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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr.

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Uulturbilder von den kleinasiatischen Inseln

Gegenwart auf sich wirken läßt, schwerlich so mannigfaltig abgestimmte und
reich belebte Bilder mit heimbringen, wie sie einst der altertumsbegeistertc
Geibel in seinen Ritornellen von den griechischen Inseln vor uns hingezaubert
hat, worin jede Insel gleichsam einen Porträtkopf trügt. Denn Geibel war
es auch nur mit Hilfe seiner dichterischen Anschauungskraft und der damals
herrschenden romantischen Auffassung des Altertums möglich, in dem Land¬
schaftsbilde einer jeden Insel eine Individualität zu sehen: er projizierte die
Vergangenheit in die Gegenwart, ein Vorgang, der sich wohl bei jedem klassisch
gebildeten Griechenlandfahrer vollzieht, der aber nicht geeignet ist, den Dingen
und Menschen, wie sie nun einmal heute sind, gerecht zu werden. Wir wollen
deshalb die Gegenwart allein auf uns wirken lassen und uns aller störenden
Seitenblicke auf das Altertum enthalten.

Wir denken heute auch viel nüchterner über dieses als vor sechzig Jahren,
wo man sich an ihm berauschte, weil man es noch nicht kannte, sondern nur
unklar ahnte und fühlte und aus dem Gefühl und der Phantasie sich aufbaute.
Damals gab es noch keine organisierte Archäologie mit Ausgrabungsfeldern und
Jnstitutsreisen. Heute ist sie eine der exaktesten Wissenschaften, methodisch und
objektiv. Sie hat dem Altertum seinen rosigen Zauber geraubt, und damit
schwindet auch der Abglanz, der von jenem auf die Gegenwart fiel. So
wollen wir uns denn jetzt, wo fast zugleich auch aus Samos, Kos und Rhodos
antike Trümmer zutage treten, auch für unsre mehr aus der Vogelperspektive
gesehenen Bilder dieser und der dazwischen liegenden kleinern Inseln jene
Nüchternheit der Auffassung zunutze machen und das Prinzip der Sachlichkeit,
das die Archäologen auf das Altertum anwenden, auf die Gegenwart über¬
tragen. Vielleicht gewinnen wir ihr doch einige Reize ab. Es war auch
Winter, als ich diese Inseln bereiste; da sieht man nicht nur das flutende,
flimmernde Licht, sondern auch die schweren, schwarzen Wolkenschatten.




Was allen diesen Inseln ihren Reiz verleiht, sind ihre landschaftlichen
und sozialen Kontraste. Von außen machen sie zwar fast alle einen gleich
reizlosen Eindruck: kahle Felswände starren dem enttäuschten Auge entgegen,
wenn man zwischen mehreren dieser schwimmenden Steinblöcke hindurchsteuert,
und unwillkürlich fühlt man sich an Chamissos Salas y Gomez erinnert, so
trostlos ist der Anblick. Aber man darf erst urteilen, wenn man in ihr
Inneres geschont hat, erst dann kann man die Schafe von den Böcken sondern;
denn es gibt unter diesen Inseln solche, die wollvliesigen Schafen gleichen,
und andre, die wie magere Steinböcke dastehn. Jene sind die großen, wie die
schon genannten Samos, Kos und Rhodos; diese die kleinen, dazwischen
liegenden: Palaos, Leros, Kalymnos, Asthpaläa, Syene usw. Dort findet
man im Innern üppigen Baumwuchs und murmelnde Quellen, liebliche Täter
und weidende Herden; hier dehnt sich, so weit das Auge reicht, uur eine
hoffnungslose Steinwüste, nur hie und da von einigen schmächtigen Feigen-
vder Ölbäumen belebt.

Und diesen landschaftlichen Unterschieden entsprechen auch die sozialen und
die politischen: wenn man von Samos absieht, das eine Ausnahmestellung


Uulturbilder von den kleinasiatischen Inseln

Gegenwart auf sich wirken läßt, schwerlich so mannigfaltig abgestimmte und
reich belebte Bilder mit heimbringen, wie sie einst der altertumsbegeistertc
Geibel in seinen Ritornellen von den griechischen Inseln vor uns hingezaubert
hat, worin jede Insel gleichsam einen Porträtkopf trügt. Denn Geibel war
es auch nur mit Hilfe seiner dichterischen Anschauungskraft und der damals
herrschenden romantischen Auffassung des Altertums möglich, in dem Land¬
schaftsbilde einer jeden Insel eine Individualität zu sehen: er projizierte die
Vergangenheit in die Gegenwart, ein Vorgang, der sich wohl bei jedem klassisch
gebildeten Griechenlandfahrer vollzieht, der aber nicht geeignet ist, den Dingen
und Menschen, wie sie nun einmal heute sind, gerecht zu werden. Wir wollen
deshalb die Gegenwart allein auf uns wirken lassen und uns aller störenden
Seitenblicke auf das Altertum enthalten.

Wir denken heute auch viel nüchterner über dieses als vor sechzig Jahren,
wo man sich an ihm berauschte, weil man es noch nicht kannte, sondern nur
unklar ahnte und fühlte und aus dem Gefühl und der Phantasie sich aufbaute.
Damals gab es noch keine organisierte Archäologie mit Ausgrabungsfeldern und
Jnstitutsreisen. Heute ist sie eine der exaktesten Wissenschaften, methodisch und
objektiv. Sie hat dem Altertum seinen rosigen Zauber geraubt, und damit
schwindet auch der Abglanz, der von jenem auf die Gegenwart fiel. So
wollen wir uns denn jetzt, wo fast zugleich auch aus Samos, Kos und Rhodos
antike Trümmer zutage treten, auch für unsre mehr aus der Vogelperspektive
gesehenen Bilder dieser und der dazwischen liegenden kleinern Inseln jene
Nüchternheit der Auffassung zunutze machen und das Prinzip der Sachlichkeit,
das die Archäologen auf das Altertum anwenden, auf die Gegenwart über¬
tragen. Vielleicht gewinnen wir ihr doch einige Reize ab. Es war auch
Winter, als ich diese Inseln bereiste; da sieht man nicht nur das flutende,
flimmernde Licht, sondern auch die schweren, schwarzen Wolkenschatten.




