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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr.

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Dürers Natursymbolik

Den Unkeuschen und Liebhaber des andern Geschlechts erkennt man an dem
reichen Haarwuchs. Bei den Ohren sind die Schläfen stark behaart, seine
Augen sind groß.) Entsprechend dem Papagei bei Adam ist über Eva im
Hintergrund wie eine Marke auf hohem freien Fels eine Ziege angebracht,
die sich nach einem Kraute unter ihr hinabbeugt. Seit den Tagen des ältesten
deutschen Romans, des um 1030 gedichteten Nuodlieb, bis zu der volkstümlichen
Ortsbezeichnungsweise der Gegenwart herab liegen die Zeugnisse dafür vor,
daß die Ziege im deutschen Volksmunde ein Symbol des verlangenden Weibes
ist. ^) Bei dem Kraut, das am Felshang unter ihr wächst, zu klein gezeichnet,
als daß es sich botanisch bestimmen ließe, kaun Dürer doch jedenfalls nur an
so etwas gedacht haben wie die Pflanze, die Megenberg Geisfenchel, silöx
raorltg-rum, nennt mit dem Bemerken: "Man erzählt, daß Ziegen und einige
andre Tiere vor der Begattung die Pflanze fressen und sofort trächtig werden."
Endlich der Baum zwischen Adam und Eva mit den verbotnen Früchten: wie
bei dem Baum Adams hat Dürer auch hier keine wirkliche Gattung nachgebildet,
sondern einem frei geschaffnen schönen Stamm einen kräftigen Ast mit Feigen¬
blättern und apfelähnlichen Früchten verliehen, in Gedanken an Gen. 3, 7 "und
flochten Feigenblätter zusammen und machten ihnen Schürzen." Auch Tizian
hat auf seinem Sündenfall die beiden Bäume nicht verschmäht, doch stellt er
einen Phantasiebaum mit Äpfeln in die Mitte und den Feigenbaum auf
die Seite.

Kein Zweifel: die Häufung von Symbolik kann unbehaglich wirken. Auf
uns heutige in diesem Falle, wo wir sie uns mit einer gewissen gelehrten
Mühe erst klar machen müssen, noch mehr als auf die Zeitgenossen Dürers,
für die diese Dinge ein selbstverständliches Mitanklingen von Obertönen waren,
die man kaum wahrnahm, die sich aber aus der ganzen Denkweise des Mittel¬
alters ohne weiteres ergaben. Man denke nur an die berühmten Zeilen in
Freidanks Bescheidenheit:

Und eben gegen 1500 wurde der Freidank noch immer bruchstückweise ab-
und ungeschrieben, und im Beginn des sechzehnten Jahrhunderts bearbeitete ihn
Sebastian Braut neu und durfte auf das Titelblatt setzen:

Ist es nicht wie ein Nachklang zu den Freidankschen Versen, wenn Dürer
erklärt: Die Kunst des Malens wird gebraucht im Dienste der Kirche und
dadurch angezeigt das Leiden Christi und viel andrer guter Ebenbilder, behält
auch die Gestalt der Menschen nach ihrem Absterben?



*) Vergleiche im Anfang der Erzählung des Hirten im Nuodlieb den Gedanken "Alte
Ziegen lecken auch gerne Salz" -- wörtlich so dieser Satz zu Beginn des achtzehnten Jahr¬
hunderts in dem "Wohlinsormierten Redner über Leipzig" -- und die Bezeichnung Salzlecke-
gründel für eine Liebesecke im Grünen bei Schmiedeberg im sächsischen Erzgebirge.
Dürers Natursymbolik

Den Unkeuschen und Liebhaber des andern Geschlechts erkennt man an dem
reichen Haarwuchs. Bei den Ohren sind die Schläfen stark behaart, seine
Augen sind groß.) Entsprechend dem Papagei bei Adam ist über Eva im
Hintergrund wie eine Marke auf hohem freien Fels eine Ziege angebracht,
die sich nach einem Kraute unter ihr hinabbeugt. Seit den Tagen des ältesten
deutschen Romans, des um 1030 gedichteten Nuodlieb, bis zu der volkstümlichen
Ortsbezeichnungsweise der Gegenwart herab liegen die Zeugnisse dafür vor,
daß die Ziege im deutschen Volksmunde ein Symbol des verlangenden Weibes
ist. ^) Bei dem Kraut, das am Felshang unter ihr wächst, zu klein gezeichnet,
als daß es sich botanisch bestimmen ließe, kaun Dürer doch jedenfalls nur an
so etwas gedacht haben wie die Pflanze, die Megenberg Geisfenchel, silöx
raorltg-rum, nennt mit dem Bemerken: „Man erzählt, daß Ziegen und einige
andre Tiere vor der Begattung die Pflanze fressen und sofort trächtig werden."
Endlich der Baum zwischen Adam und Eva mit den verbotnen Früchten: wie
bei dem Baum Adams hat Dürer auch hier keine wirkliche Gattung nachgebildet,
sondern einem frei geschaffnen schönen Stamm einen kräftigen Ast mit Feigen¬
blättern und apfelähnlichen Früchten verliehen, in Gedanken an Gen. 3, 7 „und
flochten Feigenblätter zusammen und machten ihnen Schürzen." Auch Tizian
hat auf seinem Sündenfall die beiden Bäume nicht verschmäht, doch stellt er
einen Phantasiebaum mit Äpfeln in die Mitte und den Feigenbaum auf
die Seite.

