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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr.

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Glücksinsoln und Träume

willkürlich, wie die wirklichen Sterne mis der Tiefe des Weltalls, leuchten uns
jene von Stellen an, die uns früher fast dunkel erschienen waren.

Daß es eine Natur gibt, die schöner ist als eine andre, habe ich erst spät
eingesehen. Unsre Gegend hatte gar nichts voraus, aber ihre Natur sprach zu
uns in ihrer lebendigen Sprache, die das Kind so gut wie der Greis versteht.
Meine Bewundrung galt ganz gleich den Sternen am Himmel und den Blumen und
Blümchen an der Erde. Der Wald, der uns auf drei Seiten der Stadt leicht
erreichbar lag, war zwar ein beliebter Spielplatz, wurde aber weiter nicht bewundert.
Dagegen machten die Getreidefelder, durch die so stille schmale Sand- und Gras¬
pfade zogen, einen tiefen Eindruck ans mein Gemüt, deren Grund das früh ein¬
geprägte Dankesgefühl gegen den Geber des täglichen Brotes gewesen sein mag. Ich
ging schon als Knabe, dem die Ähren um die Nase schwankten, mit Vorliebe durch
ihr Silbergrau, wenn sie blühten und so eigentümlich dufteten, und durch ihr Gold,
dessen bräunlicher Ton der Gipfel alles Reifens zu sei" schien. Und die Korn¬
blumen, Wicken und stolzen Kornraden standen nicht wie Unkraut in dem Felde,
sondern wie Blumen in einem Garten. Leider entstellten wir zu jener Zeit die
Poesie der Getreidefelder hartnäckig durch das Kauen der halbreifen Weizenkörner,
die man tagelang im Munde umherwarf, bis ein kleines Klümpchen Kleber übrig
war, aus dein durch geschicktes Kneten Luftbläschen mit Knall auftraten. Dieses
"Kuallgummikanen" wurde auch in den Schulstunden fortgesetzt, weil und wiewohl
es, mit Recht, schwer verpönt war.

Der Wald reichte hart bis an meine Vaterstadt, deren Nordseite halbkreis¬
förmig in ihn hineingebaut ist. In ihm standen wundervolle alte Eichen, und weite,
dichte Föhrenschläge, in deren Dickicht man die Welt vergessen konnte, wurden Von
schlanken, rotberindeten Föhren überragt. Zu meinen ältesten und reinsten Natur-
eindrttcken gehört ein Sonnenuntergang hinter diesen Föhren, an deren Rinde das
Licht Wie glühendes rotes Gold niederrnnn. Seltsamerweise fiel im Walde die
Furcht vor Gespenstern ganz dahin. Die Waldgeister waren mir willkommen.
Wie erweiterte sich mir die Brust, wenn ich das Helldunkel und den Reichtum
des durch die Äste schimmernden Himmelsblaus mit keinem Menschen teilte. Es
war ein freundschaftliches Vertraue", das mich mit dem Walde zusammenband.
Bot er doch der "nestmachenden" Phantasie des Jugendalters tausend Kammern
und Winkel!

Bitt zwölf Jahren lernte ich schwimmen; mein Verhältnis zum Wasser wurde
dadurch ganz neu, denn wenn ich in das klare Naß tauchte, fühlte ich, wie mein
Inneres klarer und reiner wurde, und mit den Augen wusch ich die Seele, die
nun freier in die Welt schaute. Sonst hatten wir Knaben ganze Nachmittage am
Wasser und im Wasser verbracht, uns mit dem Schlamm der Flußufer überzogen,
bis wir Indianern glichen, dann in den warmen Sand der Abhänge eingegrnben
und die ganze Kruste untertauchend wieder abgewnschen. Jetzt suchte ich stille
Stellen auf, und wenn ich gebadet hatte, wanderte ich wie ein neuer Mensch durch
die wogenden Getreidefelder heimwärts und schaute zu, wie an dem gelblichen
Westhimmel die Sonne schneller sank.

Zum Glück haben Kinder noch keine hohe Meinung vom Wert ihres Lebens,
sonst würde die Sorgfalt, mit der ihre Eltern es umhegen, ihrer Eitelkeit schmeicheln.
Ich bin zweimal hart am Ertrinken gewesen, doch wurde mir gegenüber kein Fall
daraus gemacht, und die nähern Umstände sind mir deshalb auch uicht bekannt.
Nur erinnere ich mich gehört zu haben, daß ich einmal ganz still einen Sand¬
abhang am Rhein hinabgeglitten und versunken sei. Daß Kinder so lautlos ver¬
schwinden, ist eine große Gefahr. Ich bin selbst Zeuge gewesen, wie eine Frau
über den Mühlsteg ging, hinter ihr ihr Mädchen von fünf Jahren; sie hört die
vertrauten Kindesschrittchen nicht mehr, sieht sich um, und nur das Kopftüchlein des
Kindes schwamm im Bach, das Kind war schon tief unten und kam nicht lebend
wieder.


