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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr.

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zum Teil zwischen dieser und der dahinter aufsteigenden Terrassenmaner ziemlich eng
eingezwängt waren. Die Hänser liegen alle getrennt nebeneinander, wie bei Homer
jeder der Söhne des Priamus in seinem Hause gesondert wohnte. Der König selbst
hatte seinen Palast jedenfalls in der Mitte oben ans der höchsten Stelle. Die
Dächer aller Häuser waren wohl die uoch heute in der Troas ziemlich verbreiteten
horizontalen Dächer aus Erde, die vom Regen abgespült wurde und darum beständig
ergänzt und erneuert werdeu mußte, während die abgespülte Erde zwischen den
Häusern liege" blieb und allmählich das Niveau erhöhte. Auch auf den Küchen¬
zettel des Priamus und seiner Söhne ist durch die Ausgrabungen ein neues Licht
gefallen. Sie aßen entweder aus Vorliebe oder doch aus Maugel an etwas Besserin
Muscheln. Denn überall liegen in der sechsten Stadt zerschlagne Schalen dieser
Weichtiere herum, darunter auch die der wertvollen Purpurschnecken.

Nur die Außenmanern der sechsten Stadt standen noch, als die Bewohner der
siebenten Ansiedlung ihre dürftigen Wohnungen bauten. Sie sind an jene an¬
gelehnt, bestehen aber größtenteils uur in offnen Hallen zum Unterbringen des
Viehs und der Ackergeräte. Eine obere Schicht bildet die achte, ebenfalls dorf-
tthnliche Ansiedlung. Die neunte ist dann das griechisch-römische Ilion mit einem
von Säulenhallen umgebnen Heiligtum der Athene. Der Tempel stammt ans
hellenistischer Zeit und hat den Atheuetempel ersetzt, in dem einst Xerxes und
Alexander zur Göttin beteten.

Dies etwa waren die Hauptresultate der Vortrüge, die uns Dörpfeld in den
drei Tagen unsrer Anwesenheit auf den Ruinen von Troja hielt. Er war voller
Begeisterung für das Werk, das er hier in Angriff genommen hatte, und äußerte
den festen Entschluß, es zu Ende zu führen und in den nächsten Jahren zuvörderst
die ganze Mauer der mykenischen Stadt "herauszuholen." Sein großes Werk über
Troja, das er gemeinsam mit mehreren Mitarbeitern verfaßte, stand schon dicht
vor seiner Vollendung, und es galt, einige noch zweifelhafte Punkte eben in diesen
Tagen durch nochmalige Autopsie ins reine zu bringen, wozu der unermüdliche
Mann die Nachmittage und die Abende benutzte.

So interessant die Vorträge waren, so war es doch fast noch schöner, allein
w den nenn ausgegrabnen Städten herumzustreifen. Dann erst kam mir die
Stimmung, die solchen sagen- und poesieumwobnen Orten ihren vollen Zunder
verleiht, die aber durch Menschengewühl und verstandesmäßige Wissenschaft unwieder¬
bringlich zerstört wird. Wie erhebend und ergreifend war es für mich, an der Stätte
Zu stehen, über die ich seit frühester Jugend zuerst erzählen gehört, denn gelesen,
dann studiert und zuletzt gelehrt hatte, die mich also mein ganzes Leben laug begleitet
und mir immer den frischen Hauch der Jugend und den unvergänglichen Glanz der
Poesie bewahrt hat. Es ist nichts Kleines, an dem Tor gestanden zu haben, nu dem
einst der edle Hektor von seiner Gattin und seinem Knaben Abschied genommen hat,
auf der Mauer entlang gewandert zu sein, von der einst die schöne Helena, das
Wunder aller Frnnen und sogar das Entzücken der Greise, dem Priamos die Helden
der Griechen zeigte. Ja, auch in das Gemach bin ich eingetreten, wo einst der ver¬
führerische Paris nach seiner Niederlage im Kampfe den Liebesbund mit Helena
erneuerte -- wenn anders Dörpfelds Vermutung richtig ist, daß das eine der an
der Stadtmauer liegenden Häuser der Beschreibung des Homer zufolge das des
Paris sein müsse. Jetzt freilich sind die wohlgeglätteten Sessel und Tische, die
funkelnden Dreifuße, die schöudurchbrochnen und wohlgebreiteten Betten ans diesen
Räumen verschwunden, jetzt wachsen auf den Schutthalden und zwischen den ver-
worrnen Mcmerzügeu weißsternige Kannten und roter Mohu, und dorniges Brombeer¬
gesträuch rankt sich um die Steine.

