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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr.

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Glücksinseln und Träume

Deckung, und nichts kann uninteressant sein, was die Erfahrungen eines jungen Ge¬
mütes zu bereichern verspricht. Es war mir schon eine Freude gewesen, die freie
Stunde eines stillen Winteruachmittngs in der Schusterwerkstätte des alten Adam
zu sitzen, wo der Glanz der wassergefüllten Glaskugeln zum Nageln und Hämmern
und zu den Erzählungen von Handwerk und Wanderschaft leuchtete. Ich hatte
auch des Abends mit Knechten und Mägden um das Herdfeuer gesessen und hatte
gern dem ewig passenden Knecht einen glühenden Span für die Pfeife gereicht.
Aber die Unterhaltung mit Luisen war doch etwas ganz andres, denn auf das, was
sie sagte, kam es dabei gar nicht an; der Laut ihrer Stimme und der Glanz ihres
Auges lieh allem einen höhern Wert, ihr Gespräch kam mir wie ein blühendes
Bäumchen oder wie eine Druse köstlicher Kristalle vor. Wenn ich von den Meinen
in der Heimat sprach, hörte sie mit stummer Teilnahme zu, wenn wir aber unsre
gemeinsamen Erinnerungen an die Straßen der Stadt und die Waldwege, die sie
umgeben, an den Markt und das Theater, an die stadtbekannten Persönlichkeiten aus¬
tauschten, da lebte sie auf, da leuchtete manchmal sogar ihr Auge und stieg eine
Röte in ihre Wangen, die von einer frendigen Teilnahme zeugte. Es war ihr
vielleicht von meinem Heimwehzustand des vergangnen Winters berichtet worden,
und ich wagte mir einzubilden, daß sie nur mit dem Eingehen in diese Heimats-
gespräche noch nachträglich wohltun wolle. Jedenfalls geizte ich nicht mit dem
wärmsten Gefühle des Dankes.

Dabei konnte ich nicht aufhören, die Weltkenntnis und das sichere Urteil Luisens
zu bewundern. Mit der richtigen Ahnung für das Wirkliche, die Mädchen schon
in die Kinderschule mitbringen, nahm sie aus ihrer engen Welt die Maße für die
weitere. Was war nicht alles willkommner Gegenstand unsrer Gespräche! Von
den Geheimnissen des Glaubens bis zu denen der Küche oder des Gartens reichte
die Skala. Die Rätsel des Lebens lagen noch so tief in der Erde, wir warfen
sie uns einander zu, wie Knaben mit Eicheln oder Roßkastanien Ball spielen, ans
denen ein mächtiger Baum werden wird.

An schönen Maitagen war es Sitte, auf den Basaltkegel des Steinberges zu
steigen, der unsre Gegend beherrscht, und sich einmal die Welt von oben anzuschauen.
Es war, als wollten sich die Menschen nach dein langen Winter versichern, daß sie
wieder, wie letztes Jahr, im Sonnenglanz vor ihnen liege. Und da dort oben
ein Paar Pflanzen wuchsen, die in unsrer Flora selten sind, der Sage nach sogar
der schöne Frauenschuh, verschönte noch der Reiz des Schätzesuchens diesen Ausflug.
Luise und ich verabredeten, den Sonnenaufgang von dort oben zu sehen, und die
alten Schauinslands ließen uns in dunkler Nacht hinausziehen, nachdem sie einen
Tag lang die Köpfe geschüttelt und über die warme Kleidung, die für Luise ge¬
boten sei', lange Gespräche geführt hatten. Für mich hatte es nur eine Sorge ge¬
geben: welche Laterne für die erste dunkle Stunde den Weg am hellsten erleuchten
möchte, damit Luise sicher dahinschreite.

Wer, der einen Menschen gern hat, wünschte nicht, einmal mit ihm auf einem
Berggipfel zu stehn, eine ferne Welt zu Füßen und den Himmel allein ganz nahe
zu Häupten? Es ist der Gipfel der Einsamkeit, und da wir nur von Erhabnen
rings umgeben sind, fällt alles Niedrige von uns ab. Wir brachen lange vor der
Dämmerung auf. Dort stand die scharfgezeichnete und doch so zarte, fast durch¬
sichtige Silbersichel: ihr Licht kam mir golden vor. und von der Kühle der Früh¬
morgenluft spürte ich nichts. Wir schritten durch die Tauperlen des Grases, ohne
eine abzustreifen, so kostbar kamen sie uns vor, wir sahen den Morgenstern noch
Heller und die Mondsichel blässer werden, wir hörten die schlafenden Dörfer er¬
wachen und sahen die ersten Arbeiter aufs Feld hinausziehn. Bis wir an den Fuß
des Steinbergs kamen, lagen auf manchen Wiesen schon dichte Reihen gemähten
Grases. Der Morgenwind ging warm von Südost her und schob lange, schwere,
graue Wolken vor die Sonne. Nicht als Feuerball stieg diese empor, sondern als
glühender Lavastrom floß sie durch die Spalten des Gewölks, das sich auszubreiten