Glücksinsoln und Träume

willkürlich, wie die wirklichen Sterne mis der Tiefe des Weltalls, leuchten uns
jene von Stellen an, die uns früher fast dunkel erschienen waren.

Daß es eine Natur gibt, die schöner ist als eine andre, habe ich erst spät
eingesehen. Unsre Gegend hatte gar nichts voraus, aber ihre Natur sprach zu
uns in ihrer lebendigen Sprache, die das Kind so gut wie der Greis versteht.
Meine Bewundrung galt ganz gleich den Sternen am Himmel und den Blumen und
Blümchen an der Erde. Der Wald, der uns auf drei Seiten der Stadt leicht
erreichbar lag, war zwar ein beliebter Spielplatz, wurde aber weiter nicht bewundert.
Dagegen machten die Getreidefelder, durch die so stille schmale Sand- und Gras¬
pfade zogen, einen tiefen Eindruck ans mein Gemüt, deren Grund das früh ein¬
geprägte Dankesgefühl gegen den Geber des täglichen Brotes gewesen sein mag. Ich
ging schon als Knabe, dem die Ähren um die Nase schwankten, mit Vorliebe durch
ihr Silbergrau, wenn sie blühten und so eigentümlich dufteten, und durch ihr Gold,
dessen bräunlicher Ton der Gipfel alles Reifens zu sei» schien. Und die Korn¬
blumen, Wicken und stolzen Kornraden standen nicht wie Unkraut in dem Felde,
sondern wie Blumen in einem Garten. Leider entstellten wir zu jener Zeit die
Poesie der Getreidefelder hartnäckig durch das Kauen der halbreifen Weizenkörner,
die man tagelang im Munde umherwarf, bis ein kleines Klümpchen Kleber übrig
war, aus dein durch geschicktes Kneten Luftbläschen mit Knall auftraten. Dieses
„Kuallgummikanen" wurde auch in den Schulstunden fortgesetzt, weil und wiewohl
es, mit Recht, schwer verpönt war.

Der Wald reichte hart bis an meine Vaterstadt, deren Nordseite halbkreis¬
förmig in ihn hineingebaut ist. In ihm standen wundervolle alte Eichen, und weite,
dichte Föhrenschläge, in deren Dickicht man die Welt vergessen konnte, wurden Von
schlanken, rotberindeten Föhren überragt. Zu meinen ältesten und reinsten Natur-
eindrttcken gehört ein Sonnenuntergang hinter diesen Föhren, an deren Rinde das
Licht Wie glühendes rotes Gold niederrnnn. Seltsamerweise fiel im Walde die
Furcht vor Gespenstern ganz dahin. Die Waldgeister waren mir willkommen.
Wie erweiterte sich mir die Brust, wenn ich das Helldunkel und den Reichtum
des durch die Äste schimmernden Himmelsblaus mit keinem Menschen teilte. Es
war ein freundschaftliches Vertraue», das mich mit dem Walde zusammenband.
Bot er doch der „nestmachenden" Phantasie des Jugendalters tausend Kammern
und Winkel!

Bitt zwölf Jahren lernte ich schwimmen; mein Verhältnis zum Wasser wurde
dadurch ganz neu, denn wenn ich in das klare Naß tauchte, fühlte ich, wie mein
Inneres klarer und reiner wurde, und mit den Augen wusch ich die Seele, die
nun freier in die Welt schaute. Sonst hatten wir Knaben ganze Nachmittage am
Wasser und im Wasser verbracht, uns mit dem Schlamm der Flußufer überzogen,
bis wir Indianern glichen, dann in den warmen Sand der Abhänge eingegrnben
und die ganze Kruste untertauchend wieder abgewnschen. Jetzt suchte ich stille
Stellen auf, und wenn ich gebadet hatte, wanderte ich wie ein neuer Mensch durch
die wogenden Getreidefelder heimwärts und schaute zu, wie an dem gelblichen
Westhimmel die Sonne schneller sank.

Zum Glück haben Kinder noch keine hohe Meinung vom Wert ihres Lebens,
sonst würde die Sorgfalt, mit der ihre Eltern es umhegen, ihrer Eitelkeit schmeicheln.
Ich bin zweimal hart am Ertrinken gewesen, doch wurde mir gegenüber kein Fall
daraus gemacht, und die nähern Umstände sind mir deshalb auch uicht bekannt.
Nur erinnere ich mich gehört zu haben, daß ich einmal ganz still einen Sand¬
abhang am Rhein hinabgeglitten und versunken sei. Daß Kinder so lautlos ver¬
schwinden, ist eine große Gefahr. Ich bin selbst Zeuge gewesen, wie eine Frau
über den Mühlsteg ging, hinter ihr ihr Mädchen von fünf Jahren; sie hört die
vertrauten Kindesschrittchen nicht mehr, sieht sich um, und nur das Kopftüchlein des
Kindes schwamm im Bach, das Kind war schon tief unten und kam nicht lebend
wieder.


