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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr.

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Die allgemeine Fortbildungsschule und die Sozialdemokratie

es sich einfach um die Frage handelt, ob der Unternehmer auf die Beschäftigung
junger Arbeiter ganz verzichten oder sie Abends ein oder zwei Stunden früher
entlassen soll, so wird er wohl immer das letzte vorziehn und sich nicht scheuen,
fortbildungsschulpflichