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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr.

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Line Trojafahrt

mein unschuldiges Schienbein. Ich spürte den Schlag, konnte mich aber zunächst
nicht darum bekümmern, da mein Hengst, durch das Attentat gegen ihn wild gemacht,
links in die Felder jagte, sodaß ich meine liebe Not hatte, ihn wieder zu bändigen
und auf die Straße zurückzubringen. Währenddessen war die Stutengruppe schon
wett vorausgekommeu, und niemand war mehr in meiner Nähe als ein junger
Archäologe aus Rom. Ich merkte nun mit einemmal, daß es mir vom Schienbein
unangenehm warm in den Strumpf lief. Ich bat also den jungen Römer, mein
Pferd einen Augenblick zu halte", stieg ab, setzte mich ins Gras und streifte das
rechte Hosenbein in die Höhe. Da sah ich denn die Bescherung. Eine breite, etwa
fünf Zentimeter lange Fleischwunde klaffte mir entgegen, aus der das Blut recht
munter hervorquoll. Der eifersüchtige Hengst hatte mich mit der Kante des Hufes
getroffen. Einige Zoll näher heran, und das Schienbein war entzwei. Ich wischte
mit dem Taschentuch das Blut aus der Wunde und sah, daß sie auch ziemlich
tief ging.

Die Agojaten, die immer den Nachtrab bildeten, kamen inzwischen heran, und
der Vorderste rief, als er mich sah, oxsss, spsss (er ist gefallen), zog aus seinem
Gürtel ein schmutziges rotes Wolltuch und wollte mir in der Wunde herumwischen.
Ich konnte diesen giftigen Bakterienlappen nur mit Mühe abwehren. Da keinerlei
Verbandzeug und nicht einmal Wasser zur Stelle war, so blieb mir nichts andres
übrig, als mein auch schon nicht mehr ganz reines Taschentuch fest um das Bein
zu schnüren, wieder aufzusitzen und weiter zu reiten. Der junge Römer begleitete
mich. Nach etwa halbstündigen Ritt kamen wir in das aus grauen Lehmhütten
bestehende Türkeudorf Karcmtina und fanden auf dem Dorfplatze unsre Gesellschaft.
Bänke, Schemel und einige Tische waren ins Freie getragen; man trank süßen
Wein von der Insel Tenedos und aß dazu scharfschmeckenden Ziegenkäse.

Ich stieg nun ab, erzählte Dörpfeld meinen Unfall und fragte ihn, was ich
tun solle. Er erwiderte, er verstehe sich nicht auf Behandlung von Wunden, habe
auch keinerlei Verbandzeug mit sich, wolle mir jedoch etwas Heftpflaster zu ver¬
schaffen suchen. Er stieg dann auf einen Stuhl und rief mit lauter Stimme:

Es ist ein kleines Unglück Passiert, hat jemand Heftpflaster bei sich?

Ein Deutschrusse meldete sich und gab mir die Hälfte des kleinen Stückes,
das er noch besaß. Der Wirt brachte mir auf mein Verlangen Wasser, und zwar
in einem Weinglase. Als ich ihm sagte, ich wolle es nicht zum Trinken, sondern
zum Auswaschen einer Wunde, bedeutete er mich, daß er es ja eben dazu gebracht
habe. So sparsam ist man im Orient mit dem "geringwertigsten der Dinge," wie
es der Dichter nennt. Zum Glück fand ich ein zweites Taschentuch im Mantel -- das
erste war vollständig blntdurchtränkt --, tauchte es in das Weinglas und wusch,
umstanden von einer zahlreichen, mitleidsvollen Corona, mitten im Staube der Dorf¬
straße die Wunde oberflächlich aus. Ein Glück war es, daß ein freundlicher, alt¬
deutsch gesinnter Österreicher mir Jodoformpulver spendete. Diesem Umstände allein
schreibe ich zu, daß in den nächsten Tagen nicht eine ernstere Komplikation eintrat.
Als ich glücklich das Heftpflaster aufgelegt und mich durch ein Glas Lcwkoonschlcmgen-
wein gestärkt hatte, war auch die Rast zu Ende. Dörpfeld rief zum Aufbruch. Wir
saßen auf und verließen in langer Linie Karantina.

