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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr.

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Glücksinseln und Träume

wohl Leute haben, die seine Puppen nähten, und das Christkind eben mußte doch
wohl eine Stief- oder Pflegemutter haben, die für es sorgte, solange es auf der
Erde so viel zu tun hatte. Nichts konnte mich überraschen, was in der Hohe vor¬
ging, da ich das Gefühl hatte, durch Gustav darüber auf dem laufenden erhalten
zu werden. Ich wundre mich aber noch heute, daß ich mich nicht mehr um Sonne,
Mond und Sterne kümmerte, die doch derselben Hoheuzone angehörten. Ich schlief
wohl zu lange und zu tief, um von den letzten viel zu scheu; das Sonnenlicht
aber nahm ich, wie viele andre Menschen ihr ganzes Leben tun, als etwas Selbst¬
verständliches hin.

Da geschah es an einem Hochsommertage, daß mein Vater auf den Dachboden
stieg, uni aus alten Fensterrahmen Gläser zu brechen, und mit Staunen sah ich,
nachdem diese sorgfältig gereinigt waren, wie mau sie mit Rauch berußte. -- Ihr
habt sie eben gereinigt, und nun beschmutzt ihr sie wieder? -- Warte nur, mein
Sohn, du wirst schou scheu, wozu das nötig ist. Und Gustav sagte mir: Heute
ist eine totale Sonnenfinsternis. Gib acht, daß du nicht erschrickst. Wenn es dunkel
um uns her wird, schaue du in dem Negenfaß, da wirst du die Sonne verschwinden
und bald wiederkehren sehen. -- Gehn wir nicht zu Bett, wenn sie verschwindet? --
Wir dürfen aufbleiben, denn sie kommt bald wieder, und wenn sie wiederkommt,
kommt auch gleich wieder der Tag, der vorher war, und schreibt sich mit dem¬
selben Datum.

Ich verstand nicht viel von dem, was da gesagt wurde. Es kam mir ver¬
worren vor. Den andern Tag aber sah ich mit eignen Augen im Spiegel meines
Wasserfasses das Tagesgestirn Plötzlich vergehn und wiedergeboren werden.

War dieses ganz schwarze unheimliche Ding, das langsam vorrückend die helle
Sonne auffraß, wirklich der Mond? Dann war es jedenfalls ein ganz andrer als
der freundliche lichte, den ich wohl einmal an einem Winterabend die Welt in
Silberflor hatte hüllen scheu. Aber die Sonne selbst, die war eine völlig andre,
oder vielmehr es war so, als ob sie überhaupt nicht mehr wäre, denn als das
schwarze Ungeheuer sich so weit in die glührote Scheibe hineingefressen hatte, daß
der Rest davon Sichelform anzunehmen begann, wurde die Luft plötzlich kühl, es
erhob sich ein Wind wie am Abend, mich fröstelte. Später erzählte man, der Rasen
habe sich in diesen Sekunden betaut, und es seien dunkle Wolken, wie bei Gewittern,
mit blutroten Rändern plötzlich gegen den Himmel heraufgewachsen. Ich erinnere mich
nicht, jemals wieder so rasch Abeudwerdeu gesehen zu haben; völlig ohne Dämmerung
und Abendglühn war der Tag dahin, und eine fahle, bleierne Nacht lag auf uns.
Ju diesem Augenblick, wo die Sonnenfinsternis vollständig war, schaute ich wie alle
andern, die ihre geschwärzten Gläser beiseite taten, in die Sonne und sah nichts
als eine schwarze Scheibe, über deren Ränder Feuertropfen zu quellen schienen.
Von der zuerst dunkel gewordnen Seite der Scheibe waren diese Feuertropfen in
kurzem zu einem dünnen Liebeband zusammengeflossen, und schon glühte dieses so
hell, daß man die Gläser wieder vornahm. Ich schaute eifrig in mein Wasser
hinein, da umschlangen mich die lieben Arme meiner Mutter von rückwärts, und
ein tränenüberströmtcs Gesicht drückte sich an das meine, und ich hörte nur die
erstickten Worte: Wie schrecklich, wie schrecklich. Mein Gott, laß es nicht weiter¬
gehn! Mich fröstelte zwar noch etwas, aber ich verstand nichts von dieser Angst,
wollte gern im Wasser schauen, was sich weiter begab; doch meine Mutter zog
mich an sich und herzte mich wie ein Wiedergefundnes. Rascher, als es gekommen
war, muß sich das Grau, das die Menschen so schreckte, wieder erhellt haben.
Mein Vater trat zu uus und bat meine Mutter, durch das Glas zu sehen, wie
die Sonne schon zur Hälfte wiedergekehrt sei, und zeigte, wie die Schatten der
Bäume und der Menschen wiederkehrte", wuchsen und tiefer wurden. Die Leute,
die vou höhergelegneu Punkten die Finsternis beobachtet hatten, stiegen herab, die
meisten mit ernsten Mienen, und als die Sonne wieder fast ganz frei leuchtete, und
die Wolken zurücksanken, die gegen sie, als sie schwach geworden, heraufgewachsen
waren, schienen viele erleichtert aufzuatmen. -- Gottlob, daß es vorbei ist! -- Es