Glücksinseln und Träume

Deckung, und nichts kann uninteressant sein, was die Erfahrungen eines jungen Ge¬
mütes zu bereichern verspricht. Es war mir schon eine Freude gewesen, die freie
Stunde eines stillen Winteruachmittngs in der Schusterwerkstätte des alten Adam
zu sitzen, wo der Glanz der wassergefüllten Glaskugeln zum Nageln und Hämmern
und zu den Erzählungen von Handwerk und Wanderschaft leuchtete. Ich hatte
auch des Abends mit Knechten und Mägden um das Herdfeuer gesessen und hatte
gern dem ewig passenden Knecht einen glühenden Span für die Pfeife gereicht.
Aber die Unterhaltung mit Luisen war doch etwas ganz andres, denn auf das, was
sie sagte, kam es dabei gar nicht an; der Laut ihrer Stimme und der Glanz ihres
Auges lieh allem einen höhern Wert, ihr Gespräch kam mir wie ein blühendes
Bäumchen oder wie eine Druse köstlicher Kristalle vor. Wenn ich von den Meinen
in der Heimat sprach, hörte sie mit stummer Teilnahme zu, wenn wir aber unsre
gemeinsamen Erinnerungen an die Straßen der Stadt und die Waldwege, die sie
umgeben, an den Markt und das Theater, an die stadtbekannten Persönlichkeiten aus¬
tauschten, da lebte sie auf, da leuchtete manchmal sogar ihr Auge und stieg eine
Röte in ihre Wangen, die von einer frendigen Teilnahme zeugte. Es war ihr
vielleicht von meinem Heimwehzustand des vergangnen Winters berichtet worden,
und ich wagte mir einzubilden, daß sie nur mit dem Eingehen in diese Heimats-
gespräche noch nachträglich wohltun wolle. Jedenfalls geizte ich nicht mit dem
wärmsten Gefühle des Dankes.

Dabei konnte ich nicht aufhören, die Weltkenntnis und das sichere Urteil Luisens
zu bewundern. Mit der richtigen Ahnung für das Wirkliche, die Mädchen schon
in die Kinderschule mitbringen, nahm sie aus ihrer engen Welt die Maße für die
weitere. Was war nicht alles willkommner Gegenstand unsrer Gespräche! Von
den Geheimnissen des Glaubens bis zu denen der Küche oder des Gartens reichte
die Skala. Die Rätsel des Lebens lagen noch so tief in der Erde, wir warfen
sie uns einander zu, wie Knaben mit Eicheln oder Roßkastanien Ball spielen, ans
denen ein mächtiger Baum werden wird.

An schönen Maitagen war es Sitte, auf den Basaltkegel des Steinberges zu
steigen, der unsre Gegend beherrscht, und sich einmal die Welt von oben anzuschauen.
Es war, als wollten sich die Menschen nach dein langen Winter versichern, daß sie
wieder, wie letztes Jahr, im Sonnenglanz vor ihnen liege. Und da dort oben
ein Paar Pflanzen wuchsen, die in unsrer Flora selten sind, der Sage nach sogar
der schöne Frauenschuh, verschönte noch der Reiz des Schätzesuchens diesen Ausflug.
Luise und ich verabredeten, den Sonnenaufgang von dort oben zu sehen, und die
alten Schauinslands ließen uns in dunkler Nacht hinausziehen, nachdem sie einen
Tag lang die Köpfe geschüttelt und über die warme Kleidung, die für Luise ge¬
boten sei', lange Gespräche geführt hatten. Für mich hatte es nur eine Sorge ge¬
geben: welche Laterne für die erste dunkle Stunde den Weg am hellsten erleuchten
möchte, damit Luise sicher dahinschreite.

Wer, der einen Menschen gern hat, wünschte nicht, einmal mit ihm auf einem
Berggipfel zu stehn, eine ferne Welt zu Füßen und den Himmel allein ganz nahe
zu Häupten? Es ist der Gipfel der Einsamkeit, und da wir nur von Erhabnen
rings umgeben sind, fällt alles Niedrige von uns ab. Wir brachen lange vor der
Dämmerung auf. Dort stand die scharfgezeichnete und doch so zarte, fast durch¬
sichtige Silbersichel: ihr Licht kam mir golden vor. und von der Kühle der Früh¬
morgenluft spürte ich nichts. Wir schritten durch die Tauperlen des Grases, ohne
eine abzustreifen, so kostbar kamen sie uns vor, wir sahen den Morgenstern noch
Heller und die Mondsichel blässer werden, wir hörten die schlafenden Dörfer er¬
wachen und sahen die ersten Arbeiter aufs Feld hinausziehn. Bis wir an den Fuß
des Steinbergs kamen, lagen auf manchen Wiesen schon dichte Reihen gemähten
Grases. Der Morgenwind ging warm von Südost her und schob lange, schwere,
graue Wolken vor die Sonne. Nicht als Feuerball stieg diese empor, sondern als
glühender Lavastrom floß sie durch die Spalten des Gewölks, das sich auszubreiten


