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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr.

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Glücksinseln und Träume

und kümmerte mich nicht um sie. Diese weißlich grünen Wände mit den Streifen
des Regenwassers, diese dunkelgrünen Fensterläden, die mir als Feinde des Lichts
und als Symbole der sinkenden Nacht und des Zubettegehns einen unangenehmen
Eindruck machten, diese hohen Fenster, die zum Teil nie geöffnet wurden und ver¬
staubt waren, kamen mir alle so stumpf, so glanzlos, so unberedt vor. Wie anders
der Mond, den ich mit der Zeit kennen lernen durfte, wie er sein Licht in das
Negenfaß ergoß. Wenn das milde Licht der Mondsichel, die dem Vollmond ent¬
gegenreift, gleich nach Sonnenuntergang die Welt übergoß, die, da sie an Giebeln,
Türmen und hohen Zinnen einen Schimmer von Abendrot festhielt, noch nicht ganz
bleich geworden war, durchbohrte ein glänzender Silberstab die Wassersäule des
Regenfasses. Die leiseste Bewegung verwandelte ihn in eine Schlange, die sich
unaufhörlich hinab und hinauf ringelte, und bei größern Wellen wurden Lichtstücke
daraus, die gerade, gebogen und gewunden sich einander näherten und wieder
zerbrachen, wobei Silberfunken nach allen Seiten durch die Flüssigkeit stoben.

Eine zweite Welt neben der der Tiefe zog mich noch weit stärker an. Das war
die Welt, die über mir lag. Aus dieser stieg zunächst jeden Morgen der vorhin
genannte Stallknecht herab, der, nächst den guten Eltern, der einzige Mensch war,
dem ich anhing. Er waltete in dem Stalle, dessen graue Rückwand an der vierten
Seite meines Hofes stand. Das Stampfen der Pferde, das Rasseln ihrer Ketten,
das herüberklang, verliehen ihm selbst eine geheimnisvolle Würde, als ob er darüber
zu gebieten hätte, und als er mich einmal in den Stall führte, dessen Tor sich in
eine Nebengasse öffnete, und mir sagte, daß die schönen gelben und weißen Figuren,
die mit Sand auf den Boden gestreut waren, sein eignes Werk seien, schien er
mir nicht viel weniger zu vermögen als der liebe Herrgott, der das Gras wachsen
ließ. Aus dem Zimmer des Stallknechts klangen Abends Lante, deren stählernen
Ton ich noch heute nicht vergessen habe; er war Lehrer gewesen, ehe er unter die
Dragoner gegangen war, und sein baufälliges Klavier gehörte zu den Reliquien,
die er aus der Schulstube in sein Reiterleben herübergenommen hatte. Auf dem
blaßnußbaumnen Klavier stand eine kleine Erdkugel, die kunstreich aus Pappe ge¬
fügt und mit der Hand gemalt war. Hat mir jemals wieder ein Mensch so im¬
poniert wie der Stallknecht Gustav? Rosse znhmeu, eine Welt von herrlichen
Figuren aus bloßem Sand auf den Boden eines Stalles zaubern, den Erdball
nachbilden und dessen Harmonien ans Stahlfallen erklingen lassen: was ist viel¬
seitig, wenn nicht dieses? Wenn ich später von den Renaissancemenschen las, die
alles konnten, erschien die Figur Gnstavs vor meinen Augen. Hatte nicht dieser
Stallknecht außerdem die Liebe für sich, mit der er seine Pferde pflegte und mit
einem kleinen Kerl, wie mir, wie mit seinesgleichen plauderte? Und war er nicht
eine herrliche Erscheinung, schlank, helläugig, heiter, in weißen Lederhosen und roter
Jacke? Er ist später fürstlicher Stallmeister geworden, und daß er als solcher,
neben dem Wagen des Fürsten reitend, mir mit den Augen, von denen ich eine
Erinnerung wie an abwechselnd lachende und fragende Kinderaugen habe, freund¬
schaftlich zuwinkte, wenn ich, die Schulbücher uuter dem Arme, vorbeiging, gehört
zu den Anerkennungen im Leben, die ich am lebhaftesten empfunden habe. Daß
über meinem ganzen Verhältnis zu Gustav der fcharfsüßliche Geruch des Pferde¬
stalles wie Weihrauchwolken schwebte, war noch ein besondrer Genuß. Hatte ich
Gustav so lieb, weil er von diesem Geruch umgeben war, oder liebte ich den
Geruch, weil er ihn mit sich trug?'

