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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr.

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Die Zukunft der juristischen Professuren

Rechtswissenschaft, und wenn die Wogen, welche das Deutsche Gesetzbuch
hervorgerufen hat, sich beruhigt haben werden, wird das Römische Rechts¬
studium ebenso wiederkehren, wie es nach dem Erlaß des Preußischen Land¬
rechts wiedergekommen ist."

Die romanistischen Professoren sehen in diesen Worten Mommsens ein
Vermächtnis an die deutsche Juristenwelt; man tritt aber dem Andenken des
großen Toten nicht zu nahe, wenn man seine Vorhersage als sehr anfechtbar
hinstellt. Man kann vielmehr schon heute sagen, daß nach zwei Jahrzehnten
auch unter den Universitätslehrern nur noch selten einer gefunden werden wird,
der im Corpus Juris auch nur annähernd so Bescheid weiß, wie man es noch
vor wenig Jahren von dem jüngsten und mittelmüßigsten Dozenten verlangte,
und daß das Römische Recht die Bedeutung, die es im vorigen Jahrhundert
für die Zivilrechtswisscnschaft hatte, nie und nimmermehr auch nur annähernd
wieder erlangen wird.

Man stellt den Rechtsuntcrricht auf den deutschen Universitäten gern
rühmend in einen Gegensatz zu dem in Frankreich herrschenden. In beiden
Ländern bestand bis vor rund hundert Jahren im wesentlichen derselbe Rechts¬
zustand. Im damaligen heiligen Römischen Reich deutscher Nation galt "Ge¬
meines Recht," d. h. das Recht des vom römischen Kaiser Justinian um das
Jahr 530 veröffentlichten, also in lateinischer Sprache abgefaßten Corpus
Juris, aber untermischt mit zahlreichen deutschen Nechtssützen, deren Quelle
der Sachsenspiegel und viele andre deutsche Gesetzbücher waren, ein Rechts-
zustand, der für einzelne Teile des Reichs (so für Mecklenburg, die Hansa¬
städte, Oldenburg, Hannover, Schleswig-Holstein, die Thüringischen Staaten,
Hessen, Württemberg) noch bis zum 1. Januar 1900 bestand. Genau ebenso
lagen bis vor etwa hundert Jahren die Verhältnisse auch in Frankreich. Wie
sich nämlich aus der Verschmelzung römischer und germanischer Bevölkerung
in Frankreich zwei in ihrer Sprache llauAus ä'o<z und lauAus et'oil) scharf
geschiedn" Nationalitäten gebildet hatten, so fiel mit der Verschiedenheit der
Sprache auch eine Verschiedenheit des Rechts zusammen, die man durch den
Gegensatz von etroit ooutuuüöi und droit vorn bezeichnete. Das Recht der
nördlichen Landschaften war ein rein germanisches und wurde erst später durch
das Eindringen des römischen und des kanonischen Rechts geändert. Im
Süden hatte sich dagegen das Römische Recht des Corpus Juris erhalten;
aber es waren in den römischen Rechtskörper zahlreiche germanische Rechts¬
anschauungen eingedrungen. Allmählich wurde das Römische Recht wohl
das herrschende, der Rechtszustand also ganz derselbe wie in Deutschland.
Und wie man in Deutschland aus dem Gemisch römischer und deutscher Rechts¬
sätze ein Preußisches Landrecht, ein Österreichisches Bürgerliches Gesetzbuch,
ein Handelsgesetzbuch, eine Wechselordnung und viele andre einheitliche Gesetze
und zuletzt noch ein Bürgerliches Gesetzbuch für das Deutsche Reich schuf, so
schuf Napoleon vor hundert Jahren den Loäe civil clss ?rg.ueÄiL, der während
der Fremdherrschaft auch in großen Teilen Deutschlands eingeführt worden
ist und noch heute in Frankreich gilt.

