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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr.

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Italien und Frankreich

richtet. Andrerseits meinen ruhig urteilende Italiener, daß diese Form des
Besuchs die Spannung zwischen dem Quirinal und dem Vatikan, deren Mil¬
derung oder Beseitigung ein italienisches Interesse sei, nur verschärft und damit
Italien geschadet habe.

Der zweite Punkt des "Einverständnisses" ist sicherlich die offizielle Be¬
stätigung der Aufhebung des französisch-italienischen Gegensatzes im Mittelmeer,
also die Anerkennung des französischen Protektorats über Tunis (und Marokko).
Die Kompensation kann dann nur in der Anerkennung der italienischen An¬
sprüche auf Tripolis liegen, deren Verwirklichung freilich noch nicht so bald
zu erwarten ist. Dazu hofft man in Italien, daß Frankreich, da es selbst
gar nicht die Menschenkräfte hat, das nordafrikanische Küstenland wirklich zu
kolonisieren, den italienischen Einwandrern hier freie Hand lassen werde, daß
es ihnen also die wirtschaftliche Arbeit und den Gewinn daraus überlasse und
sich mit der Ehre und der Last der Regierung begnüge. Aber andre wenden
hier ein, Italien werde Tunis niemals vergessen, und in der Tat würde es
für Frankreich ein sehr unsicherer Besitz werden, wenn die italienische Ein¬
wanderung namentlich aus Sizilien in der bisherigen Weise fortdauert; denn
die Kolonisten sind meist Bauern, die sich in Afrika ansässig machen. Sicher ist
endlich, daß Italien nunmehr von jeder Furcht vor Frankreich befreit ist. Daß
das französisch-italienische "Einverständnis" das Verhältnis Italiens zum
Dreibuude berühre, wird dort aufs entschiedenste bestritten; Italien nehme
hier nur dasselbe Recht für sich in Anspruch, das Fürst Bismarck für Deutsch¬
land ausgeübt habe, als er im Jahre 1887 den geheimen "Nnckversichcrungs-
vertrag" mit Rußland schloß. Auch hat ja die Zusammenkunft des neuen
Ministers des Auswärtigen, Tittoni, mit dem Grafen Golnchowski in Abbazia
bewiesen, daß er bestrebt ist, jeden Stein des Anstoßes in dem Verhältnis der
beiden Nachbarmüchtc, zu dem Albanien und die Valkanfragen überhaupt uuter
Umstünden werden könnten, aus den? Wege zu räumen, und die Trinksprüche,
die zwischen unserm Kaiser und dem König von Italien in Neapel ausge¬
tauscht worden sind, haben das Bundesverhältnis zwischen beiden wieder in
der wärmsten und nachdrücklichsten Weise betont, natürlich im Hinblick auf die
bevorstehende Ankunft Lonbets; auch zeigt ja der begeisterte Empfang, den der
Kaiser in Süditalien und in Sizilien überall beim Volke gefunden hat, daß
das Bündnis bei den Italienern tiefe Wurzeln geschlagen hat. Die Italiener,
die sich so leicht zu enthusiasmieren scheinen, sind in praktischen Fragen eben
viel zu nüchtern und zu klug, als daß sie sich nicht sagten, die jetzige Ab¬
wendung Frankreichs vom Vatikan sei ebenso von der innern französischen
Politik, also in diesem Falle von dem "Kulturkampf" gegen die Orden ab¬
hängig, wie es frühere Phasen in dem Verhältnis zu Italien und zu Rom
gewesen sind, und diese Politik könne sich auch einmal wieder ändern; die
Verhältnisse im monarchischen Mitteleuropa seien viel beständiger, und am
Dreibunde habe Italien seit mehr als zwanzig Jahren einen festen Halt ge¬
funden.

