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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr.

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demi Angelhaken der sozialen Fragen die Arbeiter aus dein Abgrunde der sozial-
demokratischen, materialistischen Bewegung Herausreißen und sie dein Christentum
zuführen." Mir scheint schon dieser Gang bedenklich. Die christliche Regel war
bisher umgekehrt: Trachtet am ersten nach dem Reiche Gottes, so wird euch solches
alles zufallen. In diesen politischen Agitationen liegen eine Menge Dinge, die mit
den, Christentum nichts zu tuu haben. An ihnen haftet Viel Schmutz, an dem sich
ein Geistlicher leicht besudelt. Dadurch wird seine eigentliche seelsorgerische Arbeit
beeinträchtigt. Stöcker beruft sich auf die Lauterkeit seines Wollens. Er fühlt aber
auch, daß er nicht unabhängig genug ist, auf politischem Gebiete die volle Wahrheit
sagen zu können. Er sagt richtig: "Das arme brodlose, gegen die Ausbeutung nicht
geschützte Arbeitervolk verlangt soziale Hilfe. Niemand stellt sie ihm in Aussicht,
als die Sozialdemokratie. Die Regierung müßte sich an die Arbeiter wenden und
ihnen sagen: Kommt her, wir wollen euch helfen; wir wollen, was möglich ist, an
dem sozialdemokrntischen Programm verwirklichen: allgemeine staatliche Arbeiter-
Versicherung, Normalarbeitstag, Sonntagsruhe. Für euch wollen wir die Steuerreform
machen usw." Stöcker meint, es müsse gerade von konservativer Seite offen gesagt
werden: es haben alle gesündigt, vom König und den Ministern herab bis zum
geringsten Arbeiter. Er klagt, wir hätten Wüstlinge zu Ministern gehabt, die
schamlos genug böse Beispiele gegeben hätten, andre Minister seien hochmütige
Egoisten, die kein Herz für das Volk und dazu durch Unfähigkeit die Finanzen des
Landes ruiniert hätten; unser Prostitutionswesen, unser jammervolles Theaterwesen
sei durch Gunst von oben groß gezogen worden. Mit den schwächlichen und ganz
überlebten Schlagworten liberal und konservativ sei da nicht mehr zu helfen. Was
wir brauchten, seien energische, christliche, d. h. wahre, wirkliche Männer zu Ministern,
denen das Herz weh tue um das Elend ihres Volkes. Aber welcher Konservative
wage diese Wahrheiten auszusprechen?

Darin ist ja viel Wahrheit neben manchem Forcierten. Jetzt machen wir die
Vorlage des Sozialdemokratengesetzes für den neuen Reichstag. Sie ist gut, sie
bringt energische Abwehr, Repression. Aber heilen kann dieses Gesetz die vorhandnen
tiefen Schäden nicht. Hand in Hand damit müßte eine positive, organisatorische, auf¬
bauende Aktion der Negierung gehn. Bleibt diese aus, so rollen wir trotz aller Aus¬
nahmegesetze in den Abgrund der gottlosesten, blutigsten, grausamsten Revolution.

14. August. Vortrag bei dem Grafen Stolberg. Auf Freitag ist eine Sitzung
des Staatsministeriums anberaumt, die erste, in der ich das Protokoll zu führen
habe. Aus Anlaß eines vom Reichskanzler mitgeteilten Berichts des preußischen
Gesandten in Oldenburg über die Stellung der dortigen Regierung zu dem Entwürfe
des Sozialistenausnahmegesetzes habe ich dem Grafen meine Auffassung angedeutet,
daß alle bloße Repression nicht helfen werde, wenn nicht positive gesetzgeberische
Reformen auf den verschiedensten Gebieten den Schaden selbst anzufassen und zu Heilen
suchen. Er war einverstanden, ohne aber näher auf die Sache einzugehn.

15. August. Ein kleines Stück sozialer Frage im eignen Hause. Unsre beiden
Dienstmädchen haben heute den Dienst zum 1. Oktober gekündigt. Wir hätten sie
gern behalten und waren ganz erträglich mit ihnen eingelebt. Es hat etwas Be¬
trübendes, wenn die Dienstboten so ohne ersichtlichen Anlaß den Dienst aufgeben.
Sind wir ihnen keine gute und treue Herrschaft gewesen? Gewiß haben auch wir
in unserm Verhältnis zu ihnen manches verfehlt. Gott schenke uns "fromm Gesinde"
und ein rechtes Herz für die Dienstboten, von denen wir doch ein Herz für uns
und die Unsrigen verlangen.

16. August. Heute habe ich in der Sitzung des Staatsministeriums zum
erstenmal das Protokoll geführt und gleich nach der Sitzung den dem Kronprinzen
zu erstattenden kurzen Bericht entworfen. Die Tagesordnung (Reblauskongreß in
Bern, Jurisdiktionsvertrag mit Oldenburg wegen Birkenfeld) war nicht von be¬
sondrer Wichtigkeit.

Der Klempnergesell Hotel, der ans den Kaiser geschossen hatte, ist heute früh


Grenzboten II 1904 22
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demi Angelhaken der sozialen Fragen die Arbeiter aus dein Abgrunde der sozial-
demokratischen, materialistischen Bewegung Herausreißen und sie dein Christentum
zuführen." Mir scheint schon dieser Gang bedenklich. Die christliche Regel war
bisher umgekehrt: Trachtet am ersten nach dem Reiche Gottes, so wird euch solches
alles zufallen. In diesen politischen Agitationen liegen eine Menge Dinge, die mit
den, Christentum nichts zu tuu haben. An ihnen haftet Viel Schmutz, an dem sich
ein Geistlicher leicht besudelt. Dadurch wird seine eigentliche seelsorgerische Arbeit
beeinträchtigt. Stöcker beruft sich auf die Lauterkeit seines Wollens. Er fühlt aber
auch, daß er nicht unabhängig genug ist, auf politischem Gebiete die volle Wahrheit
sagen zu können. Er sagt richtig: „Das arme brodlose, gegen die Ausbeutung nicht
geschützte Arbeitervolk verlangt soziale Hilfe. Niemand stellt sie ihm in Aussicht,
als die Sozialdemokratie. Die Regierung müßte sich an die Arbeiter wenden und
ihnen sagen: Kommt her, wir wollen euch helfen; wir wollen, was möglich ist, an
dem sozialdemokrntischen Programm verwirklichen: allgemeine staatliche Arbeiter-
Versicherung, Normalarbeitstag, Sonntagsruhe. Für euch wollen wir die Steuerreform
machen usw." Stöcker meint, es müsse gerade von konservativer Seite offen gesagt
werden: es haben alle gesündigt, vom König und den Ministern herab bis zum
geringsten Arbeiter. Er klagt, wir hätten Wüstlinge zu Ministern gehabt, die
schamlos genug böse Beispiele gegeben hätten, andre Minister seien hochmütige
Egoisten, die kein Herz für das Volk und dazu durch Unfähigkeit die Finanzen des
Landes ruiniert hätten; unser Prostitutionswesen, unser jammervolles Theaterwesen
sei durch Gunst von oben groß gezogen worden. Mit den schwächlichen und ganz
überlebten Schlagworten liberal und konservativ sei da nicht mehr zu helfen. Was
wir brauchten, seien energische, christliche, d. h. wahre, wirkliche Männer zu Ministern,
denen das Herz weh tue um das Elend ihres Volkes. Aber welcher Konservative
wage diese Wahrheiten auszusprechen?

Darin ist ja viel Wahrheit neben manchem Forcierten. Jetzt machen wir die
Vorlage des Sozialdemokratengesetzes für den neuen Reichstag. Sie ist gut, sie
bringt energische Abwehr, Repression. Aber heilen kann dieses Gesetz die vorhandnen
tiefen Schäden nicht. Hand in Hand damit müßte eine positive, organisatorische, auf¬
bauende Aktion der Negierung gehn. Bleibt diese aus, so rollen wir trotz aller Aus¬
nahmegesetze in den Abgrund der gottlosesten, blutigsten, grausamsten Revolution.

14. August. Vortrag bei dem Grafen Stolberg. Auf Freitag ist eine Sitzung
des Staatsministeriums anberaumt, die erste, in der ich das Protokoll zu führen
habe. Aus Anlaß eines vom Reichskanzler mitgeteilten Berichts des preußischen
Gesandten in Oldenburg über die Stellung der dortigen Regierung zu dem Entwürfe
des Sozialistenausnahmegesetzes habe ich dem Grafen meine Auffassung angedeutet,
daß alle bloße Repression nicht helfen werde, wenn nicht positive gesetzgeberische
Reformen auf den verschiedensten Gebieten den Schaden selbst anzufassen und zu Heilen
suchen. Er war einverstanden, ohne aber näher auf die Sache einzugehn.

15. August. Ein kleines Stück sozialer Frage im eignen Hause. Unsre beiden
Dienstmädchen haben heute den Dienst zum 1. Oktober gekündigt. Wir hätten sie
gern behalten und waren ganz erträglich mit ihnen eingelebt. Es hat etwas Be¬
trübendes, wenn die Dienstboten so ohne ersichtlichen Anlaß den Dienst aufgeben.
Sind wir ihnen keine gute und treue Herrschaft gewesen? Gewiß haben auch wir
in unserm Verhältnis zu ihnen manches verfehlt. Gott schenke uns „fromm Gesinde"
und ein rechtes Herz für die Dienstboten, von denen wir doch ein Herz für uns
und die Unsrigen verlangen.

16. August. Heute habe ich in der Sitzung des Staatsministeriums zum
erstenmal das Protokoll geführt und gleich nach der Sitzung den dem Kronprinzen
zu erstattenden kurzen Bericht entworfen. Die Tagesordnung (Reblauskongreß in
Bern, Jurisdiktionsvertrag mit Oldenburg wegen Birkenfeld) war nicht von be¬
sondrer Wichtigkeit.

