfen, ist doch eigentlich<lb/>
eine Ungereimtheit.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_2630"> Dieselbe Mischung kann man auch bei den Gebäuden an der Perastrciße be¬<lb/>
obachten. Da liegt zum Beispiel in unmittelbarer Nähe der schwedischen Gesandt¬<lb/>
schaft, des deutscheu Klubs Teutonia und hart neben der vortrefflichen deutschen<lb/>
Schule, die auch von vielen nichtdeutschen Kindern besucht wird, ein wüstes Telle<lb/>
oder Kloster, worin fanatische Derwische ihre wahnsinnigen Tänze aufführen. Jeden<lb/>
Freitag Nachmittag kann sich der Fremdling gegen einen Quartaki Trinkgeld die<lb/>
Sache ansehen. In einem runden, hölzernen Saale drehn sich etwa zwanzig Mönche<lb/>
in weißen Jacken, langen weißen Gewändern, die beim Tanze wie Ballettrvcke auf¬<lb/>
fliegen, mit wagerecht ausgestreckten Armen, die rechte Hand uach oben, die linke<lb/>
nach unten geöffnet, die mit hohen, krempenlosen Filzkappen bedeckten Köpfe seit¬<lb/>
wärts geneigt und die Augen geschlossen, was ihnen etwas Schwärmerisches, Hin¬<lb/>
gebendes verleiht. Sie drehen sich wie die Kreisel um sich selbst und verfolgen<lb/>
zugleich eine bestimmte Bahn, und zwar in einem größern äußern Ring, der sich<lb/>
rascher, und in einem kleinen innern, der sich langsamer bewegt. Dazwischen stapft<lb/>
ein Scheik oder Tanzordner in einem hellbraunen Gewände hin und her und feuert<lb/>
die Säumigwerdenden zu erneuten Kraftcmstrengmigen an, während von oben her<lb/>
aus einer Loge eine leise, klagende, schnarrende, für unsre Ohren höchst mißtönende<lb/>
Musik erschallt. Man sagt, daß diese &#x201E;Drehwische," wie sie einer der Zuschauer<lb/>
witzig nannte, die Bahnen der Gestirne und die andachtsvolle Versenkung in Gottes<lb/>
kosmisches Walten versinnbildlichen sollen. Jedenfalls entwickeln sie dabei eine un¬<lb/>
glaubliche Ausdauer und eine höchst beneidenswerte Schwindelfestigkeit. Besonders<lb/>
eine« Knaben von etwa vierzehn Jahren mußte ich bewundern, der während der<lb/>
ganzen Zeit, wo ich da war, fast drei Viertelstunden laug, nicht aufhörte, sich in<lb/>
schnellstem Tempo zu drehn, und dabei ein seliges, fast verzücktes Gesicht machte.<lb/>
Wunderbare Macht des Fanatismus! Er befähigt zu Leistungen, denen wir ver¬<lb/>
standesklaren Bildungsmenschen nicht entfernt gewachsen wären. Und Mauer an<lb/>
Mauer mit diesem Unsinn die deutsche Schule mit Elementar-, Real- und höherer<lb/>
Töchterabteilung!  I^es extiSmos so touobsnt.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_2631"> Eine andre, aber sinnvollere Merkwürdigkeit ist beim nördlichen Beginn der<lb/>
Perastraße am Taksimplatze zu sehen. Dort gibt es ini Hofe der griechischen<lb/>
Dreieinigkeitskirche (a^is, trias) einen Brunnen mit der Inschrift nixsoii Momslnat»<lb/>
ins wollen oxsin, ein Palindrom, der von hinten gelesen dasselbe ergibt wie von<lb/>
vorn (xs ist im Griechischen nur ein Buchstabe). Die Worte bedeute»: &#x201E;Wasche<lb/>
die Sünden, nicht nur das Antlitz." Dieser sinnige Spruch stand ehemals auf dem<lb/>
großen Marmorbecken in der Agia Sophia, wo die Eintretenden die Hände zu<lb/>
waschen pflegten. Ich habe ihn zu Leoni am Starnbergersee an einer Quelle im<lb/>
Garten einer Villa wiedergefunden.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_2632" next="#ID_2633"> Während Pera die Höhe des Plateaus einnimmt, liegt Galata auf dem Abfall<lb/>
zum Goldueu Horn und auf dem schmalen Uferstrande. Es besteht aus einen:<lb/>
Gewirr schmaler, winkliger und schmutziger Gassen, in denen sich Menschen aller<lb/>
Nationen drängen. Doch habe ich das Gewühl und das Getriebe nicht so unbeschreiblich<lb/>
und sinnverwirrend gefunden, wie es Reisebücher und Neiseschilderungen voneinander<lb/>
abzuschreiben lieben. Allerdings hat ein Vergnügnngs-, Altertums- und Kunst¬<lb/>
reisender wie ich heutzutage kaum noch Veranlassung, die schmutzige» Winkelgnssen<lb/>
Galatas zu durchstreifen oder die große Treppe, das sogenannte &#x201E;steile Pflaster,"<lb/>
das direkt zur Arsnäo ins as ?örs. hinaufführt, hinanzusteigen. Denn seit 1873<lb/>
führt eine unterirdische Drahtseilbahn hinauf, seit 1882 auch in großem Bogen<lb/>
eine Pferdebahn. Diese freilich &#x201E;funktioniert" nicht ganz glatt. Ich habe es er¬<lb/>
lebt, daß eines Abends, als der Wagen voll war, sogar vier Pferde die Steigung<lb/>
nicht überwinden konnten. Zweimal mußten die ermüdeten Tiere abgelöst werden,<lb/>