Glücksinseln und Träume

wohl Leute haben, die seine Puppen nähten, und das Christkind eben mußte doch
wohl eine Stief- oder Pflegemutter haben, die für es sorgte, solange es auf der
Erde so viel zu tun hatte. Nichts konnte mich überraschen, was in der Hohe vor¬
ging, da ich das Gefühl hatte, durch Gustav darüber auf dem laufenden erhalten
zu werden. Ich wundre mich aber noch heute, daß ich mich nicht mehr um Sonne,
Mond und Sterne kümmerte, die doch derselben Hoheuzone angehörten. Ich schlief
wohl zu lange und zu tief, um von den letzten viel zu scheu; das Sonnenlicht
aber nahm ich, wie viele andre Menschen ihr ganzes Leben tun, als etwas Selbst¬
verständliches hin.

Da geschah es an einem Hochsommertage, daß mein Vater auf den Dachboden
stieg, uni aus alten Fensterrahmen Gläser zu brechen, und mit Staunen sah ich,
nachdem diese sorgfältig gereinigt waren, wie mau sie mit Rauch berußte. — Ihr
habt sie eben gereinigt, und nun beschmutzt ihr sie wieder? — Warte nur, mein
Sohn, du wirst schou scheu, wozu das nötig ist. Und Gustav sagte mir: Heute
ist eine totale Sonnenfinsternis. Gib acht, daß du nicht erschrickst. Wenn es dunkel
um uns her wird, schaue du in dem Negenfaß, da wirst du die Sonne verschwinden
und bald wiederkehren sehen. — Gehn wir nicht zu Bett, wenn sie verschwindet? —
Wir dürfen aufbleiben, denn sie kommt bald wieder, und wenn sie wiederkommt,
kommt auch gleich wieder der Tag, der vorher war, und schreibt sich mit dem¬
selben Datum.

Ich verstand nicht viel von dem, was da gesagt wurde. Es kam mir ver¬
worren vor. Den andern Tag aber sah ich mit eignen Augen im Spiegel meines
Wasserfasses das Tagesgestirn Plötzlich vergehn und wiedergeboren werden.

