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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Staat in Deutschland schon deshalb ab, weil wir den preußischen Staat in seiner
Eigentümlichkeit und Lebenskraft erhalten wissen wollen. Kaiser Wilhelm der Erste
hat es einst bei einem Ausblick in die fernere Zukunft als wahrscheinlich bezeichnet,
daß seine Nachkommen in einem schönern Teile Deutschlands residieren konnten.
"Aber -- fügte er hinzu -- dann werden eines Tags die Preußen aufstehn und
fragen: wie ist uns deun? wir hatten doch einen König? wo ist denn der hinge¬
kommen?" Mit einem stärkern Hervortreten des preußischen Herrenhauses würde
der gesamte preußische Staatsgedanke und mit ihm auch das preußische Königtum
wieder mehr in den Vordergrund rücken. Je mehr der König von Preußen in
dem Kaiser aufgeht, desto größer ist die Gefahr, daß beide -- Königsherrschaft und
Kaisertum -- der umstrickenden und erwürgenden Gewalt des allgemeinen Stimm¬
rechts verfallen, wenigstens solange die Sozialdemokratie die von ihr organisierten
Massen mit dem heutigen Reichswahlrecht für ihre Zwecke mißbraucht. Denn
weniger in dem allgemeinen Stimmrecht an sich, sondern in der sozialdemokratischen
Massenorganisation und in einer sozialpolitischen Gesetzgebung, die diese Massen¬
organisation auf jede Weise fördert, liegt die Bedrohung unsers staatlichen Lebens.
Bei voller Einsetzung seiner verfassungsmäßigen Kräfte ist das preußische Herren¬
haus einer der stärksten Dämme gegen die sozialdemokratische Hochflut, und die
Führer der Sozialdemokratie sind sich darüber auch nicht im unklaren. Mit einem
auffälligen Aufwand gellender Schimpfreden hat der Vorwärts angekündigt, die
sozialdemokratische Partei werde die Reden des Herrn von Manteuffel und des
Grafen Mirbach als Massenflugblatt verbreiten. Wenn das in wahrheitsgetreuer
Form geschieht, kaun es uur erwünscht sein; vielleicht mehrt die Sozialdemokratie
dadurch die Zahl der Politiker, die den Mut finden, auch ihrerseits auszusprechen,
was in Millionen Herzen lebt.

Aus der großsprecherischer Ankündigung klingt doch nur die Furcht heraus,
daß die Neigung, noch ein oder zwei Menschenalter auf die Ergebnisse der Mauserung
der Sozialdemokratie zu warten -- eine Frist, die für diese mehr als ausreicht, ihre
Herrschaft über die Massen zu befestigen und damit zum mindesten einen starken
Einfluß auf die Gesetzgebung und auf die Zersetzung des ganzen Staatswesens zu
gewinnen --, auch an den maßgebenden Stellen etwas schneller abnehmen könnte,
als dies in weiten Kreisen ohnehin schon der Fall ist. Heute zieht sich die Sozial¬
demokratie vor einer ernsten Ankündigung, vor einem festen und entschlossenen
Willen noch ebenso zurück wie eine tumultuiereude Menge vor dem Trommelschlag
einer anrückenden Truppe; warten wir noch zehn weitere "Mauserungsjahre" ab,
so wird die Position der Sozialdemokratie nach menschlichem Ermessen eine weit
stärkere sein, falls inzwischen nicht andre Umstände unsrer innern Entwicklung zu
Hilfe kommen. Herr Professor Schmoller hat uns zwar im Herrenhause auf die
"Revisionisten" verwiesen, die demnächst die Führer der Partei sein würden, und
mit denen sich reden lasse. Wir können diesen Glauben nicht teilen. Gewiß
werden die revisionistischen Kreise in der Sozialdemokratie stark anwachsen und einen
gemäßigtem rechten Flügel in der Partei bilden, denn diese ist heute schon viel zu
groß, als daß sie sich einheitlich dirigieren ließe. Aber um so schärfer wird sich
der radikalere linke Flügel abheben und sich bei allen großen Entscheidungen als
der stärkere erweisen. Was soll denn die "revisionistische Reformpartei" der Zukunft
eigentlich noch "reformieren"? Der Staat ist den Massen gegenüber heute ohnehin
schon in der Lage Gretchens: Ich habe schon so viel für dich getan, daß mir zu tun
fast nichts mehr übrig bleibt.

