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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr.

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Herrschaft beginnt, wenn die Dämmerung alle andern Sterne auslöscht, und die
Sonne noch nicht emporgestiegen ist, liegt mir mehr als in der ganzen übrigen
Natur. Der Morgenstern, wie er einsam in der Vordämmerung steht, ist ein Tor
ins große Helle, ein Lichtmeer scheint herauszufließen, das dahinter glüht. Mut und
Hoffnung strahlen mich aus seiner milden Glut an, Mut, als Stern der Nacht in
den Tag hineinzuleuchten, Hoffnung, daß keine Finsternis jemals die Lichter des
Himmels ganz verdunkeln wird.

Der Herr Apotheker, der jeden Morgen nach dem Frühstück in Schlafrock und
Pantoffeln die Runde durchs Haus machte, die schraubenförmige Mütze auf dem
Haupt, in der Hemd ein altes Salbentöpfchen, worin er unermüdlich den Seifen¬
schaum zum bevorstehenden Geschäft des Rasierens schlug, Pflegte auf diesem Gang
die geschäftlichen Befehle zu erteilen, die wir Orcirs an ^our nannten. Als an
einem der ersten Tage nach meiner Genesung die Vorfrühlingssonne eifrig beschäftigt
war, die grauen, alten Schneereste aus den Schatten der Mauern und Hecken
herauszuschmelzeu, und ein milder, hellblauer Tag heraufzuziehen persprach, ein Tag
für frisches, frohes Hinauswandern, trat er zu mir und sagte unter eifrigem Rühren
des Töpfchens i Fritz, es wird Ihnen vielleicht gut tun, die linde Luft zu genießen.
Ich schicke heute Nachmittag den Johann mit dem Wagen an die Eisenbahnstation,
um meine Nichte Luise aus Mannheim abzuholen. Sie könnten bei dieser Gelegenheit
in der dortigen Apotheke den Topf und Bilsenkrautextrakt abgeben, den der Kollege
neulich bestellt hat, und dann meine Nichte hierherbegleiten. Sie ist ein recht liebes
Mädchen. Ihr Vater ist so beschäftigt, daß er sie leider nicht selbst hierherbringen
kann. Er wird später kommen.

Ich war natürlich gleich bereit. Was konnte es Schöneres geben, als in diese
Luft hineinzufahren? Und außerdem war ich, seitdem ich das Krankenbett verlassen
hatte, bereit, zu tun, was man von mir forderte, denn ich fühlte eine unbestimmte
Pflicht der Abbitte und eine noch umfassendere, aber nicht schwächere Regung, dankbar
zu sein. Beide mochten mir Wohl anch den Mut verliehen haben, knabenhafte
Schüchternheit abzutun. Ich empfing am Wagenschlag des langsam unter das kleine
dunkle Stationsdach hereinrollenden Zuges das schlanke Mädchen, das reisefroh dein
engen Abteil entschlüpfte. Bald saßen wir in dem leichten Wägelchen nebeneinander
und überholten stolz den alten grünen Stellwagen, der mir Gelegenheit zu Er¬
zählungen gab, die meine Dame in Heiterkeit versetzten. Wie der ältere Bruder
dieses klappernden Fuhrwerks letzten Winter bei heftigem Winde auf offner Land¬
straße bis auf die Räder abgebrannt war, wobei die Passagiere kaum zwar nicht
ihr nacktes, aber doch ihr in Wintermäntel gehülltes Dasein retteten, so rasch hatte
ein unvorsichtig weggeworfnes Streichholz die dichte Strohlage des Bodens ent¬
zündet, schilderte ich mit lebhaften Farben und vergaß nicht den Haupteffekt, wie
der dicke Handelsjude Schlome, ein Stammgast dieses Fcchrzengs, noch dicker durch
seinen Pelzmantel, durch das enge Fenster mit Mühe herausgezogen worden war.
Auch daß im Winterschnee, wenn engsitzige Schlitten an die Stelle des Wagens
treten, die Post Passagiere verliert, die lautlos in den tiefen Schnee fallen, sodaß
der Postschaffner angeblich deren Abgang erst merkt, wenn er, am Ziel angekommen,
sie vermißt, worauf er zurückeilend sie im Schnee weiterschlnfend findet, und andre
Beiträge zur Mythologie des Postwagens trug ich meiner Zuhöreriu vor. Zweimal
müssen die Fuhrwerke auf unsrer Straße "Steigen" hinauffahren, und beide Höhen
krönt eine Waldparzelle; ich ging, so lange der Wagen im Schritt zu fahren hatte,
neben ihm her, und es war mir ein wohltuendes Gefühl, die Hand auf demselben
Polster ruhen zu lassen, in demi das junge Mädchen lehnte. Anemonen und Schlüssel¬
blumen ziehn dort unter den Buchen, die erst in Knospeu standen, an die Straße
heraus. Ich reichte die schönsten, die ich pflücken konnte, in den Wagen. Es ist nichts
besondres, wenn ein Menschenkind, "ut nun gar ein junges, sich an Frühlingsblumen
freut, die, so unvermittelt und unvermutet, wie sie aus der braunen Erde hervor¬
sprießen, doch so recht geschenkt sind. Wer wäre uicht dankbar, sie zu empfangen?


