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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr.

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daran, sondern sonnte mich nnr in seinem Lichte, dankbar wie für eine schöne Blume,
sür einen hellen Stern. Luisens Gesichtszüge will ich nicht beschreiben; sie waren
sein, die Gesichtsform schmal, und über einer schönen Stirn, die keine Falten zu
kennen schien, lag aschblondes Haar in einer schönen Bogenlinie, die ein glatter
Scheitel in der Mitte teilte; das paßte alles so gut zusammen, daß man in dem
Gefallen an der Harmonie der Erscheinung die Regelmäßigkeit und die Lieblichkeit
einzelner Züge ganz vergaß.

In den Mienen und in dem Benehmen Luisens war die Mischung entlegner
Gaben und Neigungen, die uns mehr als alles andre zu Menschen hinzieht, an
Menschen fesselt. Auf ihrer Stirn wohnte Hoheit, in ihrem Auge warme Freundlich¬
keit, die so weit über Schönheit hinaufreicht, aber ihre feinen Nasenflügel sprachen
von Ungeduld, vielleicht manchmal von Stolz. In dem weichen Munde zeigte sich
ganz von fern eine kommende Weisheit, wie ein Festes, das werden will, und
wenn auf ihrer Oberlippe das Licht eines Lächelns aufging, hatte es zwar noch
das unbestimmt Heitere der Jugend, aber ich dachte: So muß Pallas Athene ge¬
lächelt haben, als sie noch ein Mädchen war. In ernsten Augenblicken fiel aber
ein Schatten aus dem klaren Auge darüber, wie wenn in dessen dunkelm Hinter¬
grund ein Gedanke von Wehmut und Trauer vorüberglitte. Sie fühlte wohl die
Kühle dieses Schattens, und er verschwand bald.

Alle Menschen, die durch eine auffallende körperliche Eigentümlichkeit, einen
Fehler, einen Mangel "gezeichnet" sind, neigen zu Nachdenklichkeit. Ein Teil ihres
Wesens ist einwärts gekehrt, sie besinnen sich mehr als andre auf sich selbst. Ge¬
meine Naturen gehen im Egoismus oder im Hader mit dem Schicksal auf, edlern
ist der Kampf mit dem Wunsche, anders zu sein, nicht erspart. Wer diesen Wechsel
von Licht und Schatten einmal erfahren hatte, dem gehörte er zu dem Menschen¬
kind. So dachte der Photograph nicht, der in jener Zeit der erst werdenden Licht¬
bildkunst mit einem unvollkommnen Apparat und mangelhafter Fähigkeit von Dorf
zu Dorf zog. Er nahm Luise natürlich von der sehenden Seite ans, und wer das
Bild sah, mochte denken: Wie neckisch trügt diese junge Dame ein schwarzes Bündchen
schief über dem Ohr. Als ich das Bild sah, das nach der damaligen Mode wie
lackiertes Blech glänzte, entfuhr mir der Ausruf: Welche Lüge, welche Feigheit!
Nur ihr ganzes Gesicht ist ähnlich. Ohne das andre Auge ist es gefälscht!

Ein ganz wolkenloser Himmel kann nicht über einem solchen Leben stehn.
Freundschaft und Liebe bringen ihm heißere Sonne, aber auch schwerere Stürme.
Es neigt sich gern zu andern, die freier, heiterer im Leben aufgewachsen sind, und
rankt sich an ihnen auf bis zuni Verluste des eignen Schwerpunkts. Uns andre
reizt nur das Schöne, für jene hat immer auch das Gesunde, Normale einen Wert,
den wir nicht nachfühlen. Kurz, es gibt für sie mehr Anziehungspunkte außerhalb
ihrer Persönlichkeit, die darum leichter schwankt und sich neigt.

In Luisens Wesen überwog nun äußerlich der Eindruck des Rubens in sich
selbst, gesteigert bis zum Herden, Verschlossenen. Es ist etwas vollkommen Blumen¬
haftes um die frühe volle Entwickeltheit junger Mädchenseelen; wie eine Blume
kommt sie über Nacht, und man freut sich ihrer ohne Warum? und Wohin? Der
junge Manu, der nicht aus dem Werden herauskommen kann, der das Gefühl hat,
nie fertig werden zu sollen, steht bewundernd im Anblick einer solchen Menschen¬
blume, deren Reiz ihn kein Lesen und kein Lernen lehren konnte. Sie steht hoch
über ihm, wie eine nie gesehene Alpenblume in unerreichbarer Felsenhöhe, er begnügt
sich, sie bewundernd anzusehen. Aber warum öffnet sich diese Blume nicht? Kann
es Menschen geben, die nur knospen?