Von Gustavs Zimmer sah man an hohen Häusern hinauf, und ganz oben,
wohl im fünften Stockwerk, wohnte nach den Auskünften, die mir geworden waren,
das Christkindchen und der Knecht Ruprecht, die nur einmal im Jahre herabstiegen,
um die guten Kinder zu belohnen, die bösen zu ernähren. Ich warf gelegentlich
einen verstohlnen Blick hinauf und fand keine Enttäuschung darin, daß ich in der
Wohnung, die diesen beiden mythischen Gestalten Angesprochen wurde, eine schneider¬
ähnliche Gestalt auf erhöhtem Sitze mit langen Armbewegungen nähen oder ein
andermal eine arme alte Frau die Fenster abwischen sah. Knecht Ruprecht mußte


Glücksinseln und Träume

und kümmerte mich nicht um sie. Diese weißlich grünen Wände mit den Streifen
des Regenwassers, diese dunkelgrünen Fensterläden, die mir als Feinde des Lichts
und als Symbole der sinkenden Nacht und des Zubettegehns einen unangenehmen
Eindruck machten, diese hohen Fenster, die zum Teil nie geöffnet wurden und ver¬
staubt waren, kamen mir alle so stumpf, so glanzlos, so unberedt vor. Wie anders
der Mond, den ich mit der Zeit kennen lernen durfte, wie er sein Licht in das
Negenfaß ergoß. Wenn das milde Licht der Mondsichel, die dem Vollmond ent¬
gegenreift, gleich nach Sonnenuntergang die Welt übergoß, die, da sie an Giebeln,
Türmen und hohen Zinnen einen Schimmer von Abendrot festhielt, noch nicht ganz
bleich geworden war, durchbohrte ein glänzender Silberstab die Wassersäule des
Regenfasses. Die leiseste Bewegung verwandelte ihn in eine Schlange, die sich
unaufhörlich hinab und hinauf ringelte, und bei größern Wellen wurden Lichtstücke
daraus, die gerade, gebogen und gewunden sich einander näherten und wieder
zerbrachen, wobei Silberfunken nach allen Seiten durch die Flüssigkeit stoben.