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[0225] Glücksinseln und Träume Deckung, und nichts kann uninteressant sein, was die Erfahrungen eines jungen Ge¬ mütes zu bereichern verspricht. Es war mir schon eine Freude gewesen, die freie Stunde eines stillen Winteruachmittngs in der Schusterwerkstätte des alten Adam zu sitzen, wo der Glanz der wassergefüllten Glaskugeln zum Nageln und Hämmern und zu den Erzählungen von Handwerk und Wanderschaft leuchtete. Ich hatte auch des Abends mit Knechten und Mägden um das Herdfeuer gesessen und hatte gern dem ewig passenden Knecht einen glühenden Span für die Pfeife gereicht. Aber die Unterhaltung mit Luisen war doch etwas ganz andres, denn auf das, was sie sagte, kam es dabei gar nicht an; der Laut ihrer Stimme und der Glanz ihres Auges lieh allem einen höhern Wert, ihr Gespräch kam mir wie ein blühendes Bäumchen oder wie eine Druse köstlicher Kristalle vor. Wenn ich von den Meinen in der Heimat sprach, hörte sie mit stummer Teilnahme zu, wenn wir aber unsre gemeinsamen Erinnerungen an die Straßen der Stadt und die Waldwege, die sie umgeben, an den Markt und das Theater, an die stadtbekannten Persönlichkeiten aus¬ tauschten, da lebte sie auf, da leuchtete manchmal sogar ihr Auge und stieg eine Röte in ihre Wangen, die von einer frendigen Teilnahme zeugte. Es war ihr vielleicht von meinem Heimwehzustand des vergangnen Winters berichtet worden, und ich wagte mir einzubilden, daß sie nur mit dem Eingehen in diese Heimats- gespräche noch nachträglich wohltun wolle. Jedenfalls geizte ich nicht mit dem wärmsten Gefühle des Dankes. Dabei konnte ich nicht aufhören, die Weltkenntnis und das sichere Urteil Luisens zu bewundern. Mit der richtigen Ahnung für das Wirkliche, die Mädchen schon in die Kinderschule mitbringen, nahm sie aus ihrer engen Welt die Maße für die weitere. Was war nicht alles willkommner Gegenstand unsrer Gespräche! Von den Geheimnissen des Glaubens bis zu denen der Küche oder des Gartens reichte die Skala. Die Rätsel des Lebens lagen noch so tief in der Erde, wir warfen sie uns einander zu, wie Knaben mit Eicheln oder Roßkastanien Ball spielen, ans denen ein mächtiger Baum werden wird. An schönen Maitagen war es Sitte, auf den Basaltkegel des Steinberges zu steigen, der unsre Gegend beherrscht, und sich einmal die Welt von oben anzuschauen. Es war, als wollten sich die Menschen nach dein langen Winter versichern, daß sie wieder, wie letztes Jahr, im Sonnenglanz vor ihnen liege. Und da dort oben ein Paar Pflanzen wuchsen, die in unsrer Flora selten sind, der Sage nach sogar der schöne Frauenschuh, verschönte noch der Reiz des Schätzesuchens diesen Ausflug. Luise und ich verabredeten, den Sonnenaufgang von dort oben zu sehen, und die alten Schauinslands ließen uns in dunkler Nacht hinausziehen, nachdem sie einen Tag lang die Köpfe geschüttelt und über die warme Kleidung, die für Luise ge¬ boten sei', lange Gespräche geführt hatten. Für mich hatte es nur eine Sorge ge¬ geben: welche Laterne für die erste dunkle Stunde den Weg am hellsten erleuchten möchte, damit Luise sicher dahinschreite. Wer, der einen Menschen gern hat, wünschte nicht, einmal mit ihm auf einem Berggipfel zu stehn, eine ferne Welt zu Füßen und den Himmel allein ganz nahe zu Häupten? Es ist der Gipfel der Einsamkeit, und da wir nur von Erhabnen rings umgeben sind, fällt alles Niedrige von uns ab. Wir brachen lange vor der Dämmerung auf. Dort stand die scharfgezeichnete und doch so zarte, fast durch¬ sichtige Silbersichel: ihr Licht kam mir golden vor. und von der Kühle der Früh¬ morgenluft spürte ich nichts. Wir schritten durch die Tauperlen des Grases, ohne eine abzustreifen, so kostbar kamen sie uns vor, wir sahen den Morgenstern noch Heller und die Mondsichel blässer werden, wir hörten die schlafenden Dörfer er¬ wachen und sahen die ersten Arbeiter aufs Feld hinausziehn. Bis wir an den Fuß des Steinbergs kamen, lagen auf manchen Wiesen schon dichte Reihen gemähten Grases. Der Morgenwind ging warm von Südost her und schob lange, schwere, graue Wolken vor die Sonne. Nicht als Feuerball stieg diese empor, sondern als glühender Lavastrom floß sie durch die Spalten des Gewölks, das sich auszubreiten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_295218/225>, abgerufen am 23.07.2024.