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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr.

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Schwächen und Fiktionen des modernen Parlamentarismus

England, und von der englischen Selbstverwaltung, dem Unterbau des Parla¬
mentarismus, wußte er gar nichts. Aber sein Traumbild bestimmte zusammen
mit der Nousseauischen Anschauung von der Volkssouveränität die Bestrebungen
in den ersten Jahren der großen Revolution, und es wurde schließlich in der
"Charte," der Verfassung vom 4. Juni 1814, verwirklicht: neben der aristo¬
kratischen "Kammer der Pairs," dem Oberhause, stand die gewühlte "Kammer
der Abgeordneten," die freilich nur die Bourgeoisie, das besitzende Bürgertum
vertrat. Aber der Unterbau einer Selbstverwaltung, also einer praktischen
Schule für die regierenden Stände fehlte in Frankreich vollständig, denn der
demokratische oder der monarchische Despotismus der Revolution hatte ihre im
alten Frankreich vorhandnen Elemente gründlich zerstört und ein zentralisiertes,
ganz monarchisches Berufsbeamtentum an ihre Stelle gesetzt. So trat das
Leiden, woran schon die Konstituante von 1789, die Legislative von 1791
und der Konvent von 1792 schwer gekränkt hatten, daß praktisch völlig unge¬
schulte Abgeordnete nach luftigen, ganz doktrinären Theorien die Politik
machten, auch in der neuen Volksvertretung bald wieder hervor, und der Gegen¬
satz zwischen einem sozusagen in der Luft schwebenden Parlament als dem Aus¬
druck eines rechtlich souveränen Volkswillens und dem despotischen, jeder Ne¬
gierung blind gehorchenden Beamtentum ist in Frankreich niemals überwunden
worden. Wer dieses Beamtentum hat, der hat Frankreich; auf die Form der
Regierung kommt gar nichts an.

Diese französische Charte, nicht der englische Parlamentarismus unmittel¬
bar, ist nun das Vorbild für die konstitutionellen Verfassungen geworden, die
zunächst im Mittel- und im kleinstaatlichen Deutschland seit 1816 verliehen
wurden. Aber man verfuhr dabei doch ziemlich konservativ, knüpfte an die
alten Grundlagen an. Die alten Stände wurden nicht schlechthin beseitigt,
sondern nur mit mancher Vereinfachung und Ergänzung in die erste Kammer,
oder wie man sonst das Oberhaus nannte, verwandelt, nur die zweite wurde
aus Volkswahlen, aber mit beschränktem Wahlrecht gebildet. Von einer Über¬
tragung der französischen Volkssouverünitüt konnte vollends gar keine Rede
sein. In den deutschen Einzelstaaten behauptete die erbliche Monarchie ihr
selbständiges, historisches Recht und damit ihre selbständige Gewalt, ihre
Souveränität, denn die Geschichte Deutschlands ist nun einmal monarchisch. Die
Teile Deutschlands, die sich republikanisch entwickelt hatten, die Schweiz und
die Niederlande, hatten sich schon längst vom Deutschen Reiche getrennt, und
die vier freien Städte, die den Untergang des alten Reiches überlebten oder
1815 wieder hergestellt wurden, waren eben nur souveräne Gemeinden, aber
keine wirklichen Staaten. Eine wesentlich verschiedne originelle Verfassung
würde Preußen ausgebildet haben, wenn der Vereinigte Landtag von 1847 in
seiner ständischen Gliederung (Herrenkurie, Dreiständekurie) dafür die Grundlage
gewesen wäre; aber die Macht der französisch-konstitutionellen Idee war so
stark, daß das nicht gelang, daß vielmehr die preußische Verfassung vom
5- Dezember 1348 in der Hauptsache eine Nachahmung der belgischen wurde,
nur daß man deren obersten Satz: ton8 los xouvoirs oinaiuznt as ig, nation
nicht mit herübernahm, weil er der preußischen Geschichte ins Gesicht schlug.