Was allen diesen Inseln ihren Reiz verleiht, sind ihre landschaftlichen
und sozialen Kontraste. Von außen machen sie zwar fast alle einen gleich
reizlosen Eindruck: kahle Felswände starren dem enttäuschten Auge entgegen,
wenn man zwischen mehreren dieser schwimmenden Steinblöcke hindurchsteuert,
und unwillkürlich fühlt man sich an Chamissos Salas y Gomez erinnert, so
trostlos ist der Anblick. Aber man darf erst urteilen, wenn man in ihr
Inneres geschont hat, erst dann kann man die Schafe von den Böcken sondern;
denn es gibt unter diesen Inseln solche, die wollvliesigen Schafen gleichen,
und andre, die wie magere Steinböcke dastehn. Jene sind die großen, wie die
schon genannten Samos, Kos und Rhodos; diese die kleinen, dazwischen
liegenden: Palaos, Leros, Kalymnos, Asthpaläa, Syene usw. Dort findet
man im Innern üppigen Baumwuchs und murmelnde Quellen, liebliche Täter
und weidende Herden; hier dehnt sich, so weit das Auge reicht, uur eine
hoffnungslose Steinwüste, nur hie und da von einigen schmächtigen Feigen-
vder Ölbäumen belebt.

Und diesen landschaftlichen Unterschieden entsprechen auch die sozialen und
die politischen: wenn man von Samos absieht, das eine Ausnahmestellung


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[0034] Uulturbilder von den kleinasiatischen Inseln Gegenwart auf sich wirken läßt, schwerlich so mannigfaltig abgestimmte und reich belebte Bilder mit heimbringen, wie sie einst der altertumsbegeistertc Geibel in seinen Ritornellen von den griechischen Inseln vor uns hingezaubert hat, worin jede Insel gleichsam einen Porträtkopf trügt. Denn Geibel war es auch nur mit Hilfe seiner dichterischen Anschauungskraft und der damals herrschenden romantischen Auffassung des Altertums möglich, in dem Land¬ schaftsbilde einer jeden Insel eine Individualität zu sehen: er projizierte die Vergangenheit in die Gegenwart, ein Vorgang, der sich wohl bei jedem klassisch gebildeten Griechenlandfahrer vollzieht, der aber nicht geeignet ist, den Dingen und Menschen, wie sie nun einmal heute sind, gerecht zu werden. Wir wollen deshalb die Gegenwart allein auf uns wirken lassen und uns aller störenden Seitenblicke auf das Altertum enthalten. Wir denken heute auch viel nüchterner über dieses als vor sechzig Jahren, wo man sich an ihm berauschte, weil man es noch nicht kannte, sondern nur unklar ahnte und fühlte und aus dem Gefühl und der Phantasie sich aufbaute. Damals gab es noch keine organisierte Archäologie mit Ausgrabungsfeldern und Jnstitutsreisen. Heute ist sie eine der exaktesten Wissenschaften, methodisch und objektiv. Sie hat dem Altertum seinen rosigen Zauber geraubt, und damit schwindet auch der Abglanz, der von jenem auf die Gegenwart fiel. So wollen wir uns denn jetzt, wo fast zugleich auch aus Samos, Kos und Rhodos antike Trümmer zutage treten, auch für unsre mehr aus der Vogelperspektive gesehenen Bilder dieser und der dazwischen liegenden kleinern Inseln jene Nüchternheit der Auffassung zunutze machen und das Prinzip der Sachlichkeit, das die Archäologen auf das Altertum anwenden, auf die Gegenwart über¬ tragen. Vielleicht gewinnen wir ihr doch einige Reize ab. Es war auch Winter, als ich diese Inseln bereiste; da sieht man nicht nur das flutende, flimmernde Licht, sondern auch die schweren, schwarzen Wolkenschatten. Was allen diesen Inseln ihren Reiz verleiht, sind ihre landschaftlichen und sozialen Kontraste. Von außen machen sie zwar fast alle einen gleich reizlosen Eindruck: kahle Felswände starren dem enttäuschten Auge entgegen, wenn man zwischen mehreren dieser schwimmenden Steinblöcke hindurchsteuert, und unwillkürlich fühlt man sich an Chamissos Salas y Gomez erinnert, so trostlos ist der Anblick. Aber man darf erst urteilen, wenn man in ihr Inneres geschont hat, erst dann kann man die Schafe von den Böcken sondern; denn es gibt unter diesen Inseln solche, die wollvliesigen Schafen gleichen, und andre, die wie magere Steinböcke dastehn. Jene sind die großen, wie die schon genannten Samos, Kos und Rhodos; diese die kleinen, dazwischen liegenden: Palaos, Leros, Kalymnos, Asthpaläa, Syene usw. Dort findet man im Innern üppigen Baumwuchs und murmelnde Quellen, liebliche Täter und weidende Herden; hier dehnt sich, so weit das Auge reicht, uur eine hoffnungslose Steinwüste, nur hie und da von einigen schmächtigen Feigen- vder Ölbäumen belebt. Und diesen landschaftlichen Unterschieden entsprechen auch die sozialen und die politischen: wenn man von Samos absieht, das eine Ausnahmestellung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_295218/34>, abgerufen am 29.06.2024.