Ist so die Ncchtsentwicklung in Deutschland wie in Frankreich dieselbe


Die Zukunft der juristischen Professuren

Rechtswissenschaft, und wenn die Wogen, welche das Deutsche Gesetzbuch
hervorgerufen hat, sich beruhigt haben werden, wird das Römische Rechts¬
studium ebenso wiederkehren, wie es nach dem Erlaß des Preußischen Land¬
rechts wiedergekommen ist."

Die romanistischen Professoren sehen in diesen Worten Mommsens ein
Vermächtnis an die deutsche Juristenwelt; man tritt aber dem Andenken des
großen Toten nicht zu nahe, wenn man seine Vorhersage als sehr anfechtbar
hinstellt. Man kann vielmehr schon heute sagen, daß nach zwei Jahrzehnten
auch unter den Universitätslehrern nur noch selten einer gefunden werden wird,
der im Corpus Juris auch nur annähernd so Bescheid weiß, wie man es noch
vor wenig Jahren von dem jüngsten und mittelmüßigsten Dozenten verlangte,
und daß das Römische Recht die Bedeutung, die es im vorigen Jahrhundert
für die Zivilrechtswisscnschaft hatte, nie und nimmermehr auch nur annähernd
wieder erlangen wird.

Man stellt den Rechtsuntcrricht auf den deutschen Universitäten gern
rühmend in einen Gegensatz zu dem in Frankreich herrschenden. In beiden
Ländern bestand bis vor rund hundert Jahren im wesentlichen derselbe Rechts¬
zustand. Im damaligen heiligen Römischen Reich deutscher Nation galt „Ge¬
meines Recht," d. h. das Recht des vom römischen Kaiser Justinian um das
Jahr 530 veröffentlichten, also in lateinischer Sprache abgefaßten Corpus
Juris, aber untermischt mit zahlreichen deutschen Nechtssützen, deren Quelle
der Sachsenspiegel und viele andre deutsche Gesetzbücher waren, ein Rechts-
zustand, der für einzelne Teile des Reichs (so für Mecklenburg, die Hansa¬
städte, Oldenburg, Hannover, Schleswig-Holstein, die Thüringischen Staaten,
Hessen, Württemberg) noch bis zum 1. Januar 1900 bestand. Genau ebenso
lagen bis vor etwa hundert Jahren die Verhältnisse auch in Frankreich. Wie
sich nämlich aus der Verschmelzung römischer und germanischer Bevölkerung
in Frankreich zwei in ihrer Sprache llauAus ä'o<z und lauAus et'oil) scharf
geschiedn« Nationalitäten gebildet hatten, so fiel mit der Verschiedenheit der
Sprache auch eine Verschiedenheit des Rechts zusammen, die man durch den
Gegensatz von etroit ooutuuüöi und droit vorn bezeichnete. Das Recht der
nördlichen Landschaften war ein rein germanisches und wurde erst später durch
das Eindringen des römischen und des kanonischen Rechts geändert. Im
Süden hatte sich dagegen das Römische Recht des Corpus Juris erhalten;
aber es waren in den römischen Rechtskörper zahlreiche germanische Rechts¬
anschauungen eingedrungen. Allmählich wurde das Römische Recht wohl
das herrschende, der Rechtszustand also ganz derselbe wie in Deutschland.
Und wie man in Deutschland aus dem Gemisch römischer und deutscher Rechts¬
sätze ein Preußisches Landrecht, ein Österreichisches Bürgerliches Gesetzbuch,
ein Handelsgesetzbuch, eine Wechselordnung und viele andre einheitliche Gesetze
und zuletzt noch ein Bürgerliches Gesetzbuch für das Deutsche Reich schuf, so
schuf Napoleon vor hundert Jahren den Loäe civil clss ?rg.ueÄiL, der während
der Fremdherrschaft auch in großen Teilen Deutschlands eingeführt worden
ist und noch heute in Frankreich gilt.