Kein Zweifel: die Häufung von Symbolik kann unbehaglich wirken. Auf
uns heutige in diesem Falle, wo wir sie uns mit einer gewissen gelehrten
Mühe erst klar machen müssen, noch mehr als auf die Zeitgenossen Dürers,
für die diese Dinge ein selbstverständliches Mitanklingen von Obertönen waren,
die man kaum wahrnahm, die sich aber aus der ganzen Denkweise des Mittel¬
alters ohne weiteres ergaben. Man denke nur an die berühmten Zeilen in
Freidanks Bescheidenheit:

Und eben gegen 1500 wurde der Freidank noch immer bruchstückweise ab-
und ungeschrieben, und im Beginn des sechzehnten Jahrhunderts bearbeitete ihn
Sebastian Braut neu und durfte auf das Titelblatt setzen:

Ist es nicht wie ein Nachklang zu den Freidankschen Versen, wenn Dürer
erklärt: Die Kunst des Malens wird gebraucht im Dienste der Kirche und
dadurch angezeigt das Leiden Christi und viel andrer guter Ebenbilder, behält
auch die Gestalt der Menschen nach ihrem Absterben?



*) Vergleiche im Anfang der Erzählung des Hirten im Nuodlieb den Gedanken „Alte
Ziegen lecken auch gerne Salz" — wörtlich so dieser Satz zu Beginn des achtzehnten Jahr¬
hunderts in dem „Wohlinsormierten Redner über Leipzig" — und die Bezeichnung Salzlecke-
gründel für eine Liebesecke im Grünen bei Schmiedeberg im sächsischen Erzgebirge.
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[0160] Dürers Natursymbolik Den Unkeuschen und Liebhaber des andern Geschlechts erkennt man an dem reichen Haarwuchs. Bei den Ohren sind die Schläfen stark behaart, seine Augen sind groß.) Entsprechend dem Papagei bei Adam ist über Eva im Hintergrund wie eine Marke auf hohem freien Fels eine Ziege angebracht, die sich nach einem Kraute unter ihr hinabbeugt. Seit den Tagen des ältesten deutschen Romans, des um 1030 gedichteten Nuodlieb, bis zu der volkstümlichen Ortsbezeichnungsweise der Gegenwart herab liegen die Zeugnisse dafür vor, daß die Ziege im deutschen Volksmunde ein Symbol des verlangenden Weibes ist. ^) Bei dem Kraut, das am Felshang unter ihr wächst, zu klein gezeichnet, als daß es sich botanisch bestimmen ließe, kaun Dürer doch jedenfalls nur an so etwas gedacht haben wie die Pflanze, die Megenberg Geisfenchel, silöx raorltg-rum, nennt mit dem Bemerken: „Man erzählt, daß Ziegen und einige andre Tiere vor der Begattung die Pflanze fressen und sofort trächtig werden." Endlich der Baum zwischen Adam und Eva mit den verbotnen Früchten: wie bei dem Baum Adams hat Dürer auch hier keine wirkliche Gattung nachgebildet, sondern einem frei geschaffnen schönen Stamm einen kräftigen Ast mit Feigen¬ blättern und apfelähnlichen Früchten verliehen, in Gedanken an Gen. 3, 7 „und flochten Feigenblätter zusammen und machten ihnen Schürzen." Auch Tizian hat auf seinem Sündenfall die beiden Bäume nicht verschmäht, doch stellt er einen Phantasiebaum mit Äpfeln in die Mitte und den Feigenbaum auf die Seite. Kein Zweifel: die Häufung von Symbolik kann unbehaglich wirken. Auf uns heutige in diesem Falle, wo wir sie uns mit einer gewissen gelehrten Mühe erst klar machen müssen, noch mehr als auf die Zeitgenossen Dürers, für die diese Dinge ein selbstverständliches Mitanklingen von Obertönen waren, die man kaum wahrnahm, die sich aber aus der ganzen Denkweise des Mittel¬ alters ohne weiteres ergaben. Man denke nur an die berühmten Zeilen in Freidanks Bescheidenheit: Und eben gegen 1500 wurde der Freidank noch immer bruchstückweise ab- und ungeschrieben, und im Beginn des sechzehnten Jahrhunderts bearbeitete ihn Sebastian Braut neu und durfte auf das Titelblatt setzen: Ist es nicht wie ein Nachklang zu den Freidankschen Versen, wenn Dürer erklärt: Die Kunst des Malens wird gebraucht im Dienste der Kirche und dadurch angezeigt das Leiden Christi und viel andrer guter Ebenbilder, behält auch die Gestalt der Menschen nach ihrem Absterben? *) Vergleiche im Anfang der Erzählung des Hirten im Nuodlieb den Gedanken „Alte Ziegen lecken auch gerne Salz" — wörtlich so dieser Satz zu Beginn des achtzehnten Jahr¬ hunderts in dem „Wohlinsormierten Redner über Leipzig" — und die Bezeichnung Salzlecke- gründel für eine Liebesecke im Grünen bei Schmiedeberg im sächsischen Erzgebirge.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_293618/160>, abgerufen am 25.07.2024.