Der Klempnergesell Hotel, der ans den Kaiser geschossen hatte, ist heute früh


Grenzboten II 1904 22
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[0169] Lrimienmgeu demi Angelhaken der sozialen Fragen die Arbeiter aus dein Abgrunde der sozial- demokratischen, materialistischen Bewegung Herausreißen und sie dein Christentum zuführen." Mir scheint schon dieser Gang bedenklich. Die christliche Regel war bisher umgekehrt: Trachtet am ersten nach dem Reiche Gottes, so wird euch solches alles zufallen. In diesen politischen Agitationen liegen eine Menge Dinge, die mit den, Christentum nichts zu tuu haben. An ihnen haftet Viel Schmutz, an dem sich ein Geistlicher leicht besudelt. Dadurch wird seine eigentliche seelsorgerische Arbeit beeinträchtigt. Stöcker beruft sich auf die Lauterkeit seines Wollens. Er fühlt aber auch, daß er nicht unabhängig genug ist, auf politischem Gebiete die volle Wahrheit sagen zu können. Er sagt richtig: „Das arme brodlose, gegen die Ausbeutung nicht geschützte Arbeitervolk verlangt soziale Hilfe. Niemand stellt sie ihm in Aussicht, als die Sozialdemokratie. Die Regierung müßte sich an die Arbeiter wenden und ihnen sagen: Kommt her, wir wollen euch helfen; wir wollen, was möglich ist, an dem sozialdemokrntischen Programm verwirklichen: allgemeine staatliche Arbeiter- Versicherung, Normalarbeitstag, Sonntagsruhe. Für euch wollen wir die Steuerreform machen usw." Stöcker meint, es müsse gerade von konservativer Seite offen gesagt werden: es haben alle gesündigt, vom König und den Ministern herab bis zum geringsten Arbeiter. Er klagt, wir hätten Wüstlinge zu Ministern gehabt, die schamlos genug böse Beispiele gegeben hätten, andre Minister seien hochmütige Egoisten, die kein Herz für das Volk und dazu durch Unfähigkeit die Finanzen des Landes ruiniert hätten; unser Prostitutionswesen, unser jammervolles Theaterwesen sei durch Gunst von oben groß gezogen worden. Mit den schwächlichen und ganz überlebten Schlagworten liberal und konservativ sei da nicht mehr zu helfen. Was wir brauchten, seien energische, christliche, d. h. wahre, wirkliche Männer zu Ministern, denen das Herz weh tue um das Elend ihres Volkes. Aber welcher Konservative wage diese Wahrheiten auszusprechen? Darin ist ja viel Wahrheit neben manchem Forcierten. Jetzt machen wir die Vorlage des Sozialdemokratengesetzes für den neuen Reichstag. Sie ist gut, sie bringt energische Abwehr, Repression. Aber heilen kann dieses Gesetz die vorhandnen tiefen Schäden nicht. Hand in Hand damit müßte eine positive, organisatorische, auf¬ bauende Aktion der Negierung gehn. Bleibt diese aus, so rollen wir trotz aller Aus¬ nahmegesetze in den Abgrund der gottlosesten, blutigsten, grausamsten Revolution. 14. August. Vortrag bei dem Grafen Stolberg. Auf Freitag ist eine Sitzung des Staatsministeriums anberaumt, die erste, in der ich das Protokoll zu führen habe. Aus Anlaß eines vom Reichskanzler mitgeteilten Berichts des preußischen Gesandten in Oldenburg über die Stellung der dortigen Regierung zu dem Entwürfe des Sozialistenausnahmegesetzes habe ich dem Grafen meine Auffassung angedeutet, daß alle bloße Repression nicht helfen werde, wenn nicht positive gesetzgeberische Reformen auf den verschiedensten Gebieten den Schaden selbst anzufassen und zu Heilen suchen. Er war einverstanden, ohne aber näher auf die Sache einzugehn. 15. August. Ein kleines Stück sozialer Frage im eignen Hause. Unsre beiden Dienstmädchen haben heute den Dienst zum 1. Oktober gekündigt. Wir hätten sie gern behalten und waren ganz erträglich mit ihnen eingelebt. Es hat etwas Be¬ trübendes, wenn die Dienstboten so ohne ersichtlichen Anlaß den Dienst aufgeben. Sind wir ihnen keine gute und treue Herrschaft gewesen? Gewiß haben auch wir in unserm Verhältnis zu ihnen manches verfehlt. Gott schenke uns „fromm Gesinde" und ein rechtes Herz für die Dienstboten, von denen wir doch ein Herz für uns und die Unsrigen verlangen. 16. August. Heute habe ich in der Sitzung des Staatsministeriums zum erstenmal das Protokoll geführt und gleich nach der Sitzung den dem Kronprinzen zu erstattenden kurzen Bericht entworfen. Die Tagesordnung (Reblauskongreß in Bern, Jurisdiktionsvertrag mit Oldenburg wegen Birkenfeld) war nicht von be¬ sondrer Wichtigkeit. Der Klempnergesell Hotel, der ans den Kaiser geschossen hatte, ist heute früh Grenzboten II 1904 22

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_293618/169>, abgerufen am 30.06.2024.