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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr.

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Von Manchester bis Birmingham

Erzeugnisse ihren bisherigen Ruf der Unllbertrefflichkeit einbüßten. Die Lage
wurde immer unerträglicher, die Klagen über den Freihandel mehrten sich, der
Schutzzollgedanke vermochte aber die hergebrachten Meinungen nicht zu über¬
winden, denn er wurde nicht wie in Deutschland und Frankreich von den
Agrariern unterstützt.

Die Cobdensche Freihandelslehre hatte mit ihren Folgesätzen die englische
Weltmacht aber auch mehrfach in politischer Beziehung geschädigt. Die falsche
Bewertung der an sich richtigen Erfahrung, daß Kolonien (von Weißen) das
Bestreben haben, sich vom Mutterlande loszulösen, hatte unter dem Ministerium
des freihündlerisch gesinnten Gladstone eine weitere Lockerung des Verhältnisses
zu den Kolonien herbeigeführt. Diese konnten den Freihandel nicht brauchen
und hielten ihre Zolllinien ebenso gegenüber dem Mutterland wie andern Län¬
dern gegenüber aufrecht, sodaß England schließlich nur noch die Last hatte, für
ihren Schutz Sorge zu tragen, was allerdings nicht besonders schwer ins Ge¬
wicht fällt, solange das Weltmeer keine der englischen gewachsene Flotte trägt.
Aber auch die Flotte verfiel unter dem Regiment Gladstons so rasch, daß er
Ende 1893 selbst mit ihrer Erneuerung und Vergrößerung anfangen mußte,
womit England bis auf den heutigen Tag fortgefahren hat. Für unsre deutschen
Flottengegner, die daraus das Argument ableiten wollen, die Flottenvermehrung
würde "eine Schraube ohne Ende" sein, sei bemerkt, daß das Ende in England
schon zum Vorschein kommt. Das reiche Land kann zwar noch ungezählte
Schlachtschiffe bauen, vermag aber schon seine jetzigen nicht mehr genügend zu
bemannen. Lord Brassey machte schon im vorigen Jahre darauf aufmerksam,
daß Großbritannien nur eine Flottenreserve von 41540 Mann habe, während
Frankreich für seine halb so große Flotte volle 100000 Mann habe. Die
übereilte Nachgiebigkeit Gladstones gegenüber den Buren nach der militärisch
wenig bedeutsamen Niederlage von Majuba Hill ist auch eine der Hauptursachen
des dritthalb Jahre dauernden Kriegs in Südafrika gewesen, der England zu
den ungeheuersten Anstrengungen nötigte, weil das Unterliegen die britische
Weltstellung dauernd hätte untergraben müssen, der aber dem Lande wenig
militärische Ehren und Sympathien der Völker eingebracht hat.

Aber das schwere Ringen unter der ungeteilten Schadenfreude der ganzen
Welt hat in England neue politische und volkswirtschaftliche Pläne an die
Oberfläche gebracht, deren hauptsächlichster Träger Joseph Chamberlain aus Bir¬
mingham ist, und der auch die Haupttriebkraft der englischen Politik während
des Burenkriegs war. Ob er die militärische Schwäche seines Landes erkannt
hat, steht dahin, aber über dessen wirtschaftliche und politische Schwächen ist er
sich vollkommen klar. Cobden erstrebte die englische Weltherrschaft durch den
Handel allein, Chamberlain ist Engländer genug, auch nach der Weltherrschaft
Großbritanniens zu zielen, aber er sucht sie durch die erprobten Mittel der
Politik und der Nationalökonomie zu sichern. Der nicht abzuleugnende Rück¬
gang des englischen Handels und der englischen Industrie weisen England mit
zwingender Notwendigkeit auf den Weg des Schutzzolls gegenüber den seine
Stellung auf dem Weltmarkte bedrohenden Mächten hin. Durch Zölle allein
läßt sich freilich die gefährliche Konkurrenz im Auslande nicht verdrängen


Von Manchester bis Birmingham

Erzeugnisse ihren bisherigen Ruf der Unllbertrefflichkeit einbüßten. Die Lage
wurde immer unerträglicher, die Klagen über den Freihandel mehrten sich, der
Schutzzollgedanke vermochte aber die hergebrachten Meinungen nicht zu über¬
winden, denn er wurde nicht wie in Deutschland und Frankreich von den
Agrariern unterstützt.

