Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Lhamberlains britische Reichspolitik

hat. Das wichtigste aber ist, daß England als fast einziges Frcihandelsgebiet
in der Nahe des schutzzöllnerischen europäischen Kontinents seinen innern Markt
schutzlos der Überschwemmung mit billigen ausländischen Jndustrieerzeugnisseu
preisgegeben sieht; es wurde der Abladeplatz für die Überproduktion der
Nachbarländer, und es dürfte allgemein bekannt sein, daß die Jndustriekrisis
in Deutschland, die wir anscheinend jetzt zu überwinden beginnen, viel schärfer
und vernichtender aufgetreten wäre, wenn nicht durch eine wunderbare Schick¬
salsfügung die amerikanische Hochkonjunktur bis Mitte 1903 angehalten Hütte,
und wenn wir nicht den englischen Markt frei gehabt hätten. Nun ist es aber
eine Grundtatsache der Wirtschaftspolitik, daß die Industrie eines Landes nur
dann lebensfähig bleiben und eine starke Ausfuhr mit Erfolg treiben kann,
wenn sie den innern Markt des eignen Landes beherrscht, und dieser Mangel
ist eine der wesentlichsten Ursachen des Rückgangs der englischen Industrie, wie
aus den nachfolgenden wenigen Zahlen deutlich hervorgeht.

Noheisenverbrauch
(in Millionen Tonnen)
England Vereinigte Staaten DeutschlandFrankreich
18806,24,2 2,61.3
13906,89,3 4,82,0
19007,713,6 9,02,9
Prozsntzuncchme24224 246S1
Baumwollverbrauch
(in Millionen Ballen)
Großbritannien Vereinigte StaatenEuropa
13913,334 2,3673,631
18993.519 3,5534,836
Prozontzunahme 4 49 33

Dies sind die wirtschaftlichen Tatsachen, die in England heute eine so
starke Unruhe erzeugt und auch schon verschiedentlich zu eingehenden Unter¬
suchungen mit Hilfe der englischen Konsuln geführt haben. Die zweite Tat¬
sachenreihe liegt in dem Aufbau des großbritannischen Gesamtstaates und in
den Verschiebungen der auswärtigen politischen Lage.

Das Weltreich Großbritannien ist kein festgefügter Gesamtstaat mit ein¬
heitlicher Verfassung, sondern die gewaltigen Kolonien sind dem Mutterland?
mehr oder weniger lose angegliedert, und zwar sind gerade die wichtigsten von
ihnen, abgesehen von der Kronkolonie Indien, ziemlich unabhängig, vor allem
Australien und Kanada. Die ganze Last für den völkerrechtlichen und den poli¬
tischen Schutz der Kolonien ruht auf dem Mutterlande, die Beitrüge, die von den
Kolonien für Heer und Flotte geleistet werden, waren bis auf die neueste Zeit
ganz unbedeutend. Die Ausgaben betragen in England etwa 30 Schilling auf
den Kopf der Bevölkerung, in Kanada 2, in Australien 3^ Schilling; Eng¬
land opfert jährlich etwa 68 Millionen Pfund Sterling für das Reich, die
Kolonien nichts. Dagegen erwachsen dem Mutterlande aus dieser Schutzpflicht
gelegentlich Riesenaufgabeu und Niesenausgaben, wie der südafrikanische Krieg


Lhamberlains britische Reichspolitik

hat. Das wichtigste aber ist, daß England als fast einziges Frcihandelsgebiet
in der Nahe des schutzzöllnerischen europäischen Kontinents seinen innern Markt
schutzlos der Überschwemmung mit billigen ausländischen Jndustrieerzeugnisseu
preisgegeben sieht; es wurde der Abladeplatz für die Überproduktion der
Nachbarländer, und es dürfte allgemein bekannt sein, daß die Jndustriekrisis
in Deutschland, die wir anscheinend jetzt zu überwinden beginnen, viel schärfer
und vernichtender aufgetreten wäre, wenn nicht durch eine wunderbare Schick¬
salsfügung die amerikanische Hochkonjunktur bis Mitte 1903 angehalten Hütte,
und wenn wir nicht den englischen Markt frei gehabt hätten. Nun ist es aber
eine Grundtatsache der Wirtschaftspolitik, daß die Industrie eines Landes nur
dann lebensfähig bleiben und eine starke Ausfuhr mit Erfolg treiben kann,
wenn sie den innern Markt des eignen Landes beherrscht, und dieser Mangel
ist eine der wesentlichsten Ursachen des Rückgangs der englischen Industrie, wie
aus den nachfolgenden wenigen Zahlen deutlich hervorgeht.