Herrschaft beginnt, wenn die Dämmerung alle andern Sterne auslöscht, und die
Sonne noch nicht emporgestiegen ist, liegt mir mehr als in der ganzen übrigen
Natur. Der Morgenstern, wie er einsam in der Vordämmerung steht, ist ein Tor
ins große Helle, ein Lichtmeer scheint herauszufließen, das dahinter glüht. Mut und
Hoffnung strahlen mich aus seiner milden Glut an, Mut, als Stern der Nacht in
den Tag hineinzuleuchten, Hoffnung, daß keine Finsternis jemals die Lichter des
Himmels ganz verdunkeln wird.

Der Herr Apotheker, der jeden Morgen nach dem Frühstück in Schlafrock und
Pantoffeln die Runde durchs Haus machte, die schraubenförmige Mütze auf dem
Haupt, in der Hemd ein altes Salbentöpfchen, worin er unermüdlich den Seifen¬
schaum zum bevorstehenden Geschäft des Rasierens schlug, Pflegte auf diesem Gang
die geschäftlichen Befehle zu erteilen, die wir Orcirs an ^our nannten. Als an
einem der ersten Tage nach meiner Genesung die Vorfrühlingssonne eifrig beschäftigt
war, die grauen, alten Schneereste aus den Schatten der Mauern und Hecken
herauszuschmelzeu, und ein milder, hellblauer Tag heraufzuziehen persprach, ein Tag
für frisches, frohes Hinauswandern, trat er zu mir und sagte unter eifrigem Rühren
des Töpfchens i Fritz, es wird Ihnen vielleicht gut tun, die linde Luft zu genießen.
Ich schicke heute Nachmittag den Johann mit dem Wagen an die Eisenbahnstation,
um meine Nichte Luise aus Mannheim abzuholen. Sie könnten bei dieser Gelegenheit
in der dortigen Apotheke den Topf und Bilsenkrautextrakt abgeben, den der Kollege
neulich bestellt hat, und dann meine Nichte hierherbegleiten. Sie ist ein recht liebes
Mädchen. Ihr Vater ist so beschäftigt, daß er sie leider nicht selbst hierherbringen
kann. Er wird später kommen.

