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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr.

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Glücksinseln und Träume

oder sein Herz, und meinte, nach der Weise der Jugend, das Wort auf mich selbst
beziehen zu müssen. Ich las aber auch die herrlichen Frühlingsschilderuugen in
den "Feldblumen," die schönsten, die wir in deutscher Prosa haben, und lernte sehen
und tiefer empfinden, wenn ich mir jenen Jüngling zum Muster nahm, von dessen
Frühlingsbeobachtungen Stifter dort erzählt: "Heute ist weithin heiterer Himmel
mit tiefem Blau, die Sonne scheint durch mein geöffnetes Fenster; das draußen
schallende Leben klingt klarer herein, und ich höre das Rufen spielender Kinder;
gegen Süden stellen sich kleine Wolkenballen auf, die nur der Frühling so schön
färben kann; ein ferner Taubenflug läßt aus dem Blau zuzeiten weiße Schwenkungen
vortauchen, der Vorstadtturm wirft goldne Funken." Eine Schilderung wie diese
wirkt auf empfängliche Seelen unmittelbar bereichernd; sie regt an, in allem die
Poesie zu suchen, die nie fehlt, oder sie in alles zu legen, wo sie dann überall
Wurzeln schlägt. Besonders erinnere ich mich, daß mein Verhältnis zum Licht nun
ganz anders wurde. Es strömte mir, wo ich vorher dunkle Äste und Blatter und
dazwischen lichte Zwischenräume gesehen hatte, dnrch die schwarzen Gitter des Ast-
uud Zweigwerks wie glühendes Silber und rann an all den dunkeln Linien hin,
umsäumte wie ein zarter Flaum jede Kontur, troff von den Knospen und drang
in allen Abstufungen von Grün durch die Blätter, das Ganze ein Jneinander-
weben und -wogen von Körper und Licht, ein Schwimmen des Körperlichen in
einer Lichtflut. Ich sah aber auch mit nicht geringerer Freude dem Leben zu, das
der rauschende Regen in der Krone der alten Linde weckte, in die man gerade von
den obersten Fenstern unsers Hauses hineinschaute, ich staunte über das Mischen
von Grün und Silber und Wasserglanz, wenn der Regen hereinprasselte und die
Blätter sich hin und her warfen, als wüßten sie nicht, ob sie die Unterseite oder die
Oberseite vor der Flut schützen sollten, und konnte minutenlang dem ruhigern Erguß
zuschauen, wo sich Tropfen um Tropfen auf den Blättern sammelten, die sich wie
erleichtert aufrichteten, wenn wieder ein Tropfen von der Spitze abgeronnen war.
Und das gleichmäßige Rauschen eines sanften Regens in der Baumkrone war mir
ein süßer beruhigender Ton."

Möchte doch das Schicksal jedem erwachenden Jüngling die "Studien in die
Hände spielen, möchte jeder ältere Freund den jüngern auf diese reinen, reichen,
die Sinne für die außermenschliche Welt öffnenden, das Herz für Edles weckenden
Schilderungen und Geschichten hinleiten. Wir alle haben es beständig nötig, aus
unsern egoistischen Schranken, die wir uns kurzsichtigerweise immer wieder aufrichten,
herausgeführt zu werden, und zwar nicht in die ähnlich beschaffner Vorstellungs-
kreise und Empfindungsweisen andrer Einzelmenschen, sondern in die weite, reiche
Natur, die nichts von Leid und Lust der Menschen weiß und eben darum beiden
so wohltätig ist. Noch vor ein paar Wochen hatte ich in mein Tagebuch geschrieben:
Die Welt so schön, und ich so unglücklich! Und je schöner sie wird, desto breiter
klafft der Gegensatz zwischen der Herrlichkeit außen und der Armut innen. Mein
Inneres ist wie wund, jede Berührung schmerzt, ich spüre die Berührung des
Blumenduftes und des Sternenstrahls an dieser schwärenbedeckten Seele. -- Jetzt
machte ich einen überzeugten, dicken Strich durch und schrieb darunter: Dieses ich¬
süchtige Sichabwenden von der Natur ist auch ein Abfall von Gott. Ich nehme
mir vor, aus mir hinaus in die wunderbare Gotteswelt statt immer nur in mich
hineinzusehen. Und die unmittelbar folgenden Seiten desselben Tagebuches zeigen
mir den Fortschritt vom Sehen zum Beobachten und die Anfänge des Schauens
ins Innere der Dinge. Die Nacht war mir bisher nur Schutz gegen die harten,
scharfkantigen Dinge des lichten Tages gewesen, ich hatte sie als die Wohltäterin
gepriesen, die unmerklich die Fäden auflöst, die wir am Tage um uns und durch
die Welt hinspinnen, die unsre Seele lockert, frei macht, den Tranmgeistern Raum
gibt, sich zu regen und zu wandern. Nun lauteten die Ergüsse meiner innersten
Gefühle ganz anders: In diesem einzigen Lichtpunkt des Morgensterns, der kleinen
Sonne, die der großen vorfährt und vorleuchtet, des Dämmcrungssterns, dessen