Wir jungen Leute lebten in dem engen Hause so nahe beisammen, wie konnte
es fehlen, daß wir uus näher kamen? In die Ferne hinauszuschweifen, cntdeckungs-
lustig "mit tausend Masten" ist Jugendrecht. Glücklicher Heißhunger der Jugend
nach neuen Menschen, neuen Dingen! Der Horizont war lange so enge, und was
er umschloß, war längst bekannt; was nun neu an ihm auftaucht, ist eine Ent-


daran, sondern sonnte mich nnr in seinem Lichte, dankbar wie für eine schöne Blume,
sür einen hellen Stern. Luisens Gesichtszüge will ich nicht beschreiben; sie waren
sein, die Gesichtsform schmal, und über einer schönen Stirn, die keine Falten zu
kennen schien, lag aschblondes Haar in einer schönen Bogenlinie, die ein glatter
Scheitel in der Mitte teilte; das paßte alles so gut zusammen, daß man in dem
Gefallen an der Harmonie der Erscheinung die Regelmäßigkeit und die Lieblichkeit
einzelner Züge ganz vergaß.

In den Mienen und in dem Benehmen Luisens war die Mischung entlegner
Gaben und Neigungen, die uns mehr als alles andre zu Menschen hinzieht, an
Menschen fesselt. Auf ihrer Stirn wohnte Hoheit, in ihrem Auge warme Freundlich¬
keit, die so weit über Schönheit hinaufreicht, aber ihre feinen Nasenflügel sprachen
von Ungeduld, vielleicht manchmal von Stolz. In dem weichen Munde zeigte sich
ganz von fern eine kommende Weisheit, wie ein Festes, das werden will, und
wenn auf ihrer Oberlippe das Licht eines Lächelns aufging, hatte es zwar noch
das unbestimmt Heitere der Jugend, aber ich dachte: So muß Pallas Athene ge¬
lächelt haben, als sie noch ein Mädchen war. In ernsten Augenblicken fiel aber
ein Schatten aus dem klaren Auge darüber, wie wenn in dessen dunkelm Hinter¬
grund ein Gedanke von Wehmut und Trauer vorüberglitte. Sie fühlte wohl die
Kühle dieses Schattens, und er verschwand bald.

Alle Menschen, die durch eine auffallende körperliche Eigentümlichkeit, einen
Fehler, einen Mangel „gezeichnet" sind, neigen zu Nachdenklichkeit. Ein Teil ihres
Wesens ist einwärts gekehrt, sie besinnen sich mehr als andre auf sich selbst. Ge¬
meine Naturen gehen im Egoismus oder im Hader mit dem Schicksal auf, edlern
ist der Kampf mit dem Wunsche, anders zu sein, nicht erspart. Wer diesen Wechsel
von Licht und Schatten einmal erfahren hatte, dem gehörte er zu dem Menschen¬
kind. So dachte der Photograph nicht, der in jener Zeit der erst werdenden Licht¬
bildkunst mit einem unvollkommnen Apparat und mangelhafter Fähigkeit von Dorf
zu Dorf zog. Er nahm Luise natürlich von der sehenden Seite ans, und wer das
Bild sah, mochte denken: Wie neckisch trügt diese junge Dame ein schwarzes Bündchen
schief über dem Ohr. Als ich das Bild sah, das nach der damaligen Mode wie
lackiertes Blech glänzte, entfuhr mir der Ausruf: Welche Lüge, welche Feigheit!
Nur ihr ganzes Gesicht ist ähnlich. Ohne das andre Auge ist es gefälscht!

Ein ganz wolkenloser Himmel kann nicht über einem solchen Leben stehn.
Freundschaft und Liebe bringen ihm heißere Sonne, aber auch schwerere Stürme.
Es neigt sich gern zu andern, die freier, heiterer im Leben aufgewachsen sind, und
rankt sich an ihnen auf bis zuni Verluste des eignen Schwerpunkts. Uns andre
reizt nur das Schöne, für jene hat immer auch das Gesunde, Normale einen Wert,
den wir nicht nachfühlen. Kurz, es gibt für sie mehr Anziehungspunkte außerhalb
ihrer Persönlichkeit, die darum leichter schwankt und sich neigt.

In Luisens Wesen überwog nun äußerlich der Eindruck des Rubens in sich
selbst, gesteigert bis zum Herden, Verschlossenen. Es ist etwas vollkommen Blumen¬
haftes um die frühe volle Entwickeltheit junger Mädchenseelen; wie eine Blume
kommt sie über Nacht, und man freut sich ihrer ohne Warum? und Wohin? Der
junge Manu, der nicht aus dem Werden herauskommen kann, der das Gefühl hat,
nie fertig werden zu sollen, steht bewundernd im Anblick einer solchen Menschen¬
blume, deren Reiz ihn kein Lesen und kein Lernen lehren konnte. Sie steht hoch
über ihm, wie eine nie gesehene Alpenblume in unerreichbarer Felsenhöhe, er begnügt
sich, sie bewundernd anzusehen. Aber warum öffnet sich diese Blume nicht? Kann
es Menschen geben, die nur knospen?

Wir jungen Leute lebten in dem engen Hause so nahe beisammen, wie konnte
es fehlen, daß wir uus näher kamen? In die Ferne hinauszuschweifen, cntdeckungs-
lustig „mit tausend Masten" ist Jugendrecht. Glücklicher Heißhunger der Jugend
nach neuen Menschen, neuen Dingen! Der Horizont war lange so enge, und was
er umschloß, war längst bekannt; was nun neu an ihm auftaucht, ist eine Ent-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_295218/224>, abgerufen am 23.07.2024.