Die Cobdensche Freihandelslehre hatte mit ihren Folgesätzen die englische
Weltmacht aber auch mehrfach in politischer Beziehung geschädigt. Die falsche
Bewertung der an sich richtigen Erfahrung, daß Kolonien (von Weißen) das
Bestreben haben, sich vom Mutterlande loszulösen, hatte unter dem Ministerium
des freihündlerisch gesinnten Gladstone eine weitere Lockerung des Verhältnisses
zu den Kolonien herbeigeführt. Diese konnten den Freihandel nicht brauchen
und hielten ihre Zolllinien ebenso gegenüber dem Mutterland wie andern Län¬
dern gegenüber aufrecht, sodaß England schließlich nur noch die Last hatte, für
ihren Schutz Sorge zu tragen, was allerdings nicht besonders schwer ins Ge¬
wicht fällt, solange das Weltmeer keine der englischen gewachsene Flotte trägt.
Aber auch die Flotte verfiel unter dem Regiment Gladstons so rasch, daß er
Ende 1893 selbst mit ihrer Erneuerung und Vergrößerung anfangen mußte,
womit England bis auf den heutigen Tag fortgefahren hat. Für unsre deutschen
Flottengegner, die daraus das Argument ableiten wollen, die Flottenvermehrung
würde „eine Schraube ohne Ende" sein, sei bemerkt, daß das Ende in England
schon zum Vorschein kommt. Das reiche Land kann zwar noch ungezählte
Schlachtschiffe bauen, vermag aber schon seine jetzigen nicht mehr genügend zu
bemannen. Lord Brassey machte schon im vorigen Jahre darauf aufmerksam,
daß Großbritannien nur eine Flottenreserve von 41540 Mann habe, während
Frankreich für seine halb so große Flotte volle 100000 Mann habe. Die
übereilte Nachgiebigkeit Gladstones gegenüber den Buren nach der militärisch
wenig bedeutsamen Niederlage von Majuba Hill ist auch eine der Hauptursachen
des dritthalb Jahre dauernden Kriegs in Südafrika gewesen, der England zu
den ungeheuersten Anstrengungen nötigte, weil das Unterliegen die britische
Weltstellung dauernd hätte untergraben müssen, der aber dem Lande wenig
militärische Ehren und Sympathien der Völker eingebracht hat.

Aber das schwere Ringen unter der ungeteilten Schadenfreude der ganzen
Welt hat in England neue politische und volkswirtschaftliche Pläne an die
Oberfläche gebracht, deren hauptsächlichster Träger Joseph Chamberlain aus Bir¬
mingham ist, und der auch die Haupttriebkraft der englischen Politik während
des Burenkriegs war. Ob er die militärische Schwäche seines Landes erkannt
hat, steht dahin, aber über dessen wirtschaftliche und politische Schwächen ist er
sich vollkommen klar. Cobden erstrebte die englische Weltherrschaft durch den
Handel allein, Chamberlain ist Engländer genug, auch nach der Weltherrschaft
Großbritanniens zu zielen, aber er sucht sie durch die erprobten Mittel der
Politik und der Nationalökonomie zu sichern. Der nicht abzuleugnende Rück¬
gang des englischen Handels und der englischen Industrie weisen England mit
zwingender Notwendigkeit auf den Weg des Schutzzolls gegenüber den seine
Stellung auf dem Weltmarkte bedrohenden Mächten hin. Durch Zölle allein
läßt sich freilich die gefährliche Konkurrenz im Auslande nicht verdrängen