Schwächen und Fiktionen des modernen Parlamentarismus

England, und von der englischen Selbstverwaltung, dem Unterbau des Parla¬
mentarismus, wußte er gar nichts. Aber sein Traumbild bestimmte zusammen
mit der Nousseauischen Anschauung von der Volkssouveränität die Bestrebungen
in den ersten Jahren der großen Revolution, und es wurde schließlich in der
„Charte," der Verfassung vom 4. Juni 1814, verwirklicht: neben der aristo¬
kratischen „Kammer der Pairs," dem Oberhause, stand die gewühlte „Kammer
der Abgeordneten," die freilich nur die Bourgeoisie, das besitzende Bürgertum
vertrat. Aber der Unterbau einer Selbstverwaltung, also einer praktischen
Schule für die regierenden Stände fehlte in Frankreich vollständig, denn der
demokratische oder der monarchische Despotismus der Revolution hatte ihre im
alten Frankreich vorhandnen Elemente gründlich zerstört und ein zentralisiertes,
ganz monarchisches Berufsbeamtentum an ihre Stelle gesetzt. So trat das
Leiden, woran schon die Konstituante von 1789, die Legislative von 1791
und der Konvent von 1792 schwer gekränkt hatten, daß praktisch völlig unge¬
schulte Abgeordnete nach luftigen, ganz doktrinären Theorien die Politik
machten, auch in der neuen Volksvertretung bald wieder hervor, und der Gegen¬
satz zwischen einem sozusagen in der Luft schwebenden Parlament als dem Aus¬
druck eines rechtlich souveränen Volkswillens und dem despotischen, jeder Ne¬
gierung blind gehorchenden Beamtentum ist in Frankreich niemals überwunden
worden. Wer dieses Beamtentum hat, der hat Frankreich; auf die Form der
Regierung kommt gar nichts an.

Diese französische Charte, nicht der englische Parlamentarismus unmittel¬
bar, ist nun das Vorbild für die konstitutionellen Verfassungen geworden, die
zunächst im Mittel- und im kleinstaatlichen Deutschland seit 1816 verliehen
wurden. Aber man verfuhr dabei doch ziemlich konservativ, knüpfte an die
alten Grundlagen an. Die alten Stände wurden nicht schlechthin beseitigt,
sondern nur mit mancher Vereinfachung und Ergänzung in die erste Kammer,
oder wie man sonst das Oberhaus nannte, verwandelt, nur die zweite wurde
aus Volkswahlen, aber mit beschränktem Wahlrecht gebildet. Von einer Über¬
tragung der französischen Volkssouverünitüt konnte vollends gar keine Rede
sein. In den deutschen Einzelstaaten behauptete die erbliche Monarchie ihr
selbständiges, historisches Recht und damit ihre selbständige Gewalt, ihre
Souveränität, denn die Geschichte Deutschlands ist nun einmal monarchisch. Die
Teile Deutschlands, die sich republikanisch entwickelt hatten, die Schweiz und
die Niederlande, hatten sich schon längst vom Deutschen Reiche getrennt, und
die vier freien Städte, die den Untergang des alten Reiches überlebten oder
1815 wieder hergestellt wurden, waren eben nur souveräne Gemeinden, aber
keine wirklichen Staaten. Eine wesentlich verschiedne originelle Verfassung
würde Preußen ausgebildet haben, wenn der Vereinigte Landtag von 1847 in
seiner ständischen Gliederung (Herrenkurie, Dreiständekurie) dafür die Grundlage
gewesen wäre; aber die Macht der französisch-konstitutionellen Idee war so
stark, daß das nicht gelang, daß vielmehr die preußische Verfassung vom
5- Dezember 1348 in der Hauptsache eine Nachahmung der belgischen wurde,
nur daß man deren obersten Satz: ton8 los xouvoirs oinaiuznt as ig, nation
nicht mit herübernahm, weil er der preußischen Geschichte ins Gesicht schlug.