Ich war natürlich gleich bereit. Was konnte es Schöneres geben, als in diese
Luft hineinzufahren? Und außerdem war ich, seitdem ich das Krankenbett verlassen
hatte, bereit, zu tun, was man von mir forderte, denn ich fühlte eine unbestimmte
Pflicht der Abbitte und eine noch umfassendere, aber nicht schwächere Regung, dankbar
zu sein. Beide mochten mir Wohl anch den Mut verliehen haben, knabenhafte
Schüchternheit abzutun. Ich empfing am Wagenschlag des langsam unter das kleine
dunkle Stationsdach hereinrollenden Zuges das schlanke Mädchen, das reisefroh dein
engen Abteil entschlüpfte. Bald saßen wir in dem leichten Wägelchen nebeneinander
und überholten stolz den alten grünen Stellwagen, der mir Gelegenheit zu Er¬
zählungen gab, die meine Dame in Heiterkeit versetzten. Wie der ältere Bruder
dieses klappernden Fuhrwerks letzten Winter bei heftigem Winde auf offner Land¬
straße bis auf die Räder abgebrannt war, wobei die Passagiere kaum zwar nicht
ihr nacktes, aber doch ihr in Wintermäntel gehülltes Dasein retteten, so rasch hatte
ein unvorsichtig weggeworfnes Streichholz die dichte Strohlage des Bodens ent¬
zündet, schilderte ich mit lebhaften Farben und vergaß nicht den Haupteffekt, wie
der dicke Handelsjude Schlome, ein Stammgast dieses Fcchrzengs, noch dicker durch
seinen Pelzmantel, durch das enge Fenster mit Mühe herausgezogen worden war.
Auch daß im Winterschnee, wenn engsitzige Schlitten an die Stelle des Wagens
treten, die Post Passagiere verliert, die lautlos in den tiefen Schnee fallen, sodaß
der Postschaffner angeblich deren Abgang erst merkt, wenn er, am Ziel angekommen,
sie vermißt, worauf er zurückeilend sie im Schnee weiterschlnfend findet, und andre
Beiträge zur Mythologie des Postwagens trug ich meiner Zuhöreriu vor. Zweimal
müssen die Fuhrwerke auf unsrer Straße „Steigen" hinauffahren, und beide Höhen
krönt eine Waldparzelle; ich ging, so lange der Wagen im Schritt zu fahren hatte,
neben ihm her, und es war mir ein wohltuendes Gefühl, die Hand auf demselben
Polster ruhen zu lassen, in demi das junge Mädchen lehnte. Anemonen und Schlüssel¬
blumen ziehn dort unter den Buchen, die erst in Knospeu standen, an die Straße
heraus. Ich reichte die schönsten, die ich pflücken konnte, in den Wagen. Es ist nichts
besondres, wenn ein Menschenkind, »ut nun gar ein junges, sich an Frühlingsblumen
freut, die, so unvermittelt und unvermutet, wie sie aus der braunen Erde hervor¬
sprießen, doch so recht geschenkt sind. Wer wäre uicht dankbar, sie zu empfangen?