Nun gibt es freilich Schwarzseher in Deutschland, die eine französisch¬
englisch-italienische Koalition gegen uns schon fertig sehen und über die


Italien und Frankreich

richtet. Andrerseits meinen ruhig urteilende Italiener, daß diese Form des
Besuchs die Spannung zwischen dem Quirinal und dem Vatikan, deren Mil¬
derung oder Beseitigung ein italienisches Interesse sei, nur verschärft und damit
Italien geschadet habe.

Der zweite Punkt des „Einverständnisses" ist sicherlich die offizielle Be¬
stätigung der Aufhebung des französisch-italienischen Gegensatzes im Mittelmeer,
also die Anerkennung des französischen Protektorats über Tunis (und Marokko).
Die Kompensation kann dann nur in der Anerkennung der italienischen An¬
sprüche auf Tripolis liegen, deren Verwirklichung freilich noch nicht so bald
zu erwarten ist. Dazu hofft man in Italien, daß Frankreich, da es selbst
gar nicht die Menschenkräfte hat, das nordafrikanische Küstenland wirklich zu
kolonisieren, den italienischen Einwandrern hier freie Hand lassen werde, daß
es ihnen also die wirtschaftliche Arbeit und den Gewinn daraus überlasse und
sich mit der Ehre und der Last der Regierung begnüge. Aber andre wenden
hier ein, Italien werde Tunis niemals vergessen, und in der Tat würde es
für Frankreich ein sehr unsicherer Besitz werden, wenn die italienische Ein¬
wanderung namentlich aus Sizilien in der bisherigen Weise fortdauert; denn
die Kolonisten sind meist Bauern, die sich in Afrika ansässig machen. Sicher ist
endlich, daß Italien nunmehr von jeder Furcht vor Frankreich befreit ist. Daß
das französisch-italienische „Einverständnis" das Verhältnis Italiens zum
Dreibuude berühre, wird dort aufs entschiedenste bestritten; Italien nehme
hier nur dasselbe Recht für sich in Anspruch, das Fürst Bismarck für Deutsch¬
land ausgeübt habe, als er im Jahre 1887 den geheimen „Nnckversichcrungs-
vertrag" mit Rußland schloß. Auch hat ja die Zusammenkunft des neuen
Ministers des Auswärtigen, Tittoni, mit dem Grafen Golnchowski in Abbazia
bewiesen, daß er bestrebt ist, jeden Stein des Anstoßes in dem Verhältnis der
beiden Nachbarmüchtc, zu dem Albanien und die Valkanfragen überhaupt uuter
Umstünden werden könnten, aus den? Wege zu räumen, und die Trinksprüche,
die zwischen unserm Kaiser und dem König von Italien in Neapel ausge¬
tauscht worden sind, haben das Bundesverhältnis zwischen beiden wieder in
der wärmsten und nachdrücklichsten Weise betont, natürlich im Hinblick auf die
bevorstehende Ankunft Lonbets; auch zeigt ja der begeisterte Empfang, den der
Kaiser in Süditalien und in Sizilien überall beim Volke gefunden hat, daß
das Bündnis bei den Italienern tiefe Wurzeln geschlagen hat. Die Italiener,
die sich so leicht zu enthusiasmieren scheinen, sind in praktischen Fragen eben
viel zu nüchtern und zu klug, als daß sie sich nicht sagten, die jetzige Ab¬
wendung Frankreichs vom Vatikan sei ebenso von der innern französischen
Politik, also in diesem Falle von dem „Kulturkampf" gegen die Orden ab¬
hängig, wie es frühere Phasen in dem Verhältnis zu Italien und zu Rom
gewesen sind, und diese Politik könne sich auch einmal wieder ändern; die
Verhältnisse im monarchischen Mitteleuropa seien viel beständiger, und am
Dreibunde habe Italien seit mehr als zwanzig Jahren einen festen Halt ge¬
funden.