Ist so die Ncchtsentwicklung in Deutschland wie in Frankreich dieselbe


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[0566] Die Zukunft der juristischen Professuren Rechtswissenschaft, und wenn die Wogen, welche das Deutsche Gesetzbuch hervorgerufen hat, sich beruhigt haben werden, wird das Römische Rechts¬ studium ebenso wiederkehren, wie es nach dem Erlaß des Preußischen Land¬ rechts wiedergekommen ist." Die romanistischen Professoren sehen in diesen Worten Mommsens ein Vermächtnis an die deutsche Juristenwelt; man tritt aber dem Andenken des großen Toten nicht zu nahe, wenn man seine Vorhersage als sehr anfechtbar hinstellt. Man kann vielmehr schon heute sagen, daß nach zwei Jahrzehnten auch unter den Universitätslehrern nur noch selten einer gefunden werden wird, der im Corpus Juris auch nur annähernd so Bescheid weiß, wie man es noch vor wenig Jahren von dem jüngsten und mittelmüßigsten Dozenten verlangte, und daß das Römische Recht die Bedeutung, die es im vorigen Jahrhundert für die Zivilrechtswisscnschaft hatte, nie und nimmermehr auch nur annähernd wieder erlangen wird. Man stellt den Rechtsuntcrricht auf den deutschen Universitäten gern rühmend in einen Gegensatz zu dem in Frankreich herrschenden. In beiden Ländern bestand bis vor rund hundert Jahren im wesentlichen derselbe Rechts¬ zustand. Im damaligen heiligen Römischen Reich deutscher Nation galt „Ge¬ meines Recht," d. h. das Recht des vom römischen Kaiser Justinian um das Jahr 530 veröffentlichten, also in lateinischer Sprache abgefaßten Corpus Juris, aber untermischt mit zahlreichen deutschen Nechtssützen, deren Quelle der Sachsenspiegel und viele andre deutsche Gesetzbücher waren, ein Rechts- zustand, der für einzelne Teile des Reichs (so für Mecklenburg, die Hansa¬ städte, Oldenburg, Hannover, Schleswig-Holstein, die Thüringischen Staaten, Hessen, Württemberg) noch bis zum 1. Januar 1900 bestand. Genau ebenso lagen bis vor etwa hundert Jahren die Verhältnisse auch in Frankreich. Wie sich nämlich aus der Verschmelzung römischer und germanischer Bevölkerung in Frankreich zwei in ihrer Sprache llauAus ä'o<z und lauAus et'oil) scharf geschiedn« Nationalitäten gebildet hatten, so fiel mit der Verschiedenheit der Sprache auch eine Verschiedenheit des Rechts zusammen, die man durch den Gegensatz von etroit ooutuuüöi und droit vorn bezeichnete. Das Recht der nördlichen Landschaften war ein rein germanisches und wurde erst später durch das Eindringen des römischen und des kanonischen Rechts geändert. Im Süden hatte sich dagegen das Römische Recht des Corpus Juris erhalten; aber es waren in den römischen Rechtskörper zahlreiche germanische Rechts¬ anschauungen eingedrungen. Allmählich wurde das Römische Recht wohl das herrschende, der Rechtszustand also ganz derselbe wie in Deutschland. Und wie man in Deutschland aus dem Gemisch römischer und deutscher Rechts¬ sätze ein Preußisches Landrecht, ein Österreichisches Bürgerliches Gesetzbuch, ein Handelsgesetzbuch, eine Wechselordnung und viele andre einheitliche Gesetze und zuletzt noch ein Bürgerliches Gesetzbuch für das Deutsche Reich schuf, so schuf Napoleon vor hundert Jahren den Loäe civil clss ?rg.ueÄiL, der während der Fremdherrschaft auch in großen Teilen Deutschlands eingeführt worden ist und noch heute in Frankreich gilt. Ist so die Ncchtsentwicklung in Deutschland wie in Frankreich dieselbe

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_293618/566>, abgerufen am 04.07.2024.