Noheisenverbrauch
(in Millionen Tonnen)
England Vereinigte Staaten DeutschlandFrankreich
18806,24,2 2,61.3
13906,89,3 4,82,0
19007,713,6 9,02,9
Prozsntzuncchme24224 246S1
Baumwollverbrauch
(in Millionen Ballen)
Großbritannien Vereinigte StaatenEuropa
13913,334 2,3673,631
18993.519 3,5534,836
Prozontzunahme 4 49 33

Dies sind die wirtschaftlichen Tatsachen, die in England heute eine so
starke Unruhe erzeugt und auch schon verschiedentlich zu eingehenden Unter¬
suchungen mit Hilfe der englischen Konsuln geführt haben. Die zweite Tat¬
sachenreihe liegt in dem Aufbau des großbritannischen Gesamtstaates und in
den Verschiebungen der auswärtigen politischen Lage.

Das Weltreich Großbritannien ist kein festgefügter Gesamtstaat mit ein¬
heitlicher Verfassung, sondern die gewaltigen Kolonien sind dem Mutterland?
mehr oder weniger lose angegliedert, und zwar sind gerade die wichtigsten von
ihnen, abgesehen von der Kronkolonie Indien, ziemlich unabhängig, vor allem
Australien und Kanada. Die ganze Last für den völkerrechtlichen und den poli¬
tischen Schutz der Kolonien ruht auf dem Mutterlande, die Beitrüge, die von den
Kolonien für Heer und Flotte geleistet werden, waren bis auf die neueste Zeit
ganz unbedeutend. Die Ausgaben betragen in England etwa 30 Schilling auf
den Kopf der Bevölkerung, in Kanada 2, in Australien 3^ Schilling; Eng¬
land opfert jährlich etwa 68 Millionen Pfund Sterling für das Reich, die
Kolonien nichts. Dagegen erwachsen dem Mutterlande aus dieser Schutzpflicht
gelegentlich Riesenaufgabeu und Niesenausgaben, wie der südafrikanische Krieg


