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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr.

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Glücksinseln und Träume

die blauen Wellenlinien darauf schlängelten sich ins Unendliche hinaus und brachen
endlich nackt wie Drähte in der Luft ab, ich kam mir wie in einem Schornstein vor,
der oben nicht ganz fertig ist; und richtig, nun schauten auch von ganz weit oben
her die Sterne herein, von denen ich gelesen hatte, daß man sie bet Tage durch
eiuen Schornstein erblicke. Je höher das Zimmer wurde, desto langsamer ging es
mit dem Quarkkuchen. Diese Vision schnürte mein ganzes Ich und damit natürlich
auch meine Kehle zusammen. War es ein Wunder, daß mir Plötzlich zwei heiße Tränen
über die Wangen liefen, da ich fühlte, wie ich immer länger und schmäler wurde?
Es legte sich mir jetzt auch eine sonderbare Schwere auf die Brust und den Leib,
und ich dachte: So mag es einem nassen Handtuche sein, das von den kräftigen
Händen einer Waschfrau ausgewunden wird. Da meine Wangen jugendlich ge¬
wölbt waren, flössen die Tränen mit starkem Gefall ab, sie fanden zum Glück keine
Höhlungen, wo sie verweilen, und keine Bartstoppeln, an denen sie Tautropfen
spielen konnten; es gelang mir, sie mit dem Restchen Kuchen, das ich gerade in
der Hand trug, aufzuhalten, und dieser letzte Bissen, seltsam zu sagen, schmeckte
mir besser als die andern. Das hing wahrscheinlich damit zusammen, daß mir
gerade eben die Erinnerung an einen Satz kam, den ich irgendwo in einem
Heldenbuche gelesen hatte: er verbiß den Schmerz, schluckte die Tränen hinunter
und nahm sich vor, den Kampf mit dem Leben mutig aufzunehmen. Dem wollte
ich nachleben, und zunächst gelang mir der erste Schritt: das Salz meiner Trauer
wohlschmeckend zu finden.

Ich stand an einen eisernen Ofen gelehnt, der an dem warmen Herbsttag
eine wohltuende Kühle abgab und kräftig nach altem Rauche roch. Beides empfand
ich als Stärkung meines Entschlusses. In der andern Ecke des niedern grauen
Zimmers saßen auf dem Ledersofa meine Eltern, und ihnen gegenüber ein älterer
Mann mit schraubenförmiger Hausmütze auf den silbergrauen Löckchen, und eine alte
Dame, in deren Gesicht mir mir die drei Erhebungen der Backenknochen und der
Nase auffielen, die fast in einer Linie lagen. Es schien mir eine erwünschte Ab¬
lenkung von der unersprießlicher Vertiefung in die Züge dieser Dame zu sein, ihr
Gesicht als Landkarte aufzufassen, aus der der Hohentwiel, der Hohenstoffel und
der Hohenhöwen als drei markante Erhebungen herauswuchsen, während der ziem¬
lich breite Mund mit einem Zahn, den man Mairan oder Reichenau nennen
konnte, den Bodensee vertrat. Diese vier Leute waren offenbar in großer Ver¬
legenheit. Die lieben faltigen Züge meiner Mutter schimmerten von Tränen, mein
Vater schaute ernst, fast grimmig drein, noch ernster, wenn sein Blick auf mich fiel,
während meiner Mutter, wenn sie mich anschaute, eine solche Mischung von Heiter¬
seinwollen und hilflosen Schmerz im Gesicht stand, wie ich nie etwas gesehen hatte.
Beide hatten noch ihr erstes Stück Kuchen auf dem Teller, meine Mutter hatte
noch nicht ihr Glas des zweifelhaft gelblichrötlichen Weins angerührt, den man in
jener Gegend Schleier nennt. Diesen beiden Menschen war es offenbar geradeso
unbehaglich zumute wie mir selbst. Vergeblich wollte mich der realistische Gnon,
der alles sehende Portier am Tor meiner Seele, darüber täuschen, der mich hieß,
doch die Zusammensetzung der schraubenförmigen Hausmütze des alten Herrn aus
keilförmigen gelben und grauen Tuchflecken näher zu erwägen. Ich versuchte es,
aber die Augen flimmerten, und der lang zurückgehaltne Druck auf der Brust
machte sich in einem lauten Seufzer Luft, dem neue Tränen folgten.

Fritz, gehn Sie einmal hinüber in die Apotheke, schaun Sie sich um, es ist
ganz interessant, hörte ich eine Stimme aus der Tiefe des Bodensees. Ich folgte
der Aufforderung, doch zögernd, nicht aus guomischem Zweifel an der Jnteressant-
heit dieser Umwelt, sondern weil ich deutlich fühlte, es halte mich ein Band an
die alte Frau, die dort weinend in die Sofaecke zusammengesunken war; es mußte
reißen, wenn sich die Tür zwischen uns schloß. Ich hatte die Hand auf der Tür¬
klinke, da ließ das Band sich nicht weiter dehnen, ich fühlte, daß es in diesem
Augenblick kein höheres Glück für mich gab, als meine Tränen mit denen meines