Die Straße ging jetzt in steilen Windungen durch hübsche Talgründe bergauf;
oben auf der Höhe gelangten wir in das Dorf Erenköi oder Renköi, d. h. Armcnier-
dorf. Es ist aber hauptsächlich von Griechen bewohnt. Da es Sonntag war, so
empfing uns die ganze Bevölkerung schon vor dem Dorfe. An dem Hohlweg ent¬
lang, durch den wir kamen, standen und saßen die Frauen und Kinder. Die
Griechinnen zeigten nicht ohne einen Anflug von Koketterie ihre vielfach sehr schonen,
wahrhaft klassischen Gesichter und hörten es ganz gern, wenn ihnen ein Abendländer
Vom Pferde herunter ein Kslon Korasicm (schönes Mädchen) zurief, während eimge
verhüllte Mohammedanerinnen sich mehr im Hintergrunde hielten, aber doch durch
die schmale Lücke zwischen Ober- und Unterschleier neugierig auf die europäischen


Grenzten II 1904 Is
Line Trojafahrt

mein unschuldiges Schienbein. Ich spürte den Schlag, konnte mich aber zunächst
nicht darum bekümmern, da mein Hengst, durch das Attentat gegen ihn wild gemacht,
links in die Felder jagte, sodaß ich meine liebe Not hatte, ihn wieder zu bändigen
und auf die Straße zurückzubringen. Währenddessen war die Stutengruppe schon
wett vorausgekommeu, und niemand war mehr in meiner Nähe als ein junger
Archäologe aus Rom. Ich merkte nun mit einemmal, daß es mir vom Schienbein
unangenehm warm in den Strumpf lief. Ich bat also den jungen Römer, mein
Pferd einen Augenblick zu halte«, stieg ab, setzte mich ins Gras und streifte das
rechte Hosenbein in die Höhe. Da sah ich denn die Bescherung. Eine breite, etwa
fünf Zentimeter lange Fleischwunde klaffte mir entgegen, aus der das Blut recht
munter hervorquoll. Der eifersüchtige Hengst hatte mich mit der Kante des Hufes
getroffen. Einige Zoll näher heran, und das Schienbein war entzwei. Ich wischte
mit dem Taschentuch das Blut aus der Wunde und sah, daß sie auch ziemlich
tief ging.

Die Agojaten, die immer den Nachtrab bildeten, kamen inzwischen heran, und
der Vorderste rief, als er mich sah, oxsss, spsss (er ist gefallen), zog aus seinem
Gürtel ein schmutziges rotes Wolltuch und wollte mir in der Wunde herumwischen.
Ich konnte diesen giftigen Bakterienlappen nur mit Mühe abwehren. Da keinerlei
Verbandzeug und nicht einmal Wasser zur Stelle war, so blieb mir nichts andres
übrig, als mein auch schon nicht mehr ganz reines Taschentuch fest um das Bein
zu schnüren, wieder aufzusitzen und weiter zu reiten. Der junge Römer begleitete
mich. Nach etwa halbstündigen Ritt kamen wir in das aus grauen Lehmhütten
bestehende Türkeudorf Karcmtina und fanden auf dem Dorfplatze unsre Gesellschaft.
Bänke, Schemel und einige Tische waren ins Freie getragen; man trank süßen
Wein von der Insel Tenedos und aß dazu scharfschmeckenden Ziegenkäse.