Glücksinseln und Träume

oder sein Herz, und meinte, nach der Weise der Jugend, das Wort auf mich selbst
beziehen zu müssen. Ich las aber auch die herrlichen Frühlingsschilderuugen in
den „Feldblumen," die schönsten, die wir in deutscher Prosa haben, und lernte sehen
und tiefer empfinden, wenn ich mir jenen Jüngling zum Muster nahm, von dessen
Frühlingsbeobachtungen Stifter dort erzählt: „Heute ist weithin heiterer Himmel
mit tiefem Blau, die Sonne scheint durch mein geöffnetes Fenster; das draußen
schallende Leben klingt klarer herein, und ich höre das Rufen spielender Kinder;
gegen Süden stellen sich kleine Wolkenballen auf, die nur der Frühling so schön
färben kann; ein ferner Taubenflug läßt aus dem Blau zuzeiten weiße Schwenkungen
vortauchen, der Vorstadtturm wirft goldne Funken." Eine Schilderung wie diese
wirkt auf empfängliche Seelen unmittelbar bereichernd; sie regt an, in allem die
Poesie zu suchen, die nie fehlt, oder sie in alles zu legen, wo sie dann überall
Wurzeln schlägt. Besonders erinnere ich mich, daß mein Verhältnis zum Licht nun
ganz anders wurde. Es strömte mir, wo ich vorher dunkle Äste und Blatter und
dazwischen lichte Zwischenräume gesehen hatte, dnrch die schwarzen Gitter des Ast-
uud Zweigwerks wie glühendes Silber und rann an all den dunkeln Linien hin,
umsäumte wie ein zarter Flaum jede Kontur, troff von den Knospen und drang
in allen Abstufungen von Grün durch die Blätter, das Ganze ein Jneinander-
weben und -wogen von Körper und Licht, ein Schwimmen des Körperlichen in
einer Lichtflut. Ich sah aber auch mit nicht geringerer Freude dem Leben zu, das
der rauschende Regen in der Krone der alten Linde weckte, in die man gerade von
den obersten Fenstern unsers Hauses hineinschaute, ich staunte über das Mischen
von Grün und Silber und Wasserglanz, wenn der Regen hereinprasselte und die
Blätter sich hin und her warfen, als wüßten sie nicht, ob sie die Unterseite oder die
Oberseite vor der Flut schützen sollten, und konnte minutenlang dem ruhigern Erguß
zuschauen, wo sich Tropfen um Tropfen auf den Blättern sammelten, die sich wie
erleichtert aufrichteten, wenn wieder ein Tropfen von der Spitze abgeronnen war.
Und das gleichmäßige Rauschen eines sanften Regens in der Baumkrone war mir
ein süßer beruhigender Ton."

Möchte doch das Schicksal jedem erwachenden Jüngling die „Studien in die
Hände spielen, möchte jeder ältere Freund den jüngern auf diese reinen, reichen,
die Sinne für die außermenschliche Welt öffnenden, das Herz für Edles weckenden
Schilderungen und Geschichten hinleiten. Wir alle haben es beständig nötig, aus
unsern egoistischen Schranken, die wir uns kurzsichtigerweise immer wieder aufrichten,
herausgeführt zu werden, und zwar nicht in die ähnlich beschaffner Vorstellungs-
kreise und Empfindungsweisen andrer Einzelmenschen, sondern in die weite, reiche
Natur, die nichts von Leid und Lust der Menschen weiß und eben darum beiden
so wohltätig ist. Noch vor ein paar Wochen hatte ich in mein Tagebuch geschrieben:
Die Welt so schön, und ich so unglücklich! Und je schöner sie wird, desto breiter
klafft der Gegensatz zwischen der Herrlichkeit außen und der Armut innen. Mein
Inneres ist wie wund, jede Berührung schmerzt, ich spüre die Berührung des
Blumenduftes und des Sternenstrahls an dieser schwärenbedeckten Seele. — Jetzt
machte ich einen überzeugten, dicken Strich durch und schrieb darunter: Dieses ich¬
süchtige Sichabwenden von der Natur ist auch ein Abfall von Gott. Ich nehme
mir vor, aus mir hinaus in die wunderbare Gotteswelt statt immer nur in mich
hineinzusehen. Und die unmittelbar folgenden Seiten desselben Tagebuches zeigen
mir den Fortschritt vom Sehen zum Beobachten und die Anfänge des Schauens
ins Innere der Dinge. Die Nacht war mir bisher nur Schutz gegen die harten,
scharfkantigen Dinge des lichten Tages gewesen, ich hatte sie als die Wohltäterin
gepriesen, die unmerklich die Fäden auflöst, die wir am Tage um uns und durch
die Welt hinspinnen, die unsre Seele lockert, frei macht, den Tranmgeistern Raum
gibt, sich zu regen und zu wandern. Nun lauteten die Ergüsse meiner innersten
Gefühle ganz anders: In diesem einzigen Lichtpunkt des Morgensterns, der kleinen
Sonne, die der großen vorfährt und vorleuchtet, des Dämmcrungssterns, dessen


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[0221] Glücksinseln und Träume oder sein Herz, und meinte, nach der Weise der Jugend, das Wort auf mich selbst beziehen zu müssen. Ich las aber auch die herrlichen Frühlingsschilderuugen in den „Feldblumen," die schönsten, die wir in deutscher Prosa haben, und lernte sehen und tiefer empfinden, wenn ich mir jenen Jüngling zum Muster nahm, von dessen Frühlingsbeobachtungen Stifter dort erzählt: „Heute ist weithin heiterer Himmel mit tiefem Blau, die Sonne scheint durch mein geöffnetes Fenster; das draußen schallende Leben klingt klarer herein, und ich höre das Rufen spielender Kinder; gegen Süden stellen sich kleine Wolkenballen auf, die nur der Frühling so schön färben kann; ein ferner Taubenflug läßt aus dem Blau zuzeiten weiße Schwenkungen vortauchen, der Vorstadtturm wirft goldne Funken." Eine Schilderung wie diese wirkt auf empfängliche Seelen unmittelbar bereichernd; sie regt an, in allem die Poesie zu suchen, die nie fehlt, oder sie in alles zu legen, wo sie dann überall Wurzeln schlägt. Besonders erinnere ich mich, daß mein Verhältnis zum Licht nun ganz anders wurde. Es strömte mir, wo ich vorher dunkle Äste und Blatter und dazwischen lichte Zwischenräume gesehen hatte, dnrch die schwarzen Gitter des Ast- uud Zweigwerks wie glühendes Silber und rann an all den dunkeln Linien hin, umsäumte wie ein zarter Flaum jede Kontur, troff von den Knospen und drang in allen Abstufungen von Grün durch die Blätter, das Ganze ein Jneinander- weben und -wogen von Körper und Licht, ein Schwimmen des Körperlichen in einer Lichtflut. Ich sah aber auch mit nicht geringerer Freude dem Leben zu, das der rauschende Regen in der Krone der alten Linde weckte, in die man gerade von den obersten Fenstern unsers Hauses hineinschaute, ich staunte über das Mischen von Grün und Silber und Wasserglanz, wenn der Regen hereinprasselte und die Blätter sich hin und her warfen, als wüßten sie nicht, ob sie die Unterseite oder die Oberseite vor der Flut schützen sollten, und konnte minutenlang dem ruhigern Erguß zuschauen, wo sich Tropfen um Tropfen auf den Blättern sammelten, die sich wie erleichtert aufrichteten, wenn wieder ein Tropfen von der Spitze abgeronnen war. Und das gleichmäßige Rauschen eines sanften Regens in der Baumkrone war mir ein süßer beruhigender Ton." Möchte doch das Schicksal jedem erwachenden Jüngling die „Studien in die Hände spielen, möchte jeder ältere Freund den jüngern auf diese reinen, reichen, die Sinne für die außermenschliche Welt öffnenden, das Herz für Edles weckenden Schilderungen und Geschichten hinleiten. Wir alle haben es beständig nötig, aus unsern egoistischen Schranken, die wir uns kurzsichtigerweise immer wieder aufrichten, herausgeführt zu werden, und zwar nicht in die ähnlich beschaffner Vorstellungs- kreise und Empfindungsweisen andrer Einzelmenschen, sondern in die weite, reiche Natur, die nichts von Leid und Lust der Menschen weiß und eben darum beiden so wohltätig ist. Noch vor ein paar Wochen hatte ich in mein Tagebuch geschrieben: Die Welt so schön, und ich so unglücklich! Und je schöner sie wird, desto breiter klafft der Gegensatz zwischen der Herrlichkeit außen und der Armut innen. Mein Inneres ist wie wund, jede Berührung schmerzt, ich spüre die Berührung des Blumenduftes und des Sternenstrahls an dieser schwärenbedeckten Seele. — Jetzt machte ich einen überzeugten, dicken Strich durch und schrieb darunter: Dieses ich¬ süchtige Sichabwenden von der Natur ist auch ein Abfall von Gott. Ich nehme mir vor, aus mir hinaus in die wunderbare Gotteswelt statt immer nur in mich hineinzusehen. Und die unmittelbar folgenden Seiten desselben Tagebuches zeigen mir den Fortschritt vom Sehen zum Beobachten und die Anfänge des Schauens ins Innere der Dinge. Die Nacht war mir bisher nur Schutz gegen die harten, scharfkantigen Dinge des lichten Tages gewesen, ich hatte sie als die Wohltäterin gepriesen, die unmerklich die Fäden auflöst, die wir am Tage um uns und durch die Welt hinspinnen, die unsre Seele lockert, frei macht, den Tranmgeistern Raum gibt, sich zu regen und zu wandern. Nun lauteten die Ergüsse meiner innersten Gefühle ganz anders: In diesem einzigen Lichtpunkt des Morgensterns, der kleinen Sonne, die der großen vorfährt und vorleuchtet, des Dämmcrungssterns, dessen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_295218/221>, abgerufen am 23.07.2024.