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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr.

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Christus und die Gegenwart

freisprechen würde, weil sie unter dem Zwang bestimmter Vorstellungen und
Verhältnisse handelten und somit für ihr Tun nicht verantwortlich wären?

Die allzu freisinnigen Theologen sind der Beweis dafür, daß die Kluft
zwischen dem religiösen und dem weltlichen Geistesleben des Volks heute weiter
klafft als vor hundertfünfzig Jahren. Der kirchliche Protestantismus hat sich
verdrängen lassen von dem weltlichen Protestantismus, der sich zuerst auf
dem Gebiet der Geisteswissenschaften' und der schönen Künste auszeichnete, dann
aber auch die praktischen Lebensgebiete, vor allem das Staatsleben ergriff,
den staunenden Blicken der Mitwelt die große Werkstatt der Natur erschloß
und dabei den Reichtum von Kulturmüchtcn und Kulturgütern entfaltete, der
seit langem Herz, Geist und Sinn der abendländischen Welt und auch unsers
deutschen Volks gefangen hüte -- leider auf Kosten des evangelischen Glaubens
und der evangelischen Kirche. Wie nahe lag es da, daß geistbegabte Männer
auftraten, die die Vermittlung und die Versöhnung zwischen Kultur und Kirche
anzubahnen strebten. Von unlauter" Absichten darf hier nicht gesprochen
werden. Wer Amt und Haus verläßt wegen freimütiger Rede, der verdient
ein andres Los als üble Nachrede.

Es scheint, als ob sich die Amtsentsetzungen nicht mehr so häuften wie
früher. Wann werden die Brüder, die in ein Haus gehören, lernen, sich
gegenseitig zu ergänzen und gut miteinander auszukommen?

Nur ihre Vorurteile müßten beide Teile ablegen, nur ein wenig Be¬
lehrung müßten sie gegenseitig annehmen, den stolzen Geist beugen, den geist¬
lichen Hochmut lassen, die gemeinsamen Berührungs- und Fühlungspunkte
stärker hervorheben, den guten Willen, die Liebe zu Christus und seinem Reich
anerkennen: dann würde der Friede bald einkehren. Solange aber die Be¬
kenntnistreuen die Gegner als Ungläubige behandeln und die Liberalen von
Reaktion und Aberglauben reden, kann sich die Lage nicht bessern.

Eine Theologie, die es betont, daß die von dem geschichtlichen Christus aus¬
gehenden Wirkungen heute noch da sind und uns zu ihm in ein persönliches
Verhältnis setzen, darf doch wohl Achtung beanspruchen und braucht nicht von
vornherein und um jeden Preis als Höllengebräu verurteilt zu werden. Wie
viele erleuchtete Geister, tiefe Forscher, religiöse Naturen, lautere, fromme, wahr¬
haft christliche Charaktere hat diese Theologie schon hervorgebracht und zählt
sie zu den ihrigen. Der Wert jeder Kirchengemeinschaft bemißt sich im letzten
Grunde doch danach, welche sittlichen Früchte sie aufweisen kann. Diese aber
finden sich tausendfach in der Wissenschaft und im praktischen Leben, auf Kathedern
und auf Kanzeln, in den Häusern, ans der Gasse, an Krankenbetten, in Palästen
und in Hütten.

Oder glaubt man im Ernst durch Hader und Streit das Vertrauen und
die Sympathie einer gottentfremdeten Welt zurückgewinnen zu können? Gibt
es denn gar nichts Gemeinsames? Streben nach Versöhnung mit Gott, nach
Vervollkommnung des christlichen Ideals, Wertlegen auf rettende barmherzige
Menschenliebe, anbetende Bewunderung des großen Gottes- und Menschen-
sohnes, kurz alle die lebenskräftigen Wahrheiten und Grundsätze des persön¬
lichen, häuslichen, bürgerlichen und sozialen Lebens, die im Evangelium ihre


Christus und die Gegenwart

freisprechen würde, weil sie unter dem Zwang bestimmter Vorstellungen und
Verhältnisse handelten und somit für ihr Tun nicht verantwortlich wären?

