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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Geschichte der schweizerischen Arbeiterbewegung sehen wir, daß die Wendung der
Politik, die bei uns in Deutschland erst in den sechziger Jahren unter dem Ein¬
druck der Agitation Lassalles eingetreten ist, in der Schweiz schon vor 1848 erfolgt
war: die Agitation des durchaus nicht kommunistischen Arbeiterfreundes Treichler
machte damals die Liberalen noch konservativer, als die Konservativen waren. Der
sozialpolitische Teil des Werkes ist sehr reich ausgestattet, und die Verfasser der
einschlagenden Artikel gehören nicht zu den bekehrten Liberalen. In dem Artikel
Anarchismus werden die "Gewalt und Schlechtigkeit von oben," die Unterdrückung
der rechtmäßigen Bestrebungen der Arbeiter, die Verfolgung der Soztalisten in
Rußland, Deutschland und Österreich, die Polizeispitzelei für die anarchistischen Aus¬
schreitungen verantwortlich gemacht. Doch schließt der Artikel "Asylrecht" mit dem
Satze: "Nicht der politische Flüchtling im engern Sinne, sondern der Anarchist
begehrt heute Asyl. Häufig ist der Anarchist ein Asyl suchender Verbrecher; aber
gerade das von ihm begangne oder beabsichtigte Verbrechen rechtfertigt eine Asyl¬
gewährung nicht: anarchistische Verbrecher dürfen nicht als politische Verbrecher
anerkannt werden." Die gesetzlichen und die Verfassungsbestimmungen, nach denen
zurzeit das Asylrecht ausgeübt wird, und die natürlich hier mitgeteilt werden,
dürften den meisten deutschen Lesern bisher unbekannt gewesen sein.

Sehr schöne Aufschlüsse gibt eine Sammlung von Studien, die Theo Soin-
merlad, Privatdozent an der Universität Halle, veröffentlicht unter dem Titel:
Das Wirtschaftsprogramm der Kirche des Mittelalters. Die beiden ersten
Hefte (Leipzig. I. I. Weber) behandeln noch nicht die mittelalterlichen Zustände
selbst, sondern zeigen nur, wie die mittelalterlichen Grundsätze aus den Zuständen
der antiken Welt unter der Einwirkung des Christentums erwachsen sind. Von
aktueller Wichtigkeit ist der gegenüber einer heute weit verbreiteten Theorie geführte
gründliche Nachweis, daß das Neue Testament schlechterdings keine kommunistischen
Grundsätze enthält und solchen auch nicht zuneigt; sein Wirtschaftsprogramm liegt
in den Worten: Trachtet zuerst nach dem Reiche Gottes und seiner Gerechtigkeit,
das übrige wird euch zugegeben werden. Der Christ hat, gleichviel in was für
einer Wirtschaftsverfassung er lebt, die irdischen Güter als Mittel zur Erreichung
seiner höhern Bestimmung zu behandeln und zu gebrauchen. Die damals bestehende
Wirtschaftsordnung ist weder von Jesus noch von den Aposteln angefochten worden.
Aber es konnte nicht ausbleiben, daß das ideale Streben der Christen mit der be¬
stehenden Ordnung in Konflikt geriet, weil diese Ordnung keineswegs dazu angetan
war, die Verwaltung des irdischen Besitzes im Dienste der Gottes- und der Nächsten¬
liebe zu fördern. Dieser Konflikt drängte zu dem Versuche, das Wirtschaftsleben
nach christlichen Grundsätzen zu ordnen, und dieser Versuch führte dazu, die Glaubens¬
und Heilsgemeinschaft als bürgerliche Rechtsordnung auszugestalten, wodurch die
himmlischen mit den irdischen Interessen theoretisch versöhnt, praktisch freilich nur
in desto ärgere Feindschaft miteinander verwickelt wurden. Aus den Schriften der
Kirchenväter zeigt nun Sommerlad, wie der Gegensatz der christlichen Grundsätze zu
der bestehenden Ordnung zunächst allerdings -- aber erst vom dritten Jahrhundert
ab -- kommunistische Anschauungen erzeugte, wie die Entwicklung in dem industriellen
Ägypten des Origenes anders verlief als in dem agrarischen Afrika der Väter
Tertullian und Cyprian, wie aus den Schriften dieser Väter volkswirtschaftlich,
zum Beispiel über die Bevölkerungsverhältnisse des römischen Reichs, viel zu lernen
ist, und wie endlich Augustinus das Programm ausgearbeitet hat, das achthundert
Jahre lang die Entwicklung des europäischen Lebens beherrscht hat, wonach Staat
und Gesellschaft von der Kirche für deren Zwecke zu leiten und zu ordnen sind.