Herr Schmoller sieht das Heilmittel in einer "gerechten Regierung," die
über den Klassen eine billige schiedsrichterliche Gewalt sei. Das Unglück ist nur,
daß die sozialdemokratisch organisierten Massen unter "Gerechtigkeit" etwas ganz
andres verstehn als der übrige Teil der Nation. Zwischen der Expropriation
des Besitzes und dessen Schutze besteht doch ein unüberbrückbarer Gegensatz.
Herr Professor Schmoller hat mit Recht als das eigentliche Unglück für Deutsch-


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Staat in Deutschland schon deshalb ab, weil wir den preußischen Staat in seiner
Eigentümlichkeit und Lebenskraft erhalten wissen wollen. Kaiser Wilhelm der Erste
hat es einst bei einem Ausblick in die fernere Zukunft als wahrscheinlich bezeichnet,
daß seine Nachkommen in einem schönern Teile Deutschlands residieren konnten.
„Aber — fügte er hinzu — dann werden eines Tags die Preußen aufstehn und
fragen: wie ist uns deun? wir hatten doch einen König? wo ist denn der hinge¬
kommen?" Mit einem stärkern Hervortreten des preußischen Herrenhauses würde
der gesamte preußische Staatsgedanke und mit ihm auch das preußische Königtum
wieder mehr in den Vordergrund rücken. Je mehr der König von Preußen in
dem Kaiser aufgeht, desto größer ist die Gefahr, daß beide — Königsherrschaft und
Kaisertum — der umstrickenden und erwürgenden Gewalt des allgemeinen Stimm¬
rechts verfallen, wenigstens solange die Sozialdemokratie die von ihr organisierten
Massen mit dem heutigen Reichswahlrecht für ihre Zwecke mißbraucht. Denn
weniger in dem allgemeinen Stimmrecht an sich, sondern in der sozialdemokratischen
Massenorganisation und in einer sozialpolitischen Gesetzgebung, die diese Massen¬
organisation auf jede Weise fördert, liegt die Bedrohung unsers staatlichen Lebens.
Bei voller Einsetzung seiner verfassungsmäßigen Kräfte ist das preußische Herren¬
haus einer der stärksten Dämme gegen die sozialdemokratische Hochflut, und die
Führer der Sozialdemokratie sind sich darüber auch nicht im unklaren. Mit einem
auffälligen Aufwand gellender Schimpfreden hat der Vorwärts angekündigt, die
sozialdemokratische Partei werde die Reden des Herrn von Manteuffel und des
Grafen Mirbach als Massenflugblatt verbreiten. Wenn das in wahrheitsgetreuer
Form geschieht, kaun es uur erwünscht sein; vielleicht mehrt die Sozialdemokratie
dadurch die Zahl der Politiker, die den Mut finden, auch ihrerseits auszusprechen,
was in Millionen Herzen lebt.

Aus der großsprecherischer Ankündigung klingt doch nur die Furcht heraus,
daß die Neigung, noch ein oder zwei Menschenalter auf die Ergebnisse der Mauserung
der Sozialdemokratie zu warten — eine Frist, die für diese mehr als ausreicht, ihre
Herrschaft über die Massen zu befestigen und damit zum mindesten einen starken
Einfluß auf die Gesetzgebung und auf die Zersetzung des ganzen Staatswesens zu
gewinnen —, auch an den maßgebenden Stellen etwas schneller abnehmen könnte,
als dies in weiten Kreisen ohnehin schon der Fall ist. Heute zieht sich die Sozial¬
demokratie vor einer ernsten Ankündigung, vor einem festen und entschlossenen
Willen noch ebenso zurück wie eine tumultuiereude Menge vor dem Trommelschlag
einer anrückenden Truppe; warten wir noch zehn weitere „Mauserungsjahre" ab,
so wird die Position der Sozialdemokratie nach menschlichem Ermessen eine weit
stärkere sein, falls inzwischen nicht andre Umstände unsrer innern Entwicklung zu
Hilfe kommen. Herr Professor Schmoller hat uns zwar im Herrenhause auf die
„Revisionisten" verwiesen, die demnächst die Führer der Partei sein würden, und
mit denen sich reden lasse. Wir können diesen Glauben nicht teilen. Gewiß
werden die revisionistischen Kreise in der Sozialdemokratie stark anwachsen und einen
gemäßigtem rechten Flügel in der Partei bilden, denn diese ist heute schon viel zu
groß, als daß sie sich einheitlich dirigieren ließe. Aber um so schärfer wird sich
der radikalere linke Flügel abheben und sich bei allen großen Entscheidungen als
der stärkere erweisen. Was soll denn die „revisionistische Reformpartei" der Zukunft
eigentlich noch „reformieren"? Der Staat ist den Massen gegenüber heute ohnehin
schon in der Lage Gretchens: Ich habe schon so viel für dich getan, daß mir zu tun
fast nichts mehr übrig bleibt.