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[0222] Herrschaft beginnt, wenn die Dämmerung alle andern Sterne auslöscht, und die Sonne noch nicht emporgestiegen ist, liegt mir mehr als in der ganzen übrigen Natur. Der Morgenstern, wie er einsam in der Vordämmerung steht, ist ein Tor ins große Helle, ein Lichtmeer scheint herauszufließen, das dahinter glüht. Mut und Hoffnung strahlen mich aus seiner milden Glut an, Mut, als Stern der Nacht in den Tag hineinzuleuchten, Hoffnung, daß keine Finsternis jemals die Lichter des Himmels ganz verdunkeln wird. Der Herr Apotheker, der jeden Morgen nach dem Frühstück in Schlafrock und Pantoffeln die Runde durchs Haus machte, die schraubenförmige Mütze auf dem Haupt, in der Hemd ein altes Salbentöpfchen, worin er unermüdlich den Seifen¬ schaum zum bevorstehenden Geschäft des Rasierens schlug, Pflegte auf diesem Gang die geschäftlichen Befehle zu erteilen, die wir Orcirs an ^our nannten. Als an einem der ersten Tage nach meiner Genesung die Vorfrühlingssonne eifrig beschäftigt war, die grauen, alten Schneereste aus den Schatten der Mauern und Hecken herauszuschmelzeu, und ein milder, hellblauer Tag heraufzuziehen persprach, ein Tag für frisches, frohes Hinauswandern, trat er zu mir und sagte unter eifrigem Rühren des Töpfchens i Fritz, es wird Ihnen vielleicht gut tun, die linde Luft zu genießen. Ich schicke heute Nachmittag den Johann mit dem Wagen an die Eisenbahnstation, um meine Nichte Luise aus Mannheim abzuholen. Sie könnten bei dieser Gelegenheit in der dortigen Apotheke den Topf und Bilsenkrautextrakt abgeben, den der Kollege neulich bestellt hat, und dann meine Nichte hierherbegleiten. Sie ist ein recht liebes Mädchen. Ihr Vater ist so beschäftigt, daß er sie leider nicht selbst hierherbringen kann. Er wird später kommen. Ich war natürlich gleich bereit. Was konnte es Schöneres geben, als in diese Luft hineinzufahren? Und außerdem war ich, seitdem ich das Krankenbett verlassen hatte, bereit, zu tun, was man von mir forderte, denn ich fühlte eine unbestimmte Pflicht der Abbitte und eine noch umfassendere, aber nicht schwächere Regung, dankbar zu sein. Beide mochten mir Wohl anch den Mut verliehen haben, knabenhafte Schüchternheit abzutun. Ich empfing am Wagenschlag des langsam unter das kleine dunkle Stationsdach hereinrollenden Zuges das schlanke Mädchen, das reisefroh dein engen Abteil entschlüpfte. Bald saßen wir in dem leichten Wägelchen nebeneinander und überholten stolz den alten grünen Stellwagen, der mir Gelegenheit zu Er¬ zählungen gab, die meine Dame in Heiterkeit versetzten. Wie der ältere Bruder dieses klappernden Fuhrwerks letzten Winter bei heftigem Winde auf offner Land¬ straße bis auf die Räder abgebrannt war, wobei die Passagiere kaum zwar nicht ihr nacktes, aber doch ihr in Wintermäntel gehülltes Dasein retteten, so rasch hatte ein unvorsichtig weggeworfnes Streichholz die dichte Strohlage des Bodens ent¬ zündet, schilderte ich mit lebhaften Farben und vergaß nicht den Haupteffekt, wie der dicke Handelsjude Schlome, ein Stammgast dieses Fcchrzengs, noch dicker durch seinen Pelzmantel, durch das enge Fenster mit Mühe herausgezogen worden war. Auch daß im Winterschnee, wenn engsitzige Schlitten an die Stelle des Wagens treten, die Post Passagiere verliert, die lautlos in den tiefen Schnee fallen, sodaß der Postschaffner angeblich deren Abgang erst merkt, wenn er, am Ziel angekommen, sie vermißt, worauf er zurückeilend sie im Schnee weiterschlnfend findet, und andre Beiträge zur Mythologie des Postwagens trug ich meiner Zuhöreriu vor. Zweimal müssen die Fuhrwerke auf unsrer Straße „Steigen" hinauffahren, und beide Höhen krönt eine Waldparzelle; ich ging, so lange der Wagen im Schritt zu fahren hatte, neben ihm her, und es war mir ein wohltuendes Gefühl, die Hand auf demselben Polster ruhen zu lassen, in demi das junge Mädchen lehnte. Anemonen und Schlüssel¬ blumen ziehn dort unter den Buchen, die erst in Knospeu standen, an die Straße heraus. Ich reichte die schönsten, die ich pflücken konnte, in den Wagen. Es ist nichts besondres, wenn ein Menschenkind, »ut nun gar ein junges, sich an Frühlingsblumen freut, die, so unvermittelt und unvermutet, wie sie aus der braunen Erde hervor¬ sprießen, doch so recht geschenkt sind. Wer wäre uicht dankbar, sie zu empfangen?

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Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_295218/222>, abgerufen am 23.07.2024.