Der Augustinismus, schreibt Sommerlad, "war der denkbar größte Abfall von der
Wirtschafts- und Gesellschaftslehre des Evangeliums; das Einzelindividuum und sein
Ewigkeitsberuf sind völlig ausgeschaltet." Aber dieser Augustinismus hat die Fort¬
entwicklung der europäischen Menschheit, die Begründung einer neuen Ordnung auf
den Trümmern der alten möglich gemacht, allerdings mittels einer Inkonsequenz;
denn da Augustinus im weltlichen Staate ein Erzeugnis der Sünde sieht, hätte er


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Geschichte der schweizerischen Arbeiterbewegung sehen wir, daß die Wendung der
Politik, die bei uns in Deutschland erst in den sechziger Jahren unter dem Ein¬
druck der Agitation Lassalles eingetreten ist, in der Schweiz schon vor 1848 erfolgt
war: die Agitation des durchaus nicht kommunistischen Arbeiterfreundes Treichler
machte damals die Liberalen noch konservativer, als die Konservativen waren. Der
sozialpolitische Teil des Werkes ist sehr reich ausgestattet, und die Verfasser der
einschlagenden Artikel gehören nicht zu den bekehrten Liberalen. In dem Artikel
Anarchismus werden die „Gewalt und Schlechtigkeit von oben," die Unterdrückung
der rechtmäßigen Bestrebungen der Arbeiter, die Verfolgung der Soztalisten in
Rußland, Deutschland und Österreich, die Polizeispitzelei für die anarchistischen Aus¬
schreitungen verantwortlich gemacht. Doch schließt der Artikel „Asylrecht" mit dem
Satze: „Nicht der politische Flüchtling im engern Sinne, sondern der Anarchist
begehrt heute Asyl. Häufig ist der Anarchist ein Asyl suchender Verbrecher; aber
gerade das von ihm begangne oder beabsichtigte Verbrechen rechtfertigt eine Asyl¬
gewährung nicht: anarchistische Verbrecher dürfen nicht als politische Verbrecher
anerkannt werden." Die gesetzlichen und die Verfassungsbestimmungen, nach denen
zurzeit das Asylrecht ausgeübt wird, und die natürlich hier mitgeteilt werden,
dürften den meisten deutschen Lesern bisher unbekannt gewesen sein.

Sehr schöne Aufschlüsse gibt eine Sammlung von Studien, die Theo Soin-
merlad, Privatdozent an der Universität Halle, veröffentlicht unter dem Titel:
Das Wirtschaftsprogramm der Kirche des Mittelalters. Die beiden ersten
Hefte (Leipzig. I. I. Weber) behandeln noch nicht die mittelalterlichen Zustände
selbst, sondern zeigen nur, wie die mittelalterlichen Grundsätze aus den Zuständen
der antiken Welt unter der Einwirkung des Christentums erwachsen sind. Von
aktueller Wichtigkeit ist der gegenüber einer heute weit verbreiteten Theorie geführte
gründliche Nachweis, daß das Neue Testament schlechterdings keine kommunistischen
Grundsätze enthält und solchen auch nicht zuneigt; sein Wirtschaftsprogramm liegt
in den Worten: Trachtet zuerst nach dem Reiche Gottes und seiner Gerechtigkeit,
das übrige wird euch zugegeben werden. Der Christ hat, gleichviel in was für
einer Wirtschaftsverfassung er lebt, die irdischen Güter als Mittel zur Erreichung
seiner höhern Bestimmung zu behandeln und zu gebrauchen. Die damals bestehende
Wirtschaftsordnung ist weder von Jesus noch von den Aposteln angefochten worden.