Die allzu freisinnigen Theologen sind der Beweis dafür, daß die Kluft
zwischen dem religiösen und dem weltlichen Geistesleben des Volks heute weiter
klafft als vor hundertfünfzig Jahren. Der kirchliche Protestantismus hat sich
verdrängen lassen von dem weltlichen Protestantismus, der sich zuerst auf
dem Gebiet der Geisteswissenschaften' und der schönen Künste auszeichnete, dann
aber auch die praktischen Lebensgebiete, vor allem das Staatsleben ergriff,
den staunenden Blicken der Mitwelt die große Werkstatt der Natur erschloß
und dabei den Reichtum von Kulturmüchtcn und Kulturgütern entfaltete, der
seit langem Herz, Geist und Sinn der abendländischen Welt und auch unsers
deutschen Volks gefangen hüte — leider auf Kosten des evangelischen Glaubens
und der evangelischen Kirche. Wie nahe lag es da, daß geistbegabte Männer
auftraten, die die Vermittlung und die Versöhnung zwischen Kultur und Kirche
anzubahnen strebten. Von unlauter« Absichten darf hier nicht gesprochen
werden. Wer Amt und Haus verläßt wegen freimütiger Rede, der verdient
ein andres Los als üble Nachrede.

Es scheint, als ob sich die Amtsentsetzungen nicht mehr so häuften wie
früher. Wann werden die Brüder, die in ein Haus gehören, lernen, sich
gegenseitig zu ergänzen und gut miteinander auszukommen?

Nur ihre Vorurteile müßten beide Teile ablegen, nur ein wenig Be¬
lehrung müßten sie gegenseitig annehmen, den stolzen Geist beugen, den geist¬
lichen Hochmut lassen, die gemeinsamen Berührungs- und Fühlungspunkte
stärker hervorheben, den guten Willen, die Liebe zu Christus und seinem Reich
anerkennen: dann würde der Friede bald einkehren. Solange aber die Be¬
kenntnistreuen die Gegner als Ungläubige behandeln und die Liberalen von
Reaktion und Aberglauben reden, kann sich die Lage nicht bessern.

Eine Theologie, die es betont, daß die von dem geschichtlichen Christus aus¬
gehenden Wirkungen heute noch da sind und uns zu ihm in ein persönliches
Verhältnis setzen, darf doch wohl Achtung beanspruchen und braucht nicht von
vornherein und um jeden Preis als Höllengebräu verurteilt zu werden. Wie
viele erleuchtete Geister, tiefe Forscher, religiöse Naturen, lautere, fromme, wahr¬
haft christliche Charaktere hat diese Theologie schon hervorgebracht und zählt
sie zu den ihrigen. Der Wert jeder Kirchengemeinschaft bemißt sich im letzten
Grunde doch danach, welche sittlichen Früchte sie aufweisen kann. Diese aber
finden sich tausendfach in der Wissenschaft und im praktischen Leben, auf Kathedern
und auf Kanzeln, in den Häusern, ans der Gasse, an Krankenbetten, in Palästen
und in Hütten.

Oder glaubt man im Ernst durch Hader und Streit das Vertrauen und
die Sympathie einer gottentfremdeten Welt zurückgewinnen zu können? Gibt
es denn gar nichts Gemeinsames? Streben nach Versöhnung mit Gott, nach
Vervollkommnung des christlichen Ideals, Wertlegen auf rettende barmherzige
Menschenliebe, anbetende Bewunderung des großen Gottes- und Menschen-
sohnes, kurz alle die lebenskräftigen Wahrheiten und Grundsätze des persön¬
lichen, häuslichen, bürgerlichen und sozialen Lebens, die im Evangelium ihre


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_293618/330>, abgerufen am 25.07.2024.