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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr.

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Johann Friedrich Reichardt

geschichtlichen Erfahrungen dem französischen Volke überhaupt die Fähigkeit ab,
die Freiheit zu ertragen und sich selbst zu regieren. Angesichts der Besetzung
Hannovers durch den Ersten Konsul aber fragt er zornig, ob sich denn nicht
in Deutschland ein Moritz von Sachsen finden wolle, der drohenden Universal¬
herrschaft des neuen Karls des Fünften entgegenzutreten und zu verhindern,
daß Bonaparte auf ein Land Einfluß gewinne, das in geistiger Kultur allen
übrigen Völkern voranstehe.

Aus diesen Gesprächen ist dann der Gedanke entsprossen, an dessen Kon¬
zeption und Ausführung Schlaberndorf und Reichardt beide Anteil haben:
dem nichtfranzösischen Europa ein Gemälde der napoleonischen Herrschaft zu
entrollen, das geeignet sei, die schlummernde Energie der Völker zu wecken.
Es ist das berühmte Buch: Napoleon Bonaparte und das französische Volk
unter ihm. Germanien 1804.

Von Schlaberndorf rührt die Grundanlage und der bedeutende geistige
Gehalt des Buches her. Aber dieser Mann von ausgebreiteter Gelehrsamkeit
und reichen Lebenserfahrungen hätte aus eigner Kraft niemals ein solches
Werk vollenden können. Gar manche Bücher hat er geplant; aber er kam
nie weiter, als daß er das Titelblatt sauber schrieb und die Papierbogen
zurechtlegte. Die Unternehmungslust, die selbstgewisse Kühnheit Reichardts
mußten der tatenlosen Hamletsnatnr Schlaberndorfs Flügel geben. Er nahm
die reichen Materialien des Freundes, vermehrte sie durch selbständige Zu¬
sätze, brachte das Manuskript über die französische Grenze und unternahm das
Wagnis, das Buch herauszugeben. Es machte gewaltiges Aufsehen, erschien
in zahlreichen Auflagen und wurde ins Englische und in andre Sprachen
übersetzt. Uns erscheint heute die Schrift, die in so erquickender Weise von
dem Stolze deutscher Nationalbildung durchweht ist, als eine vaterländische
Tat. Der freidenkende Graf, der einst als Kosmopolit am Herde der Revo¬
lution sein Quartier aufgeschlagen hatte, um der Günstlings- und Dunkel-
münnerwirtschcift der preußischen Heimat zu entrinnen, ist sich in der Fremde
seines deutschen Wesens tiefer bewußt geworden und wirkt nun im stillen, die
Herrschaft Bonapartes über die Geister seiner Landsleute zu untergraben.
Und der preußische Kapellmeister ist nicht minder von seinen undeutschen revo¬
lutionären Träumen geheilt. Im Namen der Geistesfreiheit protestiert er
gegen die französische Gewaltherrschaft und wird ein Rufer im Streit für die
Unabhängigkeit der deutschen Nation.

Napoleon war im höchsten Grade über das Erscheinen und den großen
Erfolg der Schrift erbittert und forderte von der preußischen Regierung wieder¬
holt die Bestrafung Reichardts, der bald als Verfasser genannt wurde. Wie
es heißt, entging dieser nur dadurch einer für ihn gefährlichen Untersuchung,
daß der Minister Hardenberg erklärte, er wisse, daß der Genannte nicht
der Verfasser sei. Napoleon maß dieser Versicherung keinen Glauben bei
und behielt den gefährlichen Federbetten im Auge, bis der Tag der Ver¬
geltung kam.

Das sturmgrollcndc Jahr 1305 zog herauf. Es schien, als wenn der
traute Kreis der Reichardtschen Familie vor den Tagen des Elends noch ein-


Johann Friedrich Reichardt

geschichtlichen Erfahrungen dem französischen Volke überhaupt die Fähigkeit ab,
die Freiheit zu ertragen und sich selbst zu regieren. Angesichts der Besetzung
Hannovers durch den Ersten Konsul aber fragt er zornig, ob sich denn nicht
in Deutschland ein Moritz von Sachsen finden wolle, der drohenden Universal¬
herrschaft des neuen Karls des Fünften entgegenzutreten und zu verhindern,
daß Bonaparte auf ein Land Einfluß gewinne, das in geistiger Kultur allen
übrigen Völkern voranstehe.

Aus diesen Gesprächen ist dann der Gedanke entsprossen, an dessen Kon¬
zeption und Ausführung Schlaberndorf und Reichardt beide Anteil haben:
dem nichtfranzösischen Europa ein Gemälde der napoleonischen Herrschaft zu
entrollen, das geeignet sei, die schlummernde Energie der Völker zu wecken.
Es ist das berühmte Buch: Napoleon Bonaparte und das französische Volk
unter ihm. Germanien 1804.