Aber es konnte nicht ausbleiben, daß das ideale Streben der Christen mit der be¬
stehenden Ordnung in Konflikt geriet, weil diese Ordnung keineswegs dazu angetan
war, die Verwaltung des irdischen Besitzes im Dienste der Gottes- und der Nächsten¬
liebe zu fördern. Dieser Konflikt drängte zu dem Versuche, das Wirtschaftsleben
nach christlichen Grundsätzen zu ordnen, und dieser Versuch führte dazu, die Glaubens¬
und Heilsgemeinschaft als bürgerliche Rechtsordnung auszugestalten, wodurch die
himmlischen mit den irdischen Interessen theoretisch versöhnt, praktisch freilich nur
in desto ärgere Feindschaft miteinander verwickelt wurden. Aus den Schriften der
Kirchenväter zeigt nun Sommerlad, wie der Gegensatz der christlichen Grundsätze zu
der bestehenden Ordnung zunächst allerdings — aber erst vom dritten Jahrhundert
ab — kommunistische Anschauungen erzeugte, wie die Entwicklung in dem industriellen
Ägypten des Origenes anders verlief als in dem agrarischen Afrika der Väter
Tertullian und Cyprian, wie aus den Schriften dieser Väter volkswirtschaftlich,
zum Beispiel über die Bevölkerungsverhältnisse des römischen Reichs, viel zu lernen
ist, und wie endlich Augustinus das Programm ausgearbeitet hat, das achthundert
Jahre lang die Entwicklung des europäischen Lebens beherrscht hat, wonach Staat
und Gesellschaft von der Kirche für deren Zwecke zu leiten und zu ordnen sind.
Der Augustinismus, schreibt Sommerlad, „war der denkbar größte Abfall von der
Wirtschafts- und Gesellschaftslehre des Evangeliums; das Einzelindividuum und sein
Ewigkeitsberuf sind völlig ausgeschaltet." Aber dieser Augustinismus hat die Fort¬
entwicklung der europäischen Menschheit, die Begründung einer neuen Ordnung auf
den Trümmern der alten möglich gemacht, allerdings mittels einer Inkonsequenz;
denn da Augustinus im weltlichen Staate ein Erzeugnis der Sünde sieht, hätte er


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[0490] Maßgebliches und Unmaßgebliches Geschichte der schweizerischen Arbeiterbewegung sehen wir, daß die Wendung der Politik, die bei uns in Deutschland erst in den sechziger Jahren unter dem Ein¬ druck der Agitation Lassalles eingetreten ist, in der Schweiz schon vor 1848 erfolgt war: die Agitation des durchaus nicht kommunistischen Arbeiterfreundes Treichler machte damals die Liberalen noch konservativer, als die Konservativen waren. Der sozialpolitische Teil des Werkes ist sehr reich ausgestattet, und die Verfasser der einschlagenden Artikel gehören nicht zu den bekehrten Liberalen. In dem Artikel Anarchismus werden die „Gewalt und Schlechtigkeit von oben," die Unterdrückung der rechtmäßigen Bestrebungen der Arbeiter, die Verfolgung der Soztalisten in Rußland, Deutschland und Österreich, die Polizeispitzelei für die anarchistischen Aus¬ schreitungen verantwortlich gemacht. Doch schließt der Artikel „Asylrecht" mit dem Satze: „Nicht der politische Flüchtling im engern Sinne, sondern der Anarchist begehrt heute Asyl. Häufig ist der Anarchist ein Asyl suchender Verbrecher; aber gerade das von ihm begangne oder beabsichtigte Verbrechen rechtfertigt eine Asyl¬ gewährung nicht: anarchistische Verbrecher dürfen nicht als politische Verbrecher anerkannt werden." Die gesetzlichen und die