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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr.

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Erinnerungen aus der Kriegsgefangenschaft in den Jahren 5 370 und i^37 ^

vier Wochen in einer, die mir aber auf die Dauer zu teuer war, dann noch in
einer zweiten, billigern. Nun konnte mein Leben auch insofern anders eingerichtet
werden, als das Zimmer natürlich heizbar war und gleich, nachdem ich aufgestanden
war, geheizt wurde, ich also früher aufstehn konnte. Freilich gerade in den ersten
Tagen nach dieser Veränderung trat jene besonders heftige Kälte ein, und mein
Zimmer hatte selbstverständlich keinen Ofen, sondern nur einen Kamin. Da konnte
ich denn wohl am brennenden Feuer sitzen, habe aber die Unannehmlichkeiten dieser
Art zu heizen gleich ordentlich kennen gelernt: an der Seite, die ich dem Feuer
zukehrte und möglichst näherte, war ich in Gefahr zu braten oder anzubrennen,
während die andre Seite beinahe erfror. Später freilich, als das Thermometer "um
Null herum" stand, lernte ich auch die Behaglichkeit des Sitzens vor einem solchen
Kamin wohl kennen und würdigen, freue mich aber noch jetzt in jedem Winter wieder,
daß wir hierzulande ordentliche Ofen haben.

Um französischen Unterricht zu bekommen, wandte ich mich an den xrovissur
des oollsg's in Le Puy, und dieser wies mich einem seiner Kollegen zu, dem
xrotsWmu' as" lanAues vivg,necs. Dieser Herr war freilich Elsasser und hatte in¬
folgedessen, wie ich gleich merkte und hörte, keine besonders gute Aussprache, trotzdem
erschien er wie dem provissuz- auch mir deshalb wohl geeignet für meine Zwecke,
weil er natürlich auch geläufig Deutsch sprach, sodaß wir uns auf alle Fälle leicht
und sicher verständigen konnten. So wurde ich denn wieder "Schüler," ging
wöchentlich an zwei Nachmittagen zu ihm, und wir verbrachten eine Stunde mit
Übersetzen, Sprechen und grammatischen Erörterungen; auch schriftliche Übersetzungen
ins Französische arbeitete ich und hatte somit Gelegenheit und Veranlassung, meine
grammatischen und lexikalischen Kenntnisse aufzufrischen, zu erweitern und zu ver¬
tiefen und mich zugleich im "Parlierer" zu üben. An Unterhaltungsstoff fehlte es
uns auch nicht. Mein Professor war zwar durchaus französisch und republikanisch
gesinnt, interessierte sich aber daneben auch für manches Deutsche, namentlich für
unsre Klassiker; dazu erzählten wir uns von unsern Heimatländern, und einen ganz
unerschöpflichen Stoff boten ja die Tagesereignisse, die Kriegsnachrichten usw. Wie
kounte er lebhaft, ja hitzig werden, wenn auf Napoleon die Rede kam, den er nie
anders nannte als os KiutinAuczt,, oder auf Bazaine, den auch er für einen trkntrs
hielt. Wenn nun bei solchen Gesprächen natürlich oft ganz verschiedne, jn entgegen¬
gesetzte Ansichten zutage traten und unsre Debatten zuweilen sehr eifrig wurden,
so vertrugen wir uns doch immer sehr gut, die Stunden vergingen sehr angenehm
und sind mir eine liebe Erinnerung, und ich gedenke des alten Professors, mit dem
ich auch später noch einige Briefe gewechselt und die Photographie ausgetauscht habe,
immer mit vieler Dankbarkeit.