Von Schlaberndorf rührt die Grundanlage und der bedeutende geistige
Gehalt des Buches her. Aber dieser Mann von ausgebreiteter Gelehrsamkeit
und reichen Lebenserfahrungen hätte aus eigner Kraft niemals ein solches
Werk vollenden können. Gar manche Bücher hat er geplant; aber er kam
nie weiter, als daß er das Titelblatt sauber schrieb und die Papierbogen
zurechtlegte. Die Unternehmungslust, die selbstgewisse Kühnheit Reichardts
mußten der tatenlosen Hamletsnatnr Schlaberndorfs Flügel geben. Er nahm
die reichen Materialien des Freundes, vermehrte sie durch selbständige Zu¬
sätze, brachte das Manuskript über die französische Grenze und unternahm das
Wagnis, das Buch herauszugeben. Es machte gewaltiges Aufsehen, erschien
in zahlreichen Auflagen und wurde ins Englische und in andre Sprachen
übersetzt. Uns erscheint heute die Schrift, die in so erquickender Weise von
dem Stolze deutscher Nationalbildung durchweht ist, als eine vaterländische
Tat. Der freidenkende Graf, der einst als Kosmopolit am Herde der Revo¬
lution sein Quartier aufgeschlagen hatte, um der Günstlings- und Dunkel-
münnerwirtschcift der preußischen Heimat zu entrinnen, ist sich in der Fremde
seines deutschen Wesens tiefer bewußt geworden und wirkt nun im stillen, die
Herrschaft Bonapartes über die Geister seiner Landsleute zu untergraben.
Und der preußische Kapellmeister ist nicht minder von seinen undeutschen revo¬
lutionären Träumen geheilt. Im Namen der Geistesfreiheit protestiert er
gegen die französische Gewaltherrschaft und wird ein Rufer im Streit für die
Unabhängigkeit der deutschen Nation.

Napoleon war im höchsten Grade über das Erscheinen und den großen
Erfolg der Schrift erbittert und forderte von der preußischen Regierung wieder¬
holt die Bestrafung Reichardts, der bald als Verfasser genannt wurde. Wie
es heißt, entging dieser nur dadurch einer für ihn gefährlichen Untersuchung,
daß der Minister Hardenberg erklärte, er wisse, daß der Genannte nicht
der Verfasser sei. Napoleon maß dieser Versicherung keinen Glauben bei
und behielt den gefährlichen Federbetten im Auge, bis der Tag der Ver¬
geltung kam.

Das sturmgrollcndc Jahr 1305 zog herauf. Es schien, als wenn der
traute Kreis der Reichardtschen Familie vor den Tagen des Elends noch ein-


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[0107] Johann Friedrich Reichardt geschichtlichen Erfahrungen dem französischen Volke überhaupt die Fähigkeit ab, die Freiheit zu ertragen und sich selbst zu regieren. Angesichts der Besetzung Hannovers durch den Ersten Konsul aber fragt er zornig, ob sich denn nicht in Deutschland ein Moritz von Sachsen finden wolle, der drohenden Universal¬ herrschaft des neuen Karls des Fünften entgegenzutreten und zu verhindern, daß Bonaparte auf ein Land Einfluß gewinne, das in geistiger Kultur allen übrigen Völkern voranstehe. Aus diesen Gesprächen ist dann der Gedanke entsprossen, an dessen Kon¬ zeption und Ausführung Schlaberndorf und Reichardt beide Anteil haben: dem nichtfranzösischen Europa ein Gemälde der napoleonischen Herrschaft zu entrollen, das geeignet sei, die schlummernde Energie der Völker zu wecken. Es ist das berühmte Buch: Napoleon Bonaparte und das französische Volk unter ihm. Germanien 1804. Von Schlaberndorf rührt die Grundanlage und der bedeutende geistige Gehalt des Buches her. Aber dieser Mann von ausgebreiteter Gelehrsamkeit und reichen Lebenserfahrungen hätte aus eigner Kraft niemals ein solches Werk vollenden können. Gar manche Bücher hat er geplant; aber er kam nie weiter, als daß er das Titelblatt sauber schrieb und die Papierbogen zurechtlegte. Die Unternehmungslust, die selbstgewisse Kühnheit Reichardts mußten der tatenlosen Hamletsnatnr Schlaberndorfs Flügel geben. Er nahm die reichen Materialien des Freundes, vermehrte sie durch selbständige Zu¬ sätze, brachte das Manuskript über die französische Grenze und unternahm das Wagnis, das Buch herauszugeben. Es machte gewaltiges Aufsehen, erschien in zahlreichen Auflagen und wurde ins Englische und in andre Sprachen übersetzt. Uns erscheint heute die Schrift, die in so erquickender Weise von dem Stolze deutscher Nationalbildung durchweht ist, als eine vaterländische Tat. Der freidenkende Graf, der einst als Kosmopolit am Herde der Revo¬ lution sein Quartier aufgeschlagen hatte, um der Günstlings- und Dunkel- münnerwirtschcift der preußischen Heimat zu entrinnen, ist sich in der Fremde seines deutschen Wesens tiefer bewußt geworden und wirkt nun im stillen, die Herrschaft Bonapartes über die Geister seiner Landsleute zu untergraben. Und der preußische Kapellmeister ist nicht minder von seinen undeutschen revo¬ lutionären Träumen geheilt. Im Namen der Geistesfreiheit protestiert er gegen die französische Gewaltherrschaft und wird ein Rufer im Streit für die Unabhängigkeit der deutschen Nation. Napoleon war im höchsten Grade über das Erscheinen und den großen Erfolg der Schrift erbittert und forderte von der preußischen Regierung wieder¬ holt die Bestrafung Reichardts, der bald als Verfasser genannt wurde. Wie es heißt, entging dieser nur dadurch einer für ihn gefährlichen Untersuchung, daß der Minister Hardenberg erklärte, er wisse, daß der Genannte nicht der Verfasser sei. Napoleon maß dieser Versicherung keinen Glauben bei und behielt den gefährlichen Federbetten im Auge, bis der Tag der Ver¬ geltung kam. Das sturmgrollcndc Jahr 1305 zog herauf. Es schien, als wenn der traute Kreis der Reichardtschen Familie vor den Tagen des Elends noch ein-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_293618/107>, abgerufen am 26.07.2024.