Glücksinseln und Träume

die blauen Wellenlinien darauf schlängelten sich ins Unendliche hinaus und brachen
endlich nackt wie Drähte in der Luft ab, ich kam mir wie in einem Schornstein vor,
der oben nicht ganz fertig ist; und richtig, nun schauten auch von ganz weit oben
her die Sterne herein, von denen ich gelesen hatte, daß man sie bet Tage durch
eiuen Schornstein erblicke. Je höher das Zimmer wurde, desto langsamer ging es
mit dem Quarkkuchen. Diese Vision schnürte mein ganzes Ich und damit natürlich
auch meine Kehle zusammen. War es ein Wunder, daß mir Plötzlich zwei heiße Tränen
über die Wangen liefen, da ich fühlte, wie ich immer länger und schmäler wurde?
Es legte sich mir jetzt auch eine sonderbare Schwere auf die Brust und den Leib,
und ich dachte: So mag es einem nassen Handtuche sein, das von den kräftigen
Händen einer Waschfrau ausgewunden wird. Da meine Wangen jugendlich ge¬
wölbt waren, flössen die Tränen mit starkem Gefall ab, sie fanden zum Glück keine
Höhlungen, wo sie verweilen, und keine Bartstoppeln, an denen sie Tautropfen
spielen konnten; es gelang mir, sie mit dem Restchen Kuchen, das ich gerade in
der Hand trug, aufzuhalten, und dieser letzte Bissen, seltsam zu sagen, schmeckte
mir besser als die andern. Das hing wahrscheinlich damit zusammen, daß mir
gerade eben die Erinnerung an einen Satz kam, den ich irgendwo in einem
Heldenbuche gelesen hatte: er verbiß den Schmerz, schluckte die Tränen hinunter
und nahm sich vor, den Kampf mit dem Leben mutig aufzunehmen. Dem wollte
ich nachleben, und zunächst gelang mir der erste Schritt: das Salz meiner Trauer
wohlschmeckend zu finden.

Ich stand an einen eisernen Ofen gelehnt, der an dem warmen Herbsttag
eine wohltuende Kühle abgab und kräftig nach altem Rauche roch. Beides empfand
ich als Stärkung meines Entschlusses. In der andern Ecke des niedern grauen
Zimmers saßen auf dem Ledersofa meine Eltern, und ihnen gegenüber ein älterer
Mann mit schraubenförmiger Hausmütze auf den silbergrauen Löckchen, und eine alte
Dame, in deren Gesicht mir mir die drei Erhebungen der Backenknochen und der
Nase auffielen, die fast in einer Linie lagen. Es schien mir eine erwünschte Ab¬
lenkung von der unersprießlicher Vertiefung in die Züge dieser Dame zu sein, ihr
Gesicht als Landkarte aufzufassen, aus der der Hohentwiel, der Hohenstoffel und
der Hohenhöwen als drei markante Erhebungen herauswuchsen, während der ziem¬
lich breite Mund mit einem Zahn, den man Mairan oder Reichenau nennen
konnte, den Bodensee vertrat. Diese vier Leute waren offenbar in großer Ver¬
legenheit. Die lieben faltigen Züge meiner Mutter schimmerten von Tränen, mein
Vater schaute ernst, fast grimmig drein, noch ernster, wenn sein Blick auf mich fiel,
während meiner Mutter, wenn sie mich anschaute, eine solche Mischung von Heiter¬
seinwollen und hilflosen Schmerz im Gesicht stand, wie ich nie etwas gesehen hatte.
Beide hatten noch ihr erstes Stück Kuchen auf dem Teller, meine Mutter hatte
noch nicht ihr Glas des zweifelhaft gelblichrötlichen Weins angerührt, den man in
jener Gegend Schleier nennt. Diesen beiden Menschen war es offenbar geradeso
unbehaglich zumute wie mir selbst. Vergeblich wollte mich der realistische Gnon,
der alles sehende Portier am Tor meiner Seele, darüber täuschen, der mich hieß,
doch die Zusammensetzung der schraubenförmigen Hausmütze des alten Herrn aus
keilförmigen gelben und grauen Tuchflecken näher zu erwägen. Ich versuchte es,
aber die Augen flimmerten, und der lang zurückgehaltne Druck auf der Brust
machte sich in einem lauten Seufzer Luft, dem neue Tränen folgten.

Fritz, gehn Sie einmal hinüber in die Apotheke, schaun Sie sich um, es ist
ganz interessant, hörte ich eine Stimme aus der Tiefe des Bodensees. Ich folgte
der Aufforderung, doch zögernd, nicht aus guomischem Zweifel an der Jnteressant-
heit dieser Umwelt, sondern weil ich deutlich fühlte, es halte mich ein Band an
die alte Frau, die dort weinend in die Sofaecke zusammengesunken war; es mußte
reißen, wenn sich die Tür zwischen uns schloß. Ich hatte die Hand auf der Tür¬
klinke, da ließ das Band sich nicht weiter dehnen, ich fühlte, daß es in diesem
Augenblick kein höheres Glück für mich gab, als meine Tränen mit denen meines


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_295218/160>, abgerufen am 29.06.2024.