So hatte ich nun, was mir zusagte, ernstere geistige Arbeit, so viel ich wollte;
nun konnte ich auch französische Bücher, die ich mir teils kaufte, meistens aber von
meinem Lehrer oder meinen Hauswirten lieh, bald mit größerer Gewandtheit und
sicherm Verständnis lesen. Hierdurch bekam mein Leben auch mehr Inhalt, während
es sonst natürlich höchst gleichmäßig, ja sehr eintönig verlief oder vielmehr dahin-
schlich. Dazu trug die Stimmung, in der man als Kriegsgefangner lebte, auch ihr
Teil bei. Wohl war der Verkehr unter uns Deutschen kameradschaftlich zwanglos,
und nur selten wurde das freundschaftliche Einvernehmen gestört -- ich entsinne
mich nur eines Streites, den ein Berliner Herr durch einige von uns übrigen
Preußen sofort entschieden mißbilligte Bemerkungen über und gegen die Bayern
verschuldet hatte --; wohl bewahrte sich bei uns wieder die Richtigkeit des alten
Satzes: "Leidenden ist es ein Trost, Genossen zu haben im Unglück," aber zufrieden
und wohl konnte sich doch niemand fühlen, und hat sich sicherlich niemand gefühlt.
Wenn man auch Gott dankte, daß man gesund und am Leben war, so erwachten
doch an jedem neuen Morgen auch von neuem der Schmerz und der Verdruß, daß
man Gefangner war. Tagtäglich lasen wir von dem Kriege und deu Kämpfen, wir
erfuhren von den Siegen der Unsern, an denen wir nun nicht, wie früher, teilnehmen


Erinnerungen aus der Kriegsgefangenschaft in den Jahren 5 370 und i^37 ^

vier Wochen in einer, die mir aber auf die Dauer zu teuer war, dann noch in
einer zweiten, billigern. Nun konnte mein Leben auch insofern anders eingerichtet
werden, als das Zimmer natürlich heizbar war und gleich, nachdem ich aufgestanden
war, geheizt wurde, ich also früher aufstehn konnte. Freilich gerade in den ersten
Tagen nach dieser Veränderung trat jene besonders heftige Kälte ein, und mein
Zimmer hatte selbstverständlich keinen Ofen, sondern nur einen Kamin. Da konnte
ich denn wohl am brennenden Feuer sitzen, habe aber die Unannehmlichkeiten dieser
Art zu heizen gleich ordentlich kennen gelernt: an der Seite, die ich dem Feuer
zukehrte und möglichst näherte, war ich in Gefahr zu braten oder anzubrennen,
während die andre Seite beinahe erfror. Später freilich, als das Thermometer „um
Null herum" stand, lernte ich auch die Behaglichkeit des Sitzens vor einem solchen
Kamin wohl kennen und würdigen, freue mich aber noch jetzt in jedem Winter wieder,
daß wir hierzulande ordentliche Ofen haben.

Um französischen Unterricht zu bekommen, wandte ich mich an den xrovissur
des oollsg's in Le Puy, und dieser wies mich einem seiner Kollegen zu, dem
xrotsWmu' as« lanAues vivg,necs. Dieser Herr war freilich Elsasser und hatte in¬
folgedessen, wie ich gleich merkte und hörte, keine besonders gute Aussprache, trotzdem
erschien er wie dem provissuz- auch mir deshalb wohl geeignet für meine Zwecke,
weil er natürlich auch geläufig Deutsch sprach, sodaß wir uns auf alle Fälle leicht
und sicher verständigen konnten. So wurde ich denn wieder „Schüler," ging
wöchentlich an zwei Nachmittagen zu ihm, und wir verbrachten eine Stunde mit
Übersetzen, Sprechen und grammatischen Erörterungen; auch schriftliche Übersetzungen
ins Französische arbeitete ich und hatte somit Gelegenheit und Veranlassung, meine
grammatischen und lexikalischen Kenntnisse aufzufrischen, zu erweitern und zu ver¬
tiefen und mich zugleich im „Parlierer" zu üben. An Unterhaltungsstoff fehlte es
uns auch nicht. Mein Professor war zwar durchaus französisch und republikanisch
gesinnt, interessierte sich aber daneben auch für manches Deutsche, namentlich für
unsre Klassiker; dazu erzählten wir uns von unsern Heimatländern, und einen ganz
unerschöpflichen Stoff boten ja die Tagesereignisse, die Kriegsnachrichten usw. Wie
kounte er lebhaft, ja hitzig werden, wenn auf Napoleon die Rede kam, den er nie
anders nannte als os KiutinAuczt,, oder auf Bazaine, den auch er für einen trkntrs
hielt. Wenn nun bei solchen Gesprächen natürlich oft ganz verschiedne, jn entgegen¬
gesetzte Ansichten zutage traten und unsre Debatten zuweilen sehr eifrig wurden,
so vertrugen wir uns doch immer sehr gut, die Stunden vergingen sehr angenehm
und sind mir eine liebe Erinnerung, und ich gedenke des alten Professors, mit dem
ich auch später noch einige Briefe gewechselt und die Photographie ausgetauscht habe,
immer mit vieler Dankbarkeit.