Nun gibt es freilich Schwarzseher in Deutschland, die eine französisch¬
englisch-italienische Koalition gegen uns schon fertig sehen und über die


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[0376] Italien und Frankreich richtet. Andrerseits meinen ruhig urteilende Italiener, daß diese Form des Besuchs die Spannung zwischen dem Quirinal und dem Vatikan, deren Mil¬ derung oder Beseitigung ein italienisches Interesse sei, nur verschärft und damit Italien geschadet habe. Der zweite Punkt des „Einverständnisses" ist sicherlich die offizielle Be¬ stätigung der Aufhebung des französisch-italienischen Gegensatzes im Mittelmeer, also die Anerkennung des französischen Protektorats über Tunis (und Marokko). Die Kompensation kann dann nur in der Anerkennung der italienischen An¬ sprüche auf Tripolis liegen, deren Verwirklichung freilich noch nicht so bald zu erwarten ist. Dazu hofft man in Italien, daß Frankreich, da es selbst gar nicht die Menschenkräfte hat, das nordafrikanische Küstenland wirklich zu kolonisieren, den italienischen Einwandrern hier freie Hand lassen werde, daß es ihnen also die wirtschaftliche Arbeit und den Gewinn daraus überlasse und sich mit der Ehre und der Last der Regierung begnüge. Aber andre wenden hier ein, Italien werde Tunis niemals vergessen, und in der Tat würde es für Frankreich ein sehr unsicherer Besitz werden, wenn die italienische Ein¬ wanderung namentlich aus Sizilien in der bisherigen Weise fortdauert; denn die Kolonisten sind meist Bauern, die sich in Afrika ansässig machen. Sicher ist endlich, daß Italien nunmehr von jeder Furcht vor Frankreich befreit ist. Daß das französisch-italienische „Einverständnis" das Verhältnis Italiens zum Dreibuude berühre, wird dort aufs entschiedenste bestritten; Italien nehme hier nur dasselbe Recht für sich in Anspruch, das Fürst Bismarck für Deutsch¬ land ausgeübt habe, als er im Jahre 1887 den geheimen „Nnckversichcrungs- vertrag" mit Rußland schloß. Auch hat ja die Zusammenkunft des neuen Ministers des Auswärtigen, Tittoni, mit dem Grafen Golnchowski in Abbazia bewiesen, daß er bestrebt ist, jeden Stein des Anstoßes in dem Verhältnis der beiden Nachbarmüchtc, zu dem Albanien und die Valkanfragen überhaupt uuter Umstünden werden könnten, aus den? Wege zu räumen, und die Trinksprüche, die zwischen unserm Kaiser und dem König von Italien in Neapel ausge¬ tauscht worden sind, haben das Bundesverhältnis zwischen beiden wieder in der wärmsten und nachdrücklichsten Weise betont, natürlich im Hinblick auf die bevorstehende Ankunft Lonbets; auch zeigt ja der begeisterte Empfang, den der Kaiser in Süditalien und in Sizilien überall beim Volke gefunden hat, daß das Bündnis bei den Italienern tiefe Wurzeln geschlagen hat. Die Italiener, die sich so leicht zu enthusiasmieren scheinen, sind in praktischen Fragen eben viel zu nüchtern und zu klug, als daß sie sich nicht sagten, die jetzige Ab¬ wendung Frankreichs vom Vatikan sei ebenso von der innern französischen Politik, also in diesem Falle von dem „Kulturkampf" gegen die Orden ab¬ hängig, wie es frühere Phasen in dem Verhältnis zu Italien und zu Rom gewesen sind, und diese Politik könne sich auch einmal wieder ändern; die Verhältnisse im monarchischen Mitteleuropa seien viel beständiger, und am Dreibunde habe Italien seit mehr als zwanzig Jahren einen festen Halt ge¬ funden. Nun gibt es freilich Schwarzseher in Deutschland, die eine französisch¬ englisch-italienische Koalition gegen uns schon fertig sehen und über die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_293618/376>, abgerufen am 04.07.2024.