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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr.

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Witwen- und Maisenversichernng an Stelle der Invalidenversicherung

doch nicht einmal die Hand, sondern nur einen Finger gebrochen. Und darin
hat sie Recht; die Müllern hat eine Rente als Zugabe zu ihrer vollen
Erwerbsfähigkeit. Solche Falle gibt es unzählige.

Nun ist es gewiß kein Unglück, wenn eine arme Waschfrau eine Rente
kriegt, die sie laut Gesetz eigentlich nicht kriegen sollte. Aber das ist doch
ein Unglück. Wie darf das Geld, das vielen Einzelnen zwangsweise genommen
ist, die es vielleicht sehr nötig brauchten, ausgeteilt werden an Leute, die es
nicht brauchen? Was im Weggeben als Mildtätigkeit erscheint, ist dort im
Eintreiben Hartherzigkeit. Auch der Reichszuschuß ist nicht dazu da, diese
Art Mildtütigkeit zu finanzieren; denn er kommt auch nicht von reichen Wohl¬
tätern, sondern aus dem Steueraufwand der Armen.

Das Gesetz verspricht ein festes Recht. Aber neben dem guten Recht des
Invaliden, der wirklich weniger als ein Drittel erwerbsfähig ist, versucht auch
die Bettelei, nach der Wurst zu springen, und sie erreicht sie nur zu oft. Ja es
ist sogar keine rechte Grenze zu ziehn zwischen dem Bettler und dem, der sein
gutes Recht verlangt. Das ist das Schlimmste. Dieses Gesetz zwingt geradezu
zur Rentenschleicherei und -betrügerei. Es zwingt jeden, nach folgender Er¬
wägung zu handeln: Da ist das viele Geld auf der Versicherungsanstalt.
Alle Welt bemüht sich, etwas davon zu kriegen. Du hast auch dein Teil
hineingezahlt; sieh zu, daß du es wieder herauskriegst. Es gibt freilich ehr¬
würdige alte Arbeiter, die es auch in der Not für Ehrensache halten, keine
Invalidenrente zu nehmen, weil sie Armenunterstützung hassen. Aber gerade
damit verkennen sie den guten Willen und verhindern den guten Zweck des
Gesetzes. Die andern, die ihr Recht bis ans Ende verfolgen, verstehn es
richtiger.

Nun wird man sagen: Es ist nicht die Schuld des Gesetzes, wenn es
zu leichtsinnig ausgeführt wird. Der Paragraph muß richtig angewandt
werden, und die Rentenempfänger müssen kontrolliert werden, ob sie erwerbs¬
unfähig bleiben.

Bitte nein, vor allen" das nicht. Dann würden alle Schäden des Gesetzes
nur multipliziert erscheinen. Der Zwang zu einer Versicherung, worin das
fällige Recht unklar ist und immer sein muß, und nun sogar noch durch
büreaukratische Schikanen verbaut wird, würde dem deutschen Volk in wenig
Jahren muss äußerste verhaßt, und das ganze Gesetz würde zum Ekel werden,
was in längerer Zeit vielleicht auch ohnedem geschieht.

Wenn der Satz wahr ist, daß ein Versicherungsgeschüft nur dann reell
ist, wenn die Bedingungen, woran die Fälligkeit des versicherten Anspruchs
geknüpft ist, absolut klar und eindeutig siud. so ist dieses Reichsversichcrungs-
zwangsgesetz nicht reell und darum kein Segen für das Volk, wenn anch die
eingesammelten und wieder ausgeteilten Gelder in die hundert Millionen gehn.
Möge uns kein andres Volk darum beneiden.

Der Fehler des Gesetzes liegt in seinem innersten Kern, in dem unklaren
Begriff "Invalidität."

Jeder gute Hausvater geht eine Lebensversicherung ein, oder was das¬
selbe ist. eine Witwen- und Waisenversicherung; denn er versichert zugunsten


Witwen- und Maisenversichernng an Stelle der Invalidenversicherung

doch nicht einmal die Hand, sondern nur einen Finger gebrochen. Und darin
hat sie Recht; die Müllern hat eine Rente als Zugabe zu ihrer vollen
Erwerbsfähigkeit. Solche Falle gibt es unzählige.

Nun ist es gewiß kein Unglück, wenn eine arme Waschfrau eine Rente
kriegt, die sie laut Gesetz eigentlich nicht kriegen sollte. Aber das ist doch
ein Unglück. Wie darf das Geld, das vielen Einzelnen zwangsweise genommen
ist, die es vielleicht sehr nötig brauchten, ausgeteilt werden an Leute, die es
nicht brauchen? Was im Weggeben als Mildtätigkeit erscheint, ist dort im
Eintreiben Hartherzigkeit. Auch der Reichszuschuß ist nicht dazu da, diese
Art Mildtütigkeit zu finanzieren; denn er kommt auch nicht von reichen Wohl¬
tätern, sondern aus dem Steueraufwand der Armen.

Das Gesetz verspricht ein festes Recht. Aber neben dem guten Recht des
Invaliden, der wirklich weniger als ein Drittel erwerbsfähig ist, versucht auch
die Bettelei, nach der Wurst zu springen, und sie erreicht sie nur zu oft. Ja es
ist sogar keine rechte Grenze zu ziehn zwischen dem Bettler und dem, der sein
gutes Recht verlangt. Das ist das Schlimmste. Dieses Gesetz zwingt geradezu
zur Rentenschleicherei und -betrügerei. Es zwingt jeden, nach folgender Er¬
wägung zu handeln: Da ist das viele Geld auf der Versicherungsanstalt.
Alle Welt bemüht sich, etwas davon zu kriegen. Du hast auch dein Teil
hineingezahlt; sieh zu, daß du es wieder herauskriegst. Es gibt freilich ehr¬
würdige alte Arbeiter, die es auch in der Not für Ehrensache halten, keine
Invalidenrente zu nehmen, weil sie Armenunterstützung hassen. Aber gerade
damit verkennen sie den guten Willen und verhindern den guten Zweck des
Gesetzes. Die andern, die ihr Recht bis ans Ende verfolgen, verstehn es
richtiger.