War dieses ganz schwarze unheimliche Ding, das langsam vorrückend die helle
Sonne auffraß, wirklich der Mond? Dann war es jedenfalls ein ganz andrer als
der freundliche lichte, den ich wohl einmal an einem Winterabend die Welt in
Silberflor hatte hüllen scheu. Aber die Sonne selbst, die war eine völlig andre,
oder vielmehr es war so, als ob sie überhaupt nicht mehr wäre, denn als das
schwarze Ungeheuer sich so weit in die glührote Scheibe hineingefressen hatte, daß
der Rest davon Sichelform anzunehmen begann, wurde die Luft plötzlich kühl, es
erhob sich ein Wind wie am Abend, mich fröstelte. Später erzählte man, der Rasen
habe sich in diesen Sekunden betaut, und es seien dunkle Wolken, wie bei Gewittern,
mit blutroten Rändern plötzlich gegen den Himmel heraufgewachsen. Ich erinnere mich
nicht, jemals wieder so rasch Abeudwerdeu gesehen zu haben; völlig ohne Dämmerung
und Abendglühn war der Tag dahin, und eine fahle, bleierne Nacht lag auf uns.
Ju diesem Augenblick, wo die Sonnenfinsternis vollständig war, schaute ich wie alle
andern, die ihre geschwärzten Gläser beiseite taten, in die Sonne und sah nichts
als eine schwarze Scheibe, über deren Ränder Feuertropfen zu quellen schienen.
Von der zuerst dunkel gewordnen Seite der Scheibe waren diese Feuertropfen in
kurzem zu einem dünnen Liebeband zusammengeflossen, und schon glühte dieses so
hell, daß man die Gläser wieder vornahm. Ich schaute eifrig in mein Wasser
hinein, da umschlangen mich die lieben Arme meiner Mutter von rückwärts, und
ein tränenüberströmtcs Gesicht drückte sich an das meine, und ich hörte nur die
erstickten Worte: Wie schrecklich, wie schrecklich. Mein Gott, laß es nicht weiter¬
gehn! Mich fröstelte zwar noch etwas, aber ich verstand nichts von dieser Angst,
wollte gern im Wasser schauen, was sich weiter begab; doch meine Mutter zog
mich an sich und herzte mich wie ein Wiedergefundnes. Rascher, als es gekommen
war, muß sich das Grau, das die Menschen so schreckte, wieder erhellt haben.
Mein Vater trat zu uus und bat meine Mutter, durch das Glas zu sehen, wie
die Sonne schon zur Hälfte wiedergekehrt sei, und zeigte, wie die Schatten der
Bäume und der Menschen wiederkehrte», wuchsen und tiefer wurden. Die Leute,
die vou höhergelegneu Punkten die Finsternis beobachtet hatten, stiegen herab, die
meisten mit ernsten Mienen, und als die Sonne wieder fast ganz frei leuchtete, und
die Wolken zurücksanken, die gegen sie, als sie schwach geworden, heraufgewachsen
waren, schienen viele erleichtert aufzuatmen. — Gottlob, daß es vorbei ist! — Es