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[0495] Schwächen und Fiktionen des modernen Parlamentarismus England, und von der englischen Selbstverwaltung, dem Unterbau des Parla¬ mentarismus, wußte er gar nichts. Aber sein Traumbild bestimmte zusammen mit der Nousseauischen Anschauung von der Volkssouveränität die Bestrebungen in den ersten Jahren der großen Revolution, und es wurde schließlich in der „Charte," der Verfassung vom 4. Juni 1814, verwirklicht: neben der aristo¬ kratischen „Kammer der Pairs," dem Oberhause, stand die gewühlte „Kammer der Abgeordneten," die freilich nur die Bourgeoisie, das besitzende Bürgertum vertrat. Aber der Unterbau einer Selbstverwaltung, also einer praktischen Schule für die regierenden Stände fehlte in Frankreich vollständig, denn der demokratische oder der monarchische Despotismus der Revolution hatte ihre im alten Frankreich vorhandnen Elemente gründlich zerstört und ein zentralisiertes, ganz monarchisches Berufsbeamtentum an ihre Stelle gesetzt. So trat das Leiden, woran schon die Konstituante von 1789, die Legislative von 1791 und der Konvent von 1792 schwer gekränkt hatten, daß praktisch völlig unge¬ schulte Abgeordnete nach luftigen, ganz doktrinären Theorien die Politik machten, auch in der neuen Volksvertretung bald wieder hervor, und der Gegen¬ satz zwischen einem sozusagen in der Luft schwebenden Parlament als dem Aus¬ druck eines rechtlich souveränen Volkswillens und dem despotischen, jeder Ne¬ gierung blind gehorchenden Beamtentum ist in Frankreich niemals überwunden worden. Wer dieses Beamtentum hat, der hat Frankreich; auf die Form der Regierung kommt gar nichts an. Diese französische Charte, nicht der englische Parlamentarismus unmittel¬ bar, ist nun das Vorbild für die konstitutionellen Verfassungen geworden, die zunächst im Mittel- und im kleinstaatlichen Deutschland seit 1816 verliehen wurden. Aber man verfuhr dabei doch ziemlich konservativ, knüpfte an die alten Grundlagen an. Die alten Stände wurden nicht schlechthin beseitigt, sondern nur mit mancher Vereinfachung und Ergänzung in die erste Kammer, oder wie man sonst das Oberhaus nannte, verwandelt, nur die zweite wurde aus Volkswahlen, aber mit beschränktem Wahlrecht gebildet. Von einer Über¬ tragung der französischen Volkssouverünitüt konnte vollends gar keine Rede sein. In den deutschen Einzelstaaten behauptete die erbliche Monarchie ihr selbständiges, historisches Recht und damit ihre selbständige Gewalt, ihre Souveränität, denn die Geschichte Deutschlands ist nun einmal monarchisch. Die Teile Deutschlands, die sich republikanisch entwickelt hatten, die Schweiz und die Niederlande, hatten sich schon längst vom Deutschen Reiche getrennt, und die vier freien Städte, die den Untergang des alten Reiches überlebten oder 1815 wieder hergestellt wurden, waren eben nur souveräne Gemeinden, aber keine wirklichen Staaten. Eine wesentlich verschiedne originelle Verfassung würde Preußen ausgebildet haben, wenn der Vereinigte Landtag von 1847 in seiner ständischen Gliederung (Herrenkurie, Dreiständekurie) dafür die Grundlage gewesen wäre; aber die Macht der französisch-konstitutionellen Idee war so stark, daß das nicht gelang, daß vielmehr die preußische Verfassung vom 5- Dezember 1348 in der Hauptsache eine Nachahmung der belgischen wurde, nur daß man deren obersten Satz: ton8 los xouvoirs oinaiuznt as ig, nation nicht mit herübernahm, weil er der preußischen Geschichte ins Gesicht schlug.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_293618/495>, abgerufen am 25.07.2024.