Herr Schmoller sieht das Heilmittel in einer „gerechten Regierung," die
über den Klassen eine billige schiedsrichterliche Gewalt sei. Das Unglück ist nur,
daß die sozialdemokratisch organisierten Massen unter „Gerechtigkeit" etwas ganz
andres verstehn als der übrige Teil der Nation. Zwischen der Expropriation
des Besitzes und dessen Schutze besteht doch ein unüberbrückbarer Gegensatz.
Herr Professor Schmoller hat mit Recht als das eigentliche Unglück für Deutsch-


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[0426] Maßgebliches und Unmaßgebliches Staat in Deutschland schon deshalb ab, weil wir den preußischen Staat in seiner Eigentümlichkeit und Lebenskraft erhalten wissen wollen. Kaiser Wilhelm der Erste hat es einst bei einem Ausblick in die fernere Zukunft als wahrscheinlich bezeichnet, daß seine Nachkommen in einem schönern Teile Deutschlands residieren konnten. „Aber — fügte er hinzu — dann werden eines Tags die Preußen aufstehn und fragen: wie ist uns deun? wir hatten doch einen König? wo ist denn der hinge¬ kommen?" Mit einem stärkern Hervortreten des preußischen Herrenhauses würde der gesamte preußische Staatsgedanke und mit ihm auch das preußische Königtum wieder mehr in den Vordergrund rücken. Je mehr der König von Preußen in dem Kaiser aufgeht, desto größer ist die Gefahr, daß beide — Königsherrschaft und Kaisertum — der umstrickenden und erwürgenden Gewalt des allgemeinen Stimm¬ rechts verfallen, wenigstens solange die Sozialdemokratie die von ihr organisierten Massen mit dem heutigen Reichswahlrecht für ihre Zwecke mißbraucht. Denn weniger in dem allgemeinen Stimmrecht an sich, sondern in der sozialdemokratischen Massenorganisation und in einer sozialpolitischen Gesetzgebung, die diese Massen¬ organisation auf jede Weise fördert, liegt die Bedrohung unsers staatlichen Lebens. Bei voller Einsetzung seiner verfassungsmäßigen Kräfte ist das preußische Herren¬ haus einer der stärksten Dämme gegen die sozialdemokratische Hochflut, und die Führer der Sozialdemokratie sind sich darüber auch nicht im unklaren. Mit einem auffälligen Aufwand gellender Schimpfreden hat der Vorwärts angekündigt, die sozialdemokratische Partei werde die Reden des Herrn von Manteuffel und des Grafen Mirbach als Massenflugblatt verbreiten. Wenn das in wahrheitsgetreuer Form geschieht, kaun es uur erwünscht sein; vielleicht mehrt die Sozialdemokratie dadurch die Zahl der Politiker, die den Mut finden, auch ihrerseits auszusprechen, was in Millionen Herzen lebt. Aus der großsprecherischer Ankündigung klingt doch nur die Furcht heraus, daß die Neigung, noch ein oder zwei Menschenalter auf die Ergebnisse der Mauserung der Sozialdemokratie zu warten — eine Frist, die für diese mehr als ausreicht, ihre Herrschaft über die Massen zu befestigen und damit zum mindesten einen starken Einfluß auf die Gesetzgebung und auf die Zersetzung des ganzen Staatswesens zu gewinnen —, auch an den maßgebenden Stellen etwas schneller abnehmen könnte, als dies in weiten Kreisen ohnehin schon der Fall ist. Heute zieht sich die Sozial¬ demokratie vor einer ernsten Ankündigung, vor einem festen und entschlossenen Willen noch ebenso zurück wie eine tumultuiereude Menge vor dem Trommelschlag einer anrückenden Truppe; warten wir noch zehn weitere „Mauserungsjahre" ab, so wird die Position der Sozialdemokratie nach menschlichem Ermessen eine weit stärkere sein, falls inzwischen nicht andre Umstände unsrer innern Entwicklung zu Hilfe kommen. Herr Professor Schmoller hat uns zwar im Herrenhause auf die „Revisionisten" verwiesen, die demnächst die Führer der Partei sein würden, und mit denen sich reden lasse. Wir können diesen Glauben nicht teilen. Gewiß werden die revisionistischen Kreise in der Sozialdemokratie stark anwachsen und einen gemäßigtem rechten Flügel in der Partei bilden, denn diese ist heute schon viel zu groß, als daß sie sich einheitlich dirigieren ließe. Aber um so schärfer wird sich der radikalere linke Flügel abheben und sich bei allen großen Entscheidungen als der stärkere erweisen. Was soll denn die „revisionistische Reformpartei" der Zukunft eigentlich noch „reformieren"? Der Staat ist den Massen gegenüber heute ohnehin schon in der Lage Gretchens: Ich habe schon so viel für dich getan, daß mir zu tun fast nichts mehr übrig bleibt. Herr Schmoller sieht das Heilmittel in einer „gerechten Regierung," die über den Klassen eine billige schiedsrichterliche Gewalt sei. Das Unglück ist nur, daß die sozialdemokratisch organisierten Massen unter „Gerechtigkeit" etwas ganz andres verstehn als der übrige Teil der Nation. Zwischen der Expropriation des Besitzes und dessen Schutze besteht doch ein unüberbrückbarer Gegensatz. Herr Professor Schmoller hat mit Recht als das eigentliche Unglück für Deutsch-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_293618/426>, abgerufen am 02.07.2024.