Ich stieg nun ab, erzählte Dörpfeld meinen Unfall und fragte ihn, was ich
tun solle. Er erwiderte, er verstehe sich nicht auf Behandlung von Wunden, habe
auch keinerlei Verbandzeug mit sich, wolle mir jedoch etwas Heftpflaster zu ver¬
schaffen suchen. Er stieg dann auf einen Stuhl und rief mit lauter Stimme:

Es ist ein kleines Unglück Passiert, hat jemand Heftpflaster bei sich?

Ein Deutschrusse meldete sich und gab mir die Hälfte des kleinen Stückes,
das er noch besaß. Der Wirt brachte mir auf mein Verlangen Wasser, und zwar
in einem Weinglase. Als ich ihm sagte, ich wolle es nicht zum Trinken, sondern
zum Auswaschen einer Wunde, bedeutete er mich, daß er es ja eben dazu gebracht
habe. So sparsam ist man im Orient mit dem „geringwertigsten der Dinge," wie
es der Dichter nennt. Zum Glück fand ich ein zweites Taschentuch im Mantel — das
erste war vollständig blntdurchtränkt —, tauchte es in das Weinglas und wusch,
umstanden von einer zahlreichen, mitleidsvollen Corona, mitten im Staube der Dorf¬
straße die Wunde oberflächlich aus. Ein Glück war es, daß ein freundlicher, alt¬
deutsch gesinnter Österreicher mir Jodoformpulver spendete. Diesem Umstände allein
schreibe ich zu, daß in den nächsten Tagen nicht eine ernstere Komplikation eintrat.
Als ich glücklich das Heftpflaster aufgelegt und mich durch ein Glas Lcwkoonschlcmgen-
wein gestärkt hatte, war auch die Rast zu Ende. Dörpfeld rief zum Aufbruch. Wir
saßen auf und verließen in langer Linie Karantina.

Die Straße ging jetzt in steilen Windungen durch hübsche Talgründe bergauf;
oben auf der Höhe gelangten wir in das Dorf Erenköi oder Renköi, d. h. Armcnier-
dorf. Es ist aber hauptsächlich von Griechen bewohnt. Da es Sonntag war, so
empfing uns die ganze Bevölkerung schon vor dem Dorfe. An dem Hohlweg ent¬
lang, durch den wir kamen, standen und saßen die Frauen und Kinder. Die
Griechinnen zeigten nicht ohne einen Anflug von Koketterie ihre vielfach sehr schonen,
wahrhaft klassischen Gesichter und hörten es ganz gern, wenn ihnen ein Abendländer
Vom Pferde herunter ein Kslon Korasicm (schönes Mädchen) zurief, während eimge
verhüllte Mohammedanerinnen sich mehr im Hintergrunde hielten, aber doch durch
die schmale Lücke zwischen Ober- und Unterschleier neugierig auf die europäischen