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[0196] Von Manchester bis Birmingham Erzeugnisse ihren bisherigen Ruf der Unllbertrefflichkeit einbüßten. Die Lage wurde immer unerträglicher, die Klagen über den Freihandel mehrten sich, der Schutzzollgedanke vermochte aber die hergebrachten Meinungen nicht zu über¬ winden, denn er wurde nicht wie in Deutschland und Frankreich von den Agrariern unterstützt. Die Cobdensche Freihandelslehre hatte mit ihren Folgesätzen die englische Weltmacht aber auch mehrfach in politischer Beziehung geschädigt. Die falsche Bewertung der an sich richtigen Erfahrung, daß Kolonien (von Weißen) das Bestreben haben, sich vom Mutterlande loszulösen, hatte unter dem Ministerium des freihündlerisch gesinnten Gladstone eine weitere Lockerung des Verhältnisses zu den Kolonien herbeigeführt. Diese konnten den Freihandel nicht brauchen und hielten ihre Zolllinien ebenso gegenüber dem Mutterland wie andern Län¬ dern gegenüber aufrecht, sodaß England schließlich nur noch die Last hatte, für ihren Schutz Sorge zu tragen, was allerdings nicht besonders schwer ins Ge¬ wicht fällt, solange das Weltmeer keine der englischen gewachsene Flotte trägt. Aber auch die Flotte verfiel unter dem Regiment Gladstons so rasch, daß er Ende 1893 selbst mit ihrer Erneuerung und Vergrößerung anfangen mußte, womit England bis auf den heutigen Tag fortgefahren hat. Für unsre deutschen Flottengegner, die daraus das Argument ableiten wollen, die Flottenvermehrung würde „eine Schraube ohne Ende" sein, sei bemerkt, daß das Ende in England schon zum Vorschein kommt. Das reiche Land kann zwar noch ungezählte Schlachtschiffe bauen, vermag aber schon seine jetzigen nicht mehr genügend zu bemannen. Lord Brassey machte schon im vorigen Jahre darauf aufmerksam, daß Großbritannien nur eine Flottenreserve von 41540 Mann habe, während Frankreich für seine halb so große Flotte volle 100000 Mann habe. Die übereilte Nachgiebigkeit Gladstones gegenüber den Buren nach der militärisch wenig bedeutsamen Niederlage von Majuba Hill ist auch eine der Hauptursachen des dritthalb Jahre dauernden Kriegs in Südafrika gewesen, der England zu den ungeheuersten Anstrengungen nötigte, weil das Unterliegen die britische Weltstellung dauernd hätte untergraben müssen, der aber dem Lande wenig militärische Ehren und Sympathien der Völker eingebracht hat. Aber das schwere Ringen unter der ungeteilten Schadenfreude der ganzen Welt hat in England neue politische und volkswirtschaftliche Pläne an die Oberfläche gebracht, deren hauptsächlichster Träger Joseph Chamberlain aus Bir¬ mingham ist, und der auch die Haupttriebkraft der englischen Politik während des Burenkriegs war. Ob er die militärische Schwäche seines Landes erkannt hat, steht dahin, aber über dessen wirtschaftliche und politische Schwächen ist er sich vollkommen klar. Cobden erstrebte die englische Weltherrschaft durch den Handel allein, Chamberlain ist Engländer genug, auch nach der Weltherrschaft Großbritanniens zu zielen, aber er sucht sie durch die erprobten Mittel der Politik und der Nationalökonomie zu sichern. Der nicht abzuleugnende Rück¬ gang des englischen Handels und der englischen Industrie weisen England mit zwingender Notwendigkeit auf den Weg des Schutzzolls gegenüber den seine Stellung auf dem Weltmarkte bedrohenden Mächten hin. Durch Zölle allein läßt sich freilich die gefährliche Konkurrenz im Auslande nicht verdrängen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_294416/196>, abgerufen am 23.07.2024.