und zweimal fing der Wagen an rückwärts bergab zu laufen, sodaß der Kutscher</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0524] Aonstantinopolitanische Reiseerlebnisse Berechtigung haben. Daß sie sich aber auch in dem europäischen oder doch für europäisch gelten wollenden Pera breit und laut machen dürfen, ist doch eigentlich eine Ungereimtheit. Dieselbe Mischung kann man auch bei den Gebäuden an der Perastrciße be¬ obachten. Da liegt zum Beispiel in unmittelbarer Nähe der schwedischen Gesandt¬ schaft, des deutscheu Klubs Teutonia und hart neben der vortrefflichen deutschen Schule, die auch von vielen nichtdeutschen Kindern besucht wird, ein wüstes Telle oder Kloster, worin fanatische Derwische ihre wahnsinnigen Tänze aufführen. Jeden Freitag Nachmittag kann sich der Fremdling gegen einen Quartaki Trinkgeld die Sache ansehen. In einem runden, hölzernen Saale drehn sich etwa zwanzig Mönche in weißen Jacken, langen weißen Gewändern, die beim Tanze wie Ballettrvcke auf¬ fliegen, mit wagerecht ausgestreckten Armen, die rechte Hand uach oben, die linke nach unten geöffnet, die mit hohen, krempenlosen Filzkappen bedeckten Köpfe seit¬ wärts geneigt und die Augen geschlossen, was ihnen etwas Schwärmerisches, Hin¬ gebendes verleiht. Sie drehen sich wie die Kreisel um sich selbst und verfolgen zugleich eine bestimmte Bahn, und zwar in einem größern äußern Ring, der sich rascher, und in einem kleinen innern, der sich langsamer bewegt. Dazwischen stapft ein Scheik oder Tanzordner in einem hellbraunen Gewände hin und her und feuert die Säumigwerdenden zu erneuten Kraftcmstrengmigen an, während von oben her aus einer Loge eine leise, klagende, schnarrende, für unsre Ohren höchst mißtönende Musik erschallt. Man sagt, daß diese „Drehwische," wie sie einer der Zuschauer witzig nannte, die Bahnen der Gestirne und die andachtsvolle Versenkung in Gottes kosmisches Walten versinnbildlichen sollen. Jedenfalls entwickeln sie dabei eine un¬ glaubliche Ausdauer und eine höchst beneidenswerte Schwindelfestigkeit. Besonders eine« Knaben von etwa vierzehn Jahren mußte ich bewundern, der während der ganzen Zeit, wo ich da war, fast drei Viertelstunden laug, nicht aufhörte, sich in schnellstem Tempo zu drehn, und dabei ein seliges, fast verzücktes Gesicht machte. Wunderbare Macht des Fanatismus! Er befähigt zu Leistungen, denen wir ver¬ standesklaren Bildungsmenschen nicht entfernt gewachsen wären. Und Mauer an Mauer mit diesem Unsinn die deutsche Schule mit Elementar-, Real- und höherer Töchterabteilung! I^es extiSmos so touobsnt. Eine andre, aber sinnvollere Merkwürdigkeit ist beim nördlichen Beginn der Perastraße am Taksimplatze zu sehen. Dort gibt es ini Hofe der griechischen Dreieinigkeitskirche (a^is, trias) einen Brunnen mit der Inschrift nixsoii Momslnat» ins wollen oxsin, ein Palindrom, der von hinten gelesen dasselbe ergibt wie von vorn (xs ist im Griechischen nur ein Buchstabe). Die Worte bedeute»: „Wasche die Sünden, nicht nur das Antlitz." Dieser sinnige Spruch stand ehemals auf dem großen Marmorbecken in der Agia Sophia, wo die Eintretenden die Hände zu waschen pflegten. Ich habe ihn zu Leoni am Starnbergersee an einer Quelle im Garten einer Villa wiedergefunden. Während Pera die Höhe des Plateaus einnimmt, liegt Galata auf dem Abfall zum Goldueu Horn und auf dem schmalen Uferstrande. Es besteht aus einen: Gewirr schmaler, winkliger und schmutziger Gassen, in denen sich Menschen aller Nationen drängen. Doch habe ich das Gewühl und das Getriebe nicht so unbeschreiblich und sinnverwirrend gefunden, wie es Reisebücher und Neiseschilderungen voneinander abzuschreiben lieben. Allerdings hat ein Vergnügnngs-, Altertums- und Kunst¬ reisender wie ich heutzutage kaum noch Veranlassung, die schmutzige» Winkelgnssen Galatas zu durchstreifen oder die große Treppe, das sogenannte „steile Pflaster," das direkt zur Arsnäo ins as ?örs. hinaufführt, hinanzusteigen. Denn seit 1873 führt eine unterirdische Drahtseilbahn hinauf, seit 1882 auch in großem Bogen eine Pferdebahn. Diese freilich „funktioniert" nicht ganz glatt. Ich habe es er¬ lebt, daß eines Abends, als der Wagen voll war, sogar vier Pferde die Steigung nicht überwinden konnten. Zweimal mußten die ermüdeten Tiere abgelöst werden, und zweimal fing der Wagen an rückwärts bergab zu laufen, sodaß der Kutscher

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_295218
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_295218/524
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_295218/524>, abgerufen am 01.10.2024.