Eine zweite Welt neben der der Tiefe zog mich noch weit stärker an. Das war
die Welt, die über mir lag. Aus dieser stieg zunächst jeden Morgen der vorhin
genannte Stallknecht herab, der, nächst den guten Eltern, der einzige Mensch war,
dem ich anhing. Er waltete in dem Stalle, dessen graue Rückwand an der vierten
Seite meines Hofes stand. Das Stampfen der Pferde, das Rasseln ihrer Ketten,
das herüberklang, verliehen ihm selbst eine geheimnisvolle Würde, als ob er darüber
zu gebieten hätte, und als er mich einmal in den Stall führte, dessen Tor sich in
eine Nebengasse öffnete, und mir sagte, daß die schönen gelben und weißen Figuren,
die mit Sand auf den Boden gestreut waren, sein eignes Werk seien, schien er
mir nicht viel weniger zu vermögen als der liebe Herrgott, der das Gras wachsen
ließ. Aus dem Zimmer des Stallknechts klangen Abends Lante, deren stählernen
Ton ich noch heute nicht vergessen habe; er war Lehrer gewesen, ehe er unter die
Dragoner gegangen war, und sein baufälliges Klavier gehörte zu den Reliquien,
die er aus der Schulstube in sein Reiterleben herübergenommen hatte. Auf dem
blaßnußbaumnen Klavier stand eine kleine Erdkugel, die kunstreich aus Pappe ge¬
fügt und mit der Hand gemalt war. Hat mir jemals wieder ein Mensch so im¬
poniert wie der Stallknecht Gustav? Rosse znhmeu, eine Welt von herrlichen
Figuren aus bloßem Sand auf den Boden eines Stalles zaubern, den Erdball
nachbilden und dessen Harmonien ans Stahlfallen erklingen lassen: was ist viel¬
seitig, wenn nicht dieses? Wenn ich später von den Renaissancemenschen las, die
alles konnten, erschien die Figur Gnstavs vor meinen Augen. Hatte nicht dieser
Stallknecht außerdem die Liebe für sich, mit der er seine Pferde pflegte und mit
einem kleinen Kerl, wie mir, wie mit seinesgleichen plauderte? Und war er nicht
eine herrliche Erscheinung, schlank, helläugig, heiter, in weißen Lederhosen und roter
Jacke? Er ist später fürstlicher Stallmeister geworden, und daß er als solcher,
neben dem Wagen des Fürsten reitend, mir mit den Augen, von denen ich eine
Erinnerung wie an abwechselnd lachende und fragende Kinderaugen habe, freund¬
schaftlich zuwinkte, wenn ich, die Schulbücher uuter dem Arme, vorbeiging, gehört
zu den Anerkennungen im Leben, die ich am lebhaftesten empfunden habe. Daß
über meinem ganzen Verhältnis zu Gustav der fcharfsüßliche Geruch des Pferde¬
stalles wie Weihrauchwolken schwebte, war noch ein besondrer Genuß. Hatte ich
Gustav so lieb, weil er von diesem Geruch umgeben war, oder liebte ich den
Geruch, weil er ihn mit sich trug?'

Von Gustavs Zimmer sah man an hohen Häusern hinauf, und ganz oben,
wohl im fünften Stockwerk, wohnte nach den Auskünften, die mir geworden waren,
das Christkindchen und der Knecht Ruprecht, die nur einmal im Jahre herabstiegen,
um die guten Kinder zu belohnen, die bösen zu ernähren. Ich warf gelegentlich
einen verstohlnen Blick hinauf und fand keine Enttäuschung darin, daß ich in der
Wohnung, die diesen beiden mythischen Gestalten Angesprochen wurde, eine schneider¬
ähnliche Gestalt auf erhöhtem Sitze mit langen Armbewegungen nähen oder ein
andermal eine arme alte Frau die Fenster abwischen sah. Knecht Ruprecht mußte