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[0106] Glücksinsoln und Träume willkürlich, wie die wirklichen Sterne mis der Tiefe des Weltalls, leuchten uns jene von Stellen an, die uns früher fast dunkel erschienen waren. Daß es eine Natur gibt, die schöner ist als eine andre, habe ich erst spät eingesehen. Unsre Gegend hatte gar nichts voraus, aber ihre Natur sprach zu uns in ihrer lebendigen Sprache, die das Kind so gut wie der Greis versteht. Meine Bewundrung galt ganz gleich den Sternen am Himmel und den Blumen und Blümchen an der Erde. Der Wald, der uns auf drei Seiten der Stadt leicht erreichbar lag, war zwar ein beliebter Spielplatz, wurde aber weiter nicht bewundert. Dagegen machten die Getreidefelder, durch die so stille schmale Sand- und Gras¬ pfade zogen, einen tiefen Eindruck ans mein Gemüt, deren Grund das früh ein¬ geprägte Dankesgefühl gegen den Geber des täglichen Brotes gewesen sein mag. Ich ging schon als Knabe, dem die Ähren um die Nase schwankten, mit Vorliebe durch ihr Silbergrau, wenn sie blühten und so eigentümlich dufteten, und durch ihr Gold, dessen bräunlicher Ton der Gipfel alles Reifens zu sei» schien. Und die Korn¬ blumen, Wicken und stolzen Kornraden standen nicht wie Unkraut in dem Felde, sondern wie Blumen in einem Garten. Leider entstellten wir zu jener Zeit die Poesie der Getreidefelder hartnäckig durch das Kauen der halbreifen Weizenkörner, die man tagelang im Munde umherwarf, bis ein kleines Klümpchen Kleber übrig war, aus dein durch geschicktes Kneten Luftbläschen mit Knall auftraten. Dieses „Kuallgummikanen" wurde auch in den Schulstunden fortgesetzt, weil und wiewohl es, mit Recht, schwer verpönt war. Der Wald reichte hart bis an meine Vaterstadt, deren Nordseite halbkreis¬ förmig in ihn hineingebaut ist. In ihm standen wundervolle alte Eichen, und weite, dichte Föhrenschläge, in deren Dickicht man die Welt vergessen konnte, wurden Von schlanken, rotberindeten Föhren überragt. Zu meinen ältesten und reinsten Natur- eindrttcken gehört ein Sonnenuntergang hinter diesen Föhren, an deren Rinde das Licht Wie glühendes rotes Gold niederrnnn. Seltsamerweise fiel im Walde die Furcht vor Gespenstern ganz dahin. Die Waldgeister waren mir willkommen. Wie erweiterte sich mir die Brust, wenn ich das Helldunkel und den Reichtum des durch die Äste schimmernden Himmelsblaus mit keinem Menschen teilte. Es war ein freundschaftliches Vertraue», das mich mit dem Walde zusammenband. Bot er doch der „nestmachenden" Phantasie des Jugendalters tausend Kammern und Winkel! Bitt zwölf Jahren lernte ich schwimmen; mein Verhältnis zum Wasser wurde dadurch ganz neu, denn wenn ich in das klare Naß tauchte, fühlte ich, wie mein Inneres klarer und reiner wurde, und mit den Augen wusch ich die Seele, die nun freier in die Welt schaute. Sonst hatten wir Knaben ganze Nachmittage am Wasser und im Wasser verbracht, uns mit dem Schlamm der Flußufer überzogen, bis wir Indianern glichen, dann in den warmen Sand der Abhänge eingegrnben und die ganze Kruste untertauchend wieder abgewnschen. Jetzt suchte ich stille Stellen auf, und wenn ich gebadet hatte, wanderte ich wie ein neuer Mensch durch die wogenden Getreidefelder heimwärts und schaute zu, wie an dem gelblichen Westhimmel die Sonne schneller sank. Zum Glück haben Kinder noch keine hohe Meinung vom Wert ihres Lebens, sonst würde die Sorgfalt, mit der ihre Eltern es umhegen, ihrer Eitelkeit schmeicheln. Ich bin zweimal hart am Ertrinken gewesen, doch wurde mir gegenüber kein Fall daraus gemacht, und die nähern Umstände sind mir deshalb auch uicht bekannt. Nur erinnere ich mich gehört zu haben, daß ich einmal ganz still einen Sand¬ abhang am Rhein hinabgeglitten und versunken sei. Daß Kinder so lautlos ver¬ schwinden, ist eine große Gefahr. Ich bin selbst Zeuge gewesen, wie eine Frau über den Mühlsteg ging, hinter ihr ihr Mädchen von fünf Jahren; sie hört die vertrauten Kindesschrittchen nicht mehr, sieht sich um, und nur das Kopftüchlein des Kindes schwamm im Bach, das Kind war schon tief unten und kam nicht lebend wieder.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_295218/106>, abgerufen am 18.06.2024.