Nach Norden hin überschaute ich das Schlachtfeld, wo das Blut so vieler
Helden geflossen ist, in seiner vollen Ausdehnung; mir zunächst die sumpfige Ebne
des Simois, aus der der Burgberg, auf dem ich stand, steil emporragt. Auf deu
Wiesen zu meinen Füßen waren kegelförmige weiße Zelte aufgeschlagen, in denen


Grenzbotc" II 1904 30
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zum Teil zwischen dieser und der dahinter aufsteigenden Terrassenmaner ziemlich eng
eingezwängt waren. Die Hänser liegen alle getrennt nebeneinander, wie bei Homer
jeder der Söhne des Priamus in seinem Hause gesondert wohnte. Der König selbst
hatte seinen Palast jedenfalls in der Mitte oben ans der höchsten Stelle. Die
Dächer aller Häuser waren wohl die uoch heute in der Troas ziemlich verbreiteten
horizontalen Dächer aus Erde, die vom Regen abgespült wurde und darum beständig
ergänzt und erneuert werdeu mußte, während die abgespülte Erde zwischen den
Häusern liege» blieb und allmählich das Niveau erhöhte. Auch auf den Küchen¬
zettel des Priamus und seiner Söhne ist durch die Ausgrabungen ein neues Licht
gefallen. Sie aßen entweder aus Vorliebe oder doch aus Maugel an etwas Besserin
Muscheln. Denn überall liegen in der sechsten Stadt zerschlagne Schalen dieser
Weichtiere herum, darunter auch die der wertvollen Purpurschnecken.

Nur die Außenmanern der sechsten Stadt standen noch, als die Bewohner der
siebenten Ansiedlung ihre dürftigen Wohnungen bauten. Sie sind an jene an¬
gelehnt, bestehen aber größtenteils uur in offnen Hallen zum Unterbringen des
Viehs und der Ackergeräte. Eine obere Schicht bildet die achte, ebenfalls dorf-
tthnliche Ansiedlung. Die neunte ist dann das griechisch-römische Ilion mit einem
von Säulenhallen umgebnen Heiligtum der Athene. Der Tempel stammt ans
hellenistischer Zeit und hat den Atheuetempel ersetzt, in dem einst Xerxes und
Alexander zur Göttin beteten.

Dies etwa waren die Hauptresultate der Vortrüge, die uns Dörpfeld in den
drei Tagen unsrer Anwesenheit auf den Ruinen von Troja hielt. Er war voller
Begeisterung für das Werk, das er hier in Angriff genommen hatte, und äußerte
den festen Entschluß, es zu Ende zu führen und in den nächsten Jahren zuvörderst
die ganze Mauer der mykenischen Stadt „herauszuholen." Sein großes Werk über
Troja, das er gemeinsam mit mehreren Mitarbeitern verfaßte, stand schon dicht
vor seiner Vollendung, und es galt, einige noch zweifelhafte Punkte eben in diesen
Tagen durch nochmalige Autopsie ins reine zu bringen, wozu der unermüdliche
Mann die Nachmittage und die Abende benutzte.

So interessant die Vorträge waren, so war es doch fast noch schöner, allein
w den nenn ausgegrabnen Städten herumzustreifen. Dann erst kam mir die
Stimmung, die solchen sagen- und poesieumwobnen Orten ihren vollen Zunder
verleiht, die aber durch Menschengewühl und verstandesmäßige Wissenschaft unwieder¬
bringlich zerstört wird. Wie erhebend und ergreifend war es für mich, an der Stätte
Zu stehen, über die ich seit frühester Jugend zuerst erzählen gehört, denn gelesen,
dann studiert und zuletzt gelehrt hatte, die mich also mein ganzes Leben laug begleitet
und mir immer den frischen Hauch der Jugend und den unvergänglichen Glanz der
Poesie bewahrt hat. Es ist nichts Kleines, an dem Tor gestanden zu haben, nu dem
einst der edle Hektor von seiner Gattin und seinem Knaben Abschied genommen hat,
auf der Mauer entlang gewandert zu sein, von der einst die schöne Helena, das
Wunder aller Frnnen und sogar das Entzücken der Greise, dem Priamos die Helden
der Griechen zeigte. Ja, auch in das Gemach bin ich eingetreten, wo einst der ver¬
führerische Paris nach seiner Niederlage im Kampfe den Liebesbund mit Helena
erneuerte — wenn anders Dörpfelds Vermutung richtig ist, daß das eine der an
der Stadtmauer liegenden Häuser der Beschreibung des Homer zufolge das des
Paris sein müsse. Jetzt freilich sind die wohlgeglätteten Sessel und Tische, die
funkelnden Dreifuße, die schöudurchbrochnen und wohlgebreiteten Betten ans diesen
Räumen verschwunden, jetzt wachsen auf den Schutthalden und zwischen den ver-
worrnen Mcmerzügeu weißsternige Kannten und roter Mohu, und dorniges Brombeer¬
gesträuch rankt sich um die Steine.