Grenzten II 1904 Is
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[0117] Line Trojafahrt mein unschuldiges Schienbein. Ich spürte den Schlag, konnte mich aber zunächst nicht darum bekümmern, da mein Hengst, durch das Attentat gegen ihn wild gemacht, links in die Felder jagte, sodaß ich meine liebe Not hatte, ihn wieder zu bändigen und auf die Straße zurückzubringen. Währenddessen war die Stutengruppe schon wett vorausgekommeu, und niemand war mehr in meiner Nähe als ein junger Archäologe aus Rom. Ich merkte nun mit einemmal, daß es mir vom Schienbein unangenehm warm in den Strumpf lief. Ich bat also den jungen Römer, mein Pferd einen Augenblick zu halte«, stieg ab, setzte mich ins Gras und streifte das rechte Hosenbein in die Höhe. Da sah ich denn die Bescherung. Eine breite, etwa fünf Zentimeter lange Fleischwunde klaffte mir entgegen, aus der das Blut recht munter hervorquoll. Der eifersüchtige Hengst hatte mich mit der Kante des Hufes getroffen. Einige Zoll näher heran, und das Schienbein war entzwei. Ich wischte mit dem Taschentuch das Blut aus der Wunde und sah, daß sie auch ziemlich tief ging. Die Agojaten, die immer den Nachtrab bildeten, kamen inzwischen heran, und der Vorderste rief, als er mich sah, oxsss, spsss (er ist gefallen), zog aus seinem Gürtel ein schmutziges rotes Wolltuch und wollte mir in der Wunde herumwischen. Ich konnte diesen giftigen Bakterienlappen nur mit Mühe abwehren. Da keinerlei Verbandzeug und nicht einmal Wasser zur Stelle war, so blieb mir nichts andres übrig, als mein auch schon nicht mehr ganz reines Taschentuch fest um das Bein zu schnüren, wieder aufzusitzen und weiter zu reiten. Der junge Römer begleitete mich. Nach etwa halbstündigen Ritt kamen wir in das aus grauen Lehmhütten bestehende Türkeudorf Karcmtina und fanden auf dem Dorfplatze unsre Gesellschaft. Bänke, Schemel und einige Tische waren ins Freie getragen; man trank süßen Wein von der Insel Tenedos und aß dazu scharfschmeckenden Ziegenkäse. Ich stieg nun ab, erzählte Dörpfeld meinen Unfall und fragte ihn, was ich tun solle. Er erwiderte, er verstehe sich nicht auf Behandlung von Wunden, habe auch keinerlei Verbandzeug mit sich, wolle mir jedoch etwas Heftpflaster zu ver¬ schaffen suchen. Er stieg dann auf einen Stuhl und rief mit lauter Stimme: Es ist ein kleines Unglück Passiert, hat jemand Heftpflaster bei sich? Ein Deutschrusse meldete sich und gab mir die Hälfte des kleinen Stückes, das er noch besaß. Der Wirt brachte mir auf mein Verlangen Wasser, und zwar in einem Weinglase. Als ich ihm sagte, ich wolle es nicht zum Trinken, sondern zum Auswaschen einer Wunde, bedeutete er mich, daß er es ja eben dazu gebracht habe. So sparsam ist man im Orient mit dem „geringwertigsten der Dinge," wie es der Dichter nennt. Zum Glück fand ich ein zweites Taschentuch im Mantel — das erste war vollständig blntdurchtränkt —, tauchte es in das Weinglas und wusch, umstanden von einer zahlreichen, mitleidsvollen Corona, mitten im Staube der Dorf¬ straße die Wunde oberflächlich aus. Ein Glück war es, daß ein freundlicher, alt¬ deutsch gesinnter Österreicher mir Jodoformpulver spendete. Diesem Umstände allein schreibe ich zu, daß in den nächsten Tagen nicht eine ernstere Komplikation eintrat. Als ich glücklich das Heftpflaster aufgelegt und mich durch ein Glas Lcwkoonschlcmgen- wein gestärkt hatte, war auch die Rast zu Ende. Dörpfeld rief zum Aufbruch. Wir saßen auf und verließen in langer Linie Karantina. Die Straße ging jetzt in steilen Windungen durch hübsche Talgründe bergauf; oben auf der Höhe gelangten wir in das Dorf Erenköi oder Renköi, d. h. Armcnier- dorf. Es ist aber hauptsächlich von Griechen bewohnt. Da es Sonntag war, so empfing uns die ganze Bevölkerung schon vor dem Dorfe. An dem Hohlweg ent¬ lang, durch den wir kamen, standen und saßen die Frauen und Kinder. Die Griechinnen zeigten nicht ohne einen Anflug von Koketterie ihre vielfach sehr schonen, wahrhaft klassischen Gesichter und hörten es ganz gern, wenn ihnen ein Abendländer Vom Pferde herunter ein Kslon Korasicm (schönes Mädchen) zurief, während eimge verhüllte Mohammedanerinnen sich mehr im Hintergrunde hielten, aber doch durch die schmale Lücke zwischen Ober- und Unterschleier neugierig auf die europäischen Grenzten II 1904 Is

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Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_293618/117>, abgerufen am 25.07.2024.