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[0046] Glücksinseln und Träume und kümmerte mich nicht um sie. Diese weißlich grünen Wände mit den Streifen des Regenwassers, diese dunkelgrünen Fensterläden, die mir als Feinde des Lichts und als Symbole der sinkenden Nacht und des Zubettegehns einen unangenehmen Eindruck machten, diese hohen Fenster, die zum Teil nie geöffnet wurden und ver¬ staubt waren, kamen mir alle so stumpf, so glanzlos, so unberedt vor. Wie anders der Mond, den ich mit der Zeit kennen lernen durfte, wie er sein Licht in das Negenfaß ergoß. Wenn das milde Licht der Mondsichel, die dem Vollmond ent¬ gegenreift, gleich nach Sonnenuntergang die Welt übergoß, die, da sie an Giebeln, Türmen und hohen Zinnen einen Schimmer von Abendrot festhielt, noch nicht ganz bleich geworden war, durchbohrte ein glänzender Silberstab die Wassersäule des Regenfasses. Die leiseste Bewegung verwandelte ihn in eine Schlange, die sich unaufhörlich hinab und hinauf ringelte, und bei größern Wellen wurden Lichtstücke daraus, die gerade, gebogen und gewunden sich einander näherten und wieder zerbrachen, wobei Silberfunken nach allen Seiten durch die Flüssigkeit stoben. Eine zweite Welt neben der der Tiefe zog mich noch weit stärker an. Das war die Welt, die über mir lag. Aus dieser stieg zunächst jeden Morgen der vorhin genannte Stallknecht herab, der, nächst den guten Eltern, der einzige Mensch war, dem ich anhing. Er waltete in dem Stalle, dessen graue Rückwand an der vierten Seite meines Hofes stand. Das Stampfen der Pferde, das Rasseln ihrer Ketten, das herüberklang, verliehen ihm selbst eine geheimnisvolle Würde, als ob er darüber zu gebieten hätte, und als er mich einmal in den Stall führte, dessen Tor sich in eine Nebengasse öffnete, und mir sagte, daß die schönen gelben und weißen Figuren, die mit Sand auf den Boden gestreut waren, sein eignes Werk seien, schien er mir nicht viel weniger zu vermögen als der liebe Herrgott, der das Gras wachsen ließ. Aus dem Zimmer des Stallknechts klangen Abends Lante, deren stählernen Ton ich noch heute nicht vergessen habe; er war Lehrer gewesen, ehe er unter die Dragoner gegangen war, und sein baufälliges Klavier gehörte zu den Reliquien, die er aus der Schulstube in sein Reiterleben herübergenommen hatte. Auf dem blaßnußbaumnen Klavier stand eine kleine Erdkugel, die kunstreich aus Pappe ge¬ fügt und mit der Hand gemalt war. Hat mir jemals wieder ein Mensch so im¬ poniert wie der Stallknecht Gustav? Rosse znhmeu, eine Welt von herrlichen Figuren aus bloßem Sand auf den Boden eines Stalles zaubern, den Erdball nachbilden und dessen Harmonien ans Stahlfallen erklingen lassen: was ist viel¬ seitig, wenn nicht dieses? Wenn ich später von den Renaissancemenschen las, die alles konnten, erschien die Figur Gnstavs vor meinen Augen. Hatte nicht dieser Stallknecht außerdem die Liebe für sich, mit der er seine Pferde pflegte und mit einem kleinen Kerl, wie mir, wie mit seinesgleichen plauderte? Und war er nicht eine herrliche Erscheinung, schlank, helläugig, heiter, in weißen Lederhosen und roter Jacke? Er ist später fürstlicher Stallmeister geworden, und daß er als solcher, neben dem Wagen des Fürsten reitend, mir mit den Augen, von denen ich eine Erinnerung wie an abwechselnd lachende und fragende Kinderaugen habe, freund¬ schaftlich zuwinkte, wenn ich, die Schulbücher uuter dem Arme, vorbeiging, gehört zu den Anerkennungen im Leben, die ich am lebhaftesten empfunden habe. Daß über meinem ganzen Verhältnis zu Gustav der fcharfsüßliche Geruch des Pferde¬ stalles wie Weihrauchwolken schwebte, war noch ein besondrer Genuß. Hatte ich Gustav so lieb, weil er von diesem Geruch umgeben war, oder liebte ich den Geruch, weil er ihn mit sich trug?' Von Gustavs Zimmer sah man an hohen Häusern hinauf, und ganz oben, wohl im fünften Stockwerk, wohnte nach den Auskünften, die mir geworden waren, das Christkindchen und der Knecht Ruprecht, die nur einmal im Jahre herabstiegen, um die guten Kinder zu belohnen, die bösen zu ernähren. Ich warf gelegentlich einen verstohlnen Blick hinauf und fand keine Enttäuschung darin, daß ich in der Wohnung, die diesen beiden mythischen Gestalten Angesprochen wurde, eine schneider¬ ähnliche Gestalt auf erhöhtem Sitze mit langen Armbewegungen nähen oder ein andermal eine arme alte Frau die Fenster abwischen sah. Knecht Ruprecht mußte

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Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_295218/46>, abgerufen am 23.07.2024.