So hatte ich nun, was mir zusagte, ernstere geistige Arbeit, so viel ich wollte;
nun konnte ich auch französische Bücher, die ich mir teils kaufte, meistens aber von
meinem Lehrer oder meinen Hauswirten lieh, bald mit größerer Gewandtheit und
sicherm Verständnis lesen. Hierdurch bekam mein Leben auch mehr Inhalt, während
es sonst natürlich höchst gleichmäßig, ja sehr eintönig verlief oder vielmehr dahin-
schlich. Dazu trug die Stimmung, in der man als Kriegsgefangner lebte, auch ihr
Teil bei. Wohl war der Verkehr unter uns Deutschen kameradschaftlich zwanglos,
und nur selten wurde das freundschaftliche Einvernehmen gestört — ich entsinne
mich nur eines Streites, den ein Berliner Herr durch einige von uns übrigen
Preußen sofort entschieden mißbilligte Bemerkungen über und gegen die Bayern
verschuldet hatte —; wohl bewahrte sich bei uns wieder die Richtigkeit des alten
Satzes: „Leidenden ist es ein Trost, Genossen zu haben im Unglück," aber zufrieden
und wohl konnte sich doch niemand fühlen, und hat sich sicherlich niemand gefühlt.
Wenn man auch Gott dankte, daß man gesund und am Leben war, so erwachten
doch an jedem neuen Morgen auch von neuem der Schmerz und der Verdruß, daß
man Gefangner war. Tagtäglich lasen wir von dem Kriege und deu Kämpfen, wir
erfuhren von den Siegen der Unsern, an denen wir nun nicht, wie früher, teilnehmen