Nach Norden hin überschaute ich das Schlachtfeld, wo das Blut so vieler
Helden geflossen ist, in seiner vollen Ausdehnung; mir zunächst die sumpfige Ebne
des Simois, aus der der Burgberg, auf dem ich stand, steil emporragt. Auf deu
Wiesen zu meinen Füßen waren kegelförmige weiße Zelte aufgeschlagen, in denen


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[0231] Line Trojafahrt zum Teil zwischen dieser und der dahinter aufsteigenden Terrassenmaner ziemlich eng eingezwängt waren. Die Hänser liegen alle getrennt nebeneinander, wie bei Homer jeder der Söhne des Priamus in seinem Hause gesondert wohnte. Der König selbst hatte seinen Palast jedenfalls in der Mitte oben ans der höchsten Stelle. Die Dächer aller Häuser waren wohl die uoch heute in der Troas ziemlich verbreiteten horizontalen Dächer aus Erde, die vom Regen abgespült wurde und darum beständig ergänzt und erneuert werdeu mußte, während die abgespülte Erde zwischen den Häusern liege» blieb und allmählich das Niveau erhöhte. Auch auf den Küchen¬ zettel des Priamus und seiner Söhne ist durch die Ausgrabungen ein neues Licht gefallen. Sie aßen entweder aus Vorliebe oder doch aus Maugel an etwas Besserin Muscheln. Denn überall liegen in der sechsten Stadt zerschlagne Schalen dieser Weichtiere herum, darunter auch die der wertvollen Purpurschnecken. Nur die Außenmanern der sechsten Stadt standen noch, als die Bewohner der siebenten Ansiedlung ihre dürftigen Wohnungen bauten. Sie sind an jene an¬ gelehnt, bestehen aber größtenteils uur in offnen Hallen zum Unterbringen des Viehs und der Ackergeräte. Eine obere Schicht bildet die achte, ebenfalls dorf- tthnliche Ansiedlung. Die neunte ist dann das griechisch-römische Ilion mit einem von Säulenhallen umgebnen Heiligtum der Athene. Der Tempel stammt ans hellenistischer Zeit und hat den Atheuetempel ersetzt, in dem einst Xerxes und Alexander zur Göttin beteten. Dies etwa waren die Hauptresultate der Vortrüge, die uns Dörpfeld in den drei Tagen unsrer Anwesenheit auf den Ruinen von Troja hielt. Er war voller Begeisterung für das Werk, das er hier in Angriff genommen hatte, und äußerte den festen Entschluß, es zu Ende zu führen und in den nächsten Jahren zuvörderst die ganze Mauer der mykenischen Stadt „herauszuholen." Sein großes Werk über Troja, das er gemeinsam mit mehreren Mitarbeitern verfaßte, stand schon dicht vor seiner Vollendung, und es galt, einige noch zweifelhafte Punkte eben in diesen Tagen durch nochmalige Autopsie ins reine zu bringen, wozu der unermüdliche Mann die Nachmittage und die Abende benutzte. So interessant die Vorträge waren, so war es doch fast noch schöner, allein w den nenn ausgegrabnen Städten herumzustreifen. Dann erst kam mir die Stimmung, die solchen sagen- und poesieumwobnen Orten ihren vollen Zunder verleiht, die aber durch Menschengewühl und verstandesmäßige Wissenschaft unwieder¬ bringlich zerstört wird. Wie erhebend und ergreifend war es für mich, an der Stätte Zu stehen, über die ich seit frühester Jugend zuerst erzählen gehört, denn gelesen, dann studiert und zuletzt gelehrt hatte, die mich also mein ganzes Leben laug begleitet und mir immer den frischen Hauch der Jugend und den unvergänglichen Glanz der Poesie bewahrt hat. Es ist nichts Kleines, an dem Tor gestanden zu haben, nu dem einst der edle Hektor von seiner Gattin und seinem Knaben Abschied genommen hat, auf der Mauer entlang gewandert zu sein, von der einst die schöne Helena, das Wunder aller Frnnen und sogar das Entzücken der Greise, dem Priamos die Helden der Griechen zeigte. Ja, auch in das Gemach bin ich eingetreten, wo einst der ver¬ führerische Paris nach seiner Niederlage im Kampfe den Liebesbund mit Helena erneuerte — wenn anders Dörpfelds Vermutung richtig ist, daß das eine der an der Stadtmauer liegenden Häuser der Beschreibung des Homer zufolge das des Paris sein müsse. Jetzt freilich sind die wohlgeglätteten Sessel und Tische, die funkelnden Dreifuße, die schöudurchbrochnen und wohlgebreiteten Betten ans diesen Räumen verschwunden, jetzt wachsen auf den Schutthalden und zwischen den ver- worrnen Mcmerzügeu weißsternige Kannten und roter Mohu, und dorniges Brombeer¬ gesträuch rankt sich um die Steine. Nach Norden hin überschaute ich das Schlachtfeld, wo das Blut so vieler Helden geflossen ist, in seiner vollen Ausdehnung; mir zunächst die sumpfige Ebne des Simois, aus der der Burgberg, auf dem ich stand, steil emporragt. Auf deu Wiesen zu meinen Füßen waren kegelförmige weiße Zelte aufgeschlagen, in denen Grenzbotc» II 1904 30

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_293618/231>, abgerufen am 25.07.2024.