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0256" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/294673"/>
          <fw type="header" place="top"> Lhamberlains britische Reichspolitik</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1089" prev="#ID_1088"> hat. Das wichtigste aber ist, daß England als fast einziges Frcihandelsgebiet<lb/>
in der Nahe des schutzzöllnerischen europäischen Kontinents seinen innern Markt<lb/>
schutzlos der Überschwemmung mit billigen ausländischen Jndustrieerzeugnisseu<lb/>
preisgegeben sieht; es wurde der Abladeplatz für die Überproduktion der<lb/>
Nachbarländer, und es dürfte allgemein bekannt sein, daß die Jndustriekrisis<lb/>
in Deutschland, die wir anscheinend jetzt zu überwinden beginnen, viel schärfer<lb/>
und vernichtender aufgetreten wäre, wenn nicht durch eine wunderbare Schick¬<lb/>
salsfügung die amerikanische Hochkonjunktur bis Mitte 1903 angehalten Hütte,<lb/>
und wenn wir nicht den englischen Markt frei gehabt hätten. Nun ist es aber<lb/>
eine Grundtatsache der Wirtschaftspolitik, daß die Industrie eines Landes nur<lb/>
dann lebensfähig bleiben und eine starke Ausfuhr mit Erfolg treiben kann,<lb/>
wenn sie den innern Markt des eignen Landes beherrscht, und dieser Mangel<lb/>
ist eine der wesentlichsten Ursachen des Rückgangs der englischen Industrie, wie<lb/>
aus den nachfolgenden wenigen Zahlen deutlich hervorgeht.</p><lb/>
          <list>
            <item> Noheisenverbrauch</item>
            <item> (in Millionen Tonnen)</item>
            <item> England   Vereinigte Staaten DeutschlandFrankreich</item>
            <item> 18806,24,2 2,61.3</item>
            <item> 13906,89,3 4,82,0</item>
            <item> 19007,713,6 9,02,9</item>
            <item> Prozsntzuncchme24224 246S1</item>
            <item> Baumwollverbrauch</item>
            <item> (in Millionen Ballen)</item>
            <item> Großbritannien   Vereinigte StaatenEuropa</item>
            <item> 13913,334 2,3673,631</item>
            <item> 18993.519 3,5534,836</item>
            <item> Prozontzunahme 4 49 33</item>
          </list><lb/>
          <p xml:id="ID_1090"> Dies sind die wirtschaftlichen Tatsachen, die in England heute eine so<lb/>
starke Unruhe erzeugt und auch schon verschiedentlich zu eingehenden Unter¬<lb/>
suchungen mit Hilfe der englischen Konsuln geführt haben. Die zweite Tat¬<lb/>
sachenreihe liegt in dem Aufbau des großbritannischen Gesamtstaates und in<lb/>
den Verschiebungen der auswärtigen politischen Lage.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1091" next="#ID_1092"> Das Weltreich Großbritannien ist kein festgefügter Gesamtstaat mit ein¬<lb/>
heitlicher Verfassung, sondern die gewaltigen Kolonien sind dem Mutterland?<lb/>
mehr oder weniger lose angegliedert, und zwar sind gerade die wichtigsten von<lb/>
ihnen, abgesehen von der Kronkolonie Indien, ziemlich unabhängig, vor allem<lb/>
Australien und Kanada. Die ganze Last für den völkerrechtlichen und den poli¬<lb/>
tischen Schutz der Kolonien ruht auf dem Mutterlande, die Beitrüge, die von den<lb/>
Kolonien für Heer und Flotte geleistet werden, waren bis auf die neueste Zeit<lb/>
ganz unbedeutend. Die Ausgaben betragen in England etwa 30 Schilling auf<lb/>
den Kopf der Bevölkerung, in Kanada 2, in Australien 3^ Schilling; Eng¬<lb/>
land opfert jährlich etwa 68 Millionen Pfund Sterling für das Reich, die<lb/>
Kolonien nichts. Dagegen erwachsen dem Mutterlande aus dieser Schutzpflicht<lb/>
gelegentlich Riesenaufgabeu und Niesenausgaben, wie der südafrikanische Krieg</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0256] Lhamberlains britische Reichspolitik hat. Das wichtigste aber ist, daß England als fast einziges Frcihandelsgebiet in der Nahe des schutzzöllnerischen europäischen Kontinents seinen innern Markt schutzlos der Überschwemmung mit billigen ausländischen Jndustrieerzeugnisseu preisgegeben sieht; es wurde der Abladeplatz für die Überproduktion der Nachbarländer, und es dürfte allgemein bekannt sein, daß die Jndustriekrisis in Deutschland, die wir anscheinend jetzt zu überwinden beginnen, viel schärfer und vernichtender aufgetreten wäre, wenn nicht durch eine wunderbare Schick¬ salsfügung die amerikanische Hochkonjunktur bis Mitte 1903 angehalten Hütte, und wenn wir nicht den englischen Markt frei gehabt hätten. Nun ist es aber eine Grundtatsache der Wirtschaftspolitik, daß die Industrie eines Landes nur dann lebensfähig bleiben und eine starke Ausfuhr mit Erfolg treiben kann, wenn sie den innern Markt des eignen Landes beherrscht, und dieser Mangel ist eine der wesentlichsten Ursachen des Rückgangs der englischen Industrie, wie aus den nachfolgenden wenigen Zahlen deutlich hervorgeht. Noheisenverbrauch (in Millionen Tonnen) England Vereinigte Staaten DeutschlandFrankreich 18806,24,2 2,61.3 13906,89,3 4,82,0 19007,713,6 9,02,9 Prozsntzuncchme24224 246S1 Baumwollverbrauch (in Millionen Ballen) Großbritannien Vereinigte StaatenEuropa 13913,334 2,3673,631 18993.519 3,5534,836 Prozontzunahme 4 49 33 Dies sind die wirtschaftlichen Tatsachen, die in England heute eine so starke Unruhe erzeugt und auch schon verschiedentlich zu eingehenden Unter¬ suchungen mit Hilfe der englischen Konsuln geführt haben. Die zweite Tat¬ sachenreihe liegt in dem Aufbau des großbritannischen Gesamtstaates und in den Verschiebungen der auswärtigen politischen Lage. Das Weltreich Großbritannien ist kein festgefügter Gesamtstaat mit ein¬ heitlicher Verfassung, sondern die gewaltigen Kolonien sind dem Mutterland? mehr oder weniger lose angegliedert, und zwar sind gerade die wichtigsten von ihnen, abgesehen von der Kronkolonie Indien, ziemlich unabhängig, vor allem Australien und Kanada. Die ganze Last für den völkerrechtlichen und den poli¬ tischen Schutz der Kolonien ruht auf dem Mutterlande, die Beitrüge, die von den Kolonien für Heer und Flotte geleistet werden, waren bis auf die neueste Zeit ganz unbedeutend. Die Ausgaben betragen in England etwa 30 Schilling auf den Kopf der Bevölkerung, in Kanada 2, in Australien 3^ Schilling; Eng¬ land opfert jährlich etwa 68 Millionen Pfund Sterling für das Reich, die Kolonien nichts. Dagegen erwachsen dem Mutterlande aus dieser Schutzpflicht gelegentlich Riesenaufgabeu und Niesenausgaben, wie der südafrikanische Krieg

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_294416
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_294416/256
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_294416/256>, abgerufen am 23.07.2024.