Verfassungsbestimmungen, nach denen zurzeit das Asylrecht ausgeübt wird, und die natürlich hier mitgeteilt werden, dürften den meisten deutschen Lesern bisher unbekannt gewesen sein. Sehr schöne Aufschlüsse gibt eine Sammlung von Studien, die Theo Soin- merlad, Privatdozent an der Universität Halle, veröffentlicht unter dem Titel: Das Wirtschaftsprogramm der Kirche des Mittelalters. Die beiden ersten Hefte (Leipzig. I. I. Weber) behandeln noch nicht die mittelalterlichen Zustände selbst, sondern zeigen nur, wie die mittelalterlichen Grundsätze aus den Zuständen der antiken Welt unter der Einwirkung des Christentums erwachsen sind. Von aktueller Wichtigkeit ist der gegenüber einer heute weit verbreiteten Theorie geführte gründliche Nachweis, daß das Neue Testament schlechterdings keine kommunistischen Grundsätze enthält und solchen auch nicht zuneigt; sein Wirtschaftsprogramm liegt in den Worten: Trachtet zuerst nach dem Reiche Gottes und seiner Gerechtigkeit, das übrige wird euch zugegeben werden. Der Christ hat, gleichviel in was für einer Wirtschaftsverfassung er lebt, die irdischen Güter als Mittel zur Erreichung seiner höhern Bestimmung zu behandeln und zu gebrauchen. Die damals bestehende Wirtschaftsordnung ist weder von Jesus noch von den Aposteln angefochten worden. Aber es konnte nicht ausbleiben, daß das ideale Streben der Christen mit der be¬ stehenden Ordnung in Konflikt geriet, weil diese Ordnung keineswegs dazu angetan war, die Verwaltung des irdischen Besitzes im Dienste der Gottes- und der Nächsten¬ liebe zu fördern. Dieser Konflikt drängte zu dem Versuche, das Wirtschaftsleben nach christlichen Grundsätzen zu ordnen, und dieser Versuch führte dazu, die Glaubens¬ und Heilsgemeinschaft als bürgerliche Rechtsordnung auszugestalten, wodurch die himmlischen mit den irdischen Interessen theoretisch versöhnt, praktisch freilich nur in desto ärgere Feindschaft miteinander verwickelt wurden. Aus den Schriften der Kirchenväter zeigt nun Sommerlad, wie der Gegensatz der christlichen Grundsätze zu der bestehenden Ordnung zunächst allerdings — aber erst vom dritten Jahrhundert ab — kommunistische Anschauungen erzeugte, wie die Entwicklung in dem industriellen Ägypten des Origenes anders verlief als in dem agrarischen Afrika der Väter Tertullian und Cyprian, wie aus den Schriften dieser Väter volkswirtschaftlich, zum Beispiel über die Bevölkerungsverhältnisse des römischen Reichs, viel zu lernen ist, und wie endlich Augustinus das Programm ausgearbeitet hat, das achthundert Jahre lang die Entwicklung des europäischen Lebens beherrscht hat, wonach Staat und Gesellschaft von der Kirche für deren Zwecke zu leiten und zu ordnen sind. Der Augustinismus, schreibt Sommerlad, „war der denkbar größte Abfall von der Wirtschafts- und Gesellschaftslehre des Evangeliums; das Einzelindividuum und sein Ewigkeitsberuf sind völlig ausgeschaltet." Aber dieser Augustinismus hat die Fort¬ entwicklung der europäischen Menschheit, die Begründung einer neuen Ordnung auf den Trümmern der alten möglich gemacht, allerdings mittels einer Inkonsequenz; denn da Augustinus im weltlichen Staate ein Erzeugnis der Sünde sieht, hätte er

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_294416/490>, abgerufen am 26.06.2024.