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[0047] Glücksinseln und Träume wohl Leute haben, die seine Puppen nähten, und das Christkind eben mußte doch wohl eine Stief- oder Pflegemutter haben, die für es sorgte, solange es auf der Erde so viel zu tun hatte. Nichts konnte mich überraschen, was in der Hohe vor¬ ging, da ich das Gefühl hatte, durch Gustav darüber auf dem laufenden erhalten zu werden. Ich wundre mich aber noch heute, daß ich mich nicht mehr um Sonne, Mond und Sterne kümmerte, die doch derselben Hoheuzone angehörten. Ich schlief wohl zu lange und zu tief, um von den letzten viel zu scheu; das Sonnenlicht aber nahm ich, wie viele andre Menschen ihr ganzes Leben tun, als etwas Selbst¬ verständliches hin. Da geschah es an einem Hochsommertage, daß mein Vater auf den Dachboden stieg, uni aus alten Fensterrahmen Gläser zu brechen, und mit Staunen sah ich, nachdem diese sorgfältig gereinigt waren, wie mau sie mit Rauch berußte. — Ihr habt sie eben gereinigt, und nun beschmutzt ihr sie wieder? — Warte nur, mein Sohn, du wirst schou scheu, wozu das nötig ist. Und Gustav sagte mir: Heute ist eine totale Sonnenfinsternis. Gib acht, daß du nicht erschrickst. Wenn es dunkel um uns her wird, schaue du in dem Negenfaß, da wirst du die Sonne verschwinden und bald wiederkehren sehen. — Gehn wir nicht zu Bett, wenn sie verschwindet? — Wir dürfen aufbleiben, denn sie kommt bald wieder, und wenn sie wiederkommt, kommt auch gleich wieder der Tag, der vorher war, und schreibt sich mit dem¬ selben Datum. Ich verstand nicht viel von dem, was da gesagt wurde. Es kam mir ver¬ worren vor. Den andern Tag aber sah ich mit eignen Augen im Spiegel meines Wasserfasses das Tagesgestirn Plötzlich vergehn und wiedergeboren werden. War dieses ganz schwarze unheimliche Ding, das langsam vorrückend die helle Sonne auffraß, wirklich der Mond? Dann war es jedenfalls ein ganz andrer als der freundliche lichte, den ich wohl einmal an einem Winterabend die Welt in Silberflor hatte hüllen scheu. Aber die Sonne selbst, die war eine völlig andre, oder vielmehr es war so, als ob sie überhaupt nicht mehr wäre, denn als das schwarze Ungeheuer sich so weit in die glührote Scheibe hineingefressen hatte, daß der Rest davon Sichelform anzunehmen begann, wurde die Luft plötzlich kühl, es erhob sich ein Wind wie am Abend, mich fröstelte. Später erzählte man, der Rasen habe sich in diesen Sekunden betaut, und es seien dunkle Wolken, wie bei Gewittern, mit blutroten Rändern plötzlich gegen den Himmel heraufgewachsen. Ich erinnere mich nicht, jemals wieder so rasch Abeudwerdeu gesehen zu haben; völlig ohne Dämmerung und Abendglühn war der Tag dahin, und eine fahle, bleierne Nacht lag auf uns. Ju diesem Augenblick, wo die Sonnenfinsternis vollständig war, schaute ich wie alle andern, die ihre geschwärzten Gläser beiseite taten, in die Sonne und sah nichts als eine schwarze Scheibe, über deren Ränder Feuertropfen zu quellen schienen. Von der zuerst dunkel gewordnen Seite der Scheibe waren diese Feuertropfen in kurzem zu einem dünnen Liebeband zusammengeflossen, und schon glühte dieses so hell, daß man die Gläser wieder vornahm. Ich schaute eifrig in mein Wasser hinein, da umschlangen mich die lieben Arme meiner Mutter von rückwärts, und ein tränenüberströmtcs Gesicht drückte sich an das meine, und ich hörte nur die erstickten Worte: Wie schrecklich, wie schrecklich. Mein Gott, laß es nicht weiter¬ gehn! Mich fröstelte zwar noch etwas, aber ich verstand nichts von dieser Angst, wollte gern im Wasser schauen, was sich weiter begab; doch meine Mutter zog mich an sich und herzte mich wie ein Wiedergefundnes. Rascher, als es gekommen war, muß sich das Grau, das die Menschen so schreckte, wieder erhellt haben. Mein Vater trat zu uus und bat meine Mutter, durch das Glas zu sehen, wie die Sonne schon zur Hälfte wiedergekehrt sei, und zeigte, wie die Schatten der Bäume und der Menschen wiederkehrte», wuchsen und tiefer wurden. Die Leute, die vou höhergelegneu Punkten die Finsternis beobachtet hatten, stiegen herab, die meisten mit ernsten Mienen, und als die Sonne wieder fast ganz frei leuchtete, und die Wolken zurücksanken, die gegen sie, als sie schwach geworden, heraufgewachsen waren, schienen viele erleichtert aufzuatmen. — Gottlob, daß es vorbei ist! — Es

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_295218/47>, abgerufen am 23.07.2024.