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[0788] Erinnerungen aus der Kriegsgefangenschaft in den Jahren 5 370 und i^37 ^ vier Wochen in einer, die mir aber auf die Dauer zu teuer war, dann noch in einer zweiten, billigern. Nun konnte mein Leben auch insofern anders eingerichtet werden, als das Zimmer natürlich heizbar war und gleich, nachdem ich aufgestanden war, geheizt wurde, ich also früher aufstehn konnte. Freilich gerade in den ersten Tagen nach dieser Veränderung trat jene besonders heftige Kälte ein, und mein Zimmer hatte selbstverständlich keinen Ofen, sondern nur einen Kamin. Da konnte ich denn wohl am brennenden Feuer sitzen, habe aber die Unannehmlichkeiten dieser Art zu heizen gleich ordentlich kennen gelernt: an der Seite, die ich dem Feuer zukehrte und möglichst näherte, war ich in Gefahr zu braten oder anzubrennen, während die andre Seite beinahe erfror. Später freilich, als das Thermometer „um Null herum" stand, lernte ich auch die Behaglichkeit des Sitzens vor einem solchen Kamin wohl kennen und würdigen, freue mich aber noch jetzt in jedem Winter wieder, daß wir hierzulande ordentliche Ofen haben. Um französischen Unterricht zu bekommen, wandte ich mich an den xrovissur des oollsg's in Le Puy, und dieser wies mich einem seiner Kollegen zu, dem xrotsWmu' as« lanAues vivg,necs. Dieser Herr war freilich Elsasser und hatte in¬ folgedessen, wie ich gleich merkte und hörte, keine besonders gute Aussprache, trotzdem erschien er wie dem provissuz- auch mir deshalb wohl geeignet für meine Zwecke, weil er natürlich auch geläufig Deutsch sprach, sodaß wir uns auf alle Fälle leicht und sicher verständigen konnten. So wurde ich denn wieder „Schüler," ging wöchentlich an zwei Nachmittagen zu ihm, und wir verbrachten eine Stunde mit Übersetzen, Sprechen und grammatischen Erörterungen; auch schriftliche Übersetzungen ins Französische arbeitete ich und hatte somit Gelegenheit und Veranlassung, meine grammatischen und lexikalischen Kenntnisse aufzufrischen, zu erweitern und zu ver¬ tiefen und mich zugleich im „Parlierer" zu üben. An Unterhaltungsstoff fehlte es uns auch nicht. Mein Professor war zwar durchaus französisch und republikanisch gesinnt, interessierte sich aber daneben auch für manches Deutsche, namentlich für unsre Klassiker; dazu erzählten wir uns von unsern Heimatländern, und einen ganz unerschöpflichen Stoff boten ja die Tagesereignisse, die Kriegsnachrichten usw. Wie kounte er lebhaft, ja hitzig werden, wenn auf Napoleon die Rede kam, den er nie anders nannte als os KiutinAuczt,, oder auf Bazaine, den auch er für einen trkntrs hielt. Wenn nun bei solchen Gesprächen natürlich oft ganz verschiedne, jn entgegen¬ gesetzte Ansichten zutage traten und unsre Debatten zuweilen sehr eifrig wurden, so vertrugen wir uns doch immer sehr gut, die Stunden vergingen sehr angenehm und sind mir eine liebe Erinnerung, und ich gedenke des alten Professors, mit dem ich auch später noch einige Briefe gewechselt und die Photographie ausgetauscht habe, immer mit vieler Dankbarkeit. So hatte ich nun, was mir zusagte, ernstere geistige Arbeit, so viel ich wollte; nun konnte ich auch französische Bücher, die ich mir teils kaufte, meistens aber von meinem Lehrer oder meinen Hauswirten lieh, bald mit größerer Gewandtheit und sicherm Verständnis lesen. Hierdurch bekam mein Leben auch mehr Inhalt, während es sonst natürlich höchst gleichmäßig, ja sehr eintönig verlief oder vielmehr dahin- schlich. Dazu trug die Stimmung, in der man als Kriegsgefangner lebte, auch ihr Teil bei. Wohl war der Verkehr unter uns Deutschen kameradschaftlich zwanglos, und nur selten wurde das freundschaftliche Einvernehmen gestört — ich entsinne mich nur eines Streites, den ein Berliner Herr durch einige von uns übrigen Preußen sofort entschieden mißbilligte Bemerkungen über und gegen die Bayern verschuldet hatte —; wohl bewahrte sich bei uns wieder die Richtigkeit des alten Satzes: „Leidenden ist es ein Trost, Genossen zu haben im Unglück," aber zufrieden und wohl konnte sich doch niemand fühlen, und hat sich sicherlich niemand gefühlt. Wenn man auch Gott dankte, daß man gesund und am Leben war, so erwachten doch an jedem neuen Morgen auch von neuem der Schmerz und der Verdruß, daß man Gefangner war. Tagtäglich lasen wir von dem Kriege und deu Kämpfen, wir erfuhren von den Siegen der Unsern, an denen wir nun nicht, wie früher, teilnehmen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_292796/788>, abgerufen am 23.07.2024.