Nun wird man sagen: Es ist nicht die Schuld des Gesetzes, wenn es
zu leichtsinnig ausgeführt wird. Der Paragraph muß richtig angewandt
werden, und die Rentenempfänger müssen kontrolliert werden, ob sie erwerbs¬
unfähig bleiben.

Bitte nein, vor allen« das nicht. Dann würden alle Schäden des Gesetzes
nur multipliziert erscheinen. Der Zwang zu einer Versicherung, worin das
fällige Recht unklar ist und immer sein muß, und nun sogar noch durch
büreaukratische Schikanen verbaut wird, würde dem deutschen Volk in wenig
Jahren muss äußerste verhaßt, und das ganze Gesetz würde zum Ekel werden,
was in längerer Zeit vielleicht auch ohnedem geschieht.

Wenn der Satz wahr ist, daß ein Versicherungsgeschüft nur dann reell
ist, wenn die Bedingungen, woran die Fälligkeit des versicherten Anspruchs
geknüpft ist, absolut klar und eindeutig siud. so ist dieses Reichsversichcrungs-
zwangsgesetz nicht reell und darum kein Segen für das Volk, wenn anch die
eingesammelten und wieder ausgeteilten Gelder in die hundert Millionen gehn.
Möge uns kein andres Volk darum beneiden.

Der Fehler des Gesetzes liegt in seinem innersten Kern, in dem unklaren
Begriff „Invalidität."

Jeder gute Hausvater geht eine Lebensversicherung ein, oder was das¬
selbe ist. eine Witwen- und Waisenversicherung; denn er versichert zugunsten


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[0261] Witwen- und Maisenversichernng an Stelle der Invalidenversicherung doch nicht einmal die Hand, sondern nur einen Finger gebrochen. Und darin hat sie Recht; die Müllern hat eine Rente als Zugabe zu ihrer vollen Erwerbsfähigkeit. Solche Falle gibt es unzählige. Nun ist es gewiß kein Unglück, wenn eine arme Waschfrau eine Rente kriegt, die sie laut Gesetz eigentlich nicht kriegen sollte. Aber das ist doch ein Unglück. Wie darf das Geld, das vielen Einzelnen zwangsweise genommen ist, die es vielleicht sehr nötig brauchten, ausgeteilt werden an Leute, die es nicht brauchen? Was im Weggeben als Mildtätigkeit erscheint, ist dort im Eintreiben Hartherzigkeit. Auch der Reichszuschuß ist nicht dazu da, diese Art Mildtütigkeit zu finanzieren; denn er kommt auch nicht von reichen Wohl¬ tätern, sondern aus dem Steueraufwand der Armen. Das Gesetz verspricht ein festes Recht. Aber neben dem guten Recht des Invaliden, der wirklich weniger als ein Drittel erwerbsfähig ist, versucht auch die Bettelei, nach der Wurst zu springen, und sie erreicht sie nur zu oft. Ja es ist sogar keine rechte Grenze zu ziehn zwischen dem Bettler und dem, der sein gutes Recht verlangt. Das ist das Schlimmste. Dieses Gesetz zwingt geradezu zur Rentenschleicherei und -betrügerei. Es zwingt jeden, nach folgender Er¬ wägung zu handeln: Da ist das viele Geld auf der Versicherungsanstalt. Alle Welt bemüht sich, etwas davon zu kriegen. Du hast auch dein Teil hineingezahlt; sieh zu, daß du es wieder herauskriegst. Es gibt freilich ehr¬ würdige alte Arbeiter, die es auch in der Not für Ehrensache halten, keine Invalidenrente zu nehmen, weil sie Armenunterstützung hassen. Aber gerade damit verkennen sie den guten Willen und verhindern den guten Zweck des Gesetzes. Die andern, die ihr Recht bis ans Ende verfolgen, verstehn es richtiger. Nun wird man sagen: Es ist nicht die Schuld des Gesetzes, wenn es zu leichtsinnig ausgeführt wird. Der Paragraph muß richtig angewandt werden, und die Rentenempfänger müssen kontrolliert werden, ob sie erwerbs¬ unfähig bleiben. Bitte nein, vor allen« das nicht. Dann würden alle Schäden des Gesetzes nur multipliziert erscheinen. Der Zwang zu einer Versicherung, worin das fällige Recht unklar ist und immer sein muß, und nun sogar noch durch büreaukratische Schikanen verbaut wird, würde dem deutschen Volk in wenig Jahren muss äußerste verhaßt, und das ganze Gesetz würde zum Ekel werden, was in längerer Zeit vielleicht auch ohnedem geschieht. Wenn der Satz wahr ist, daß ein Versicherungsgeschüft nur dann reell ist, wenn die Bedingungen, woran die Fälligkeit des versicherten Anspruchs geknüpft ist, absolut klar und eindeutig siud. so ist dieses Reichsversichcrungs- zwangsgesetz nicht reell und darum kein Segen für das Volk, wenn anch die eingesammelten und wieder ausgeteilten Gelder in die hundert Millionen gehn. Möge uns kein andres Volk darum beneiden. Der Fehler des Gesetzes liegt in seinem innersten Kern, in dem unklaren Begriff „Invalidität." Jeder gute Hausvater geht eine Lebensversicherung ein, oder was das¬ selbe ist. eine Witwen- und Waisenversicherung; denn er versichert zugunsten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_293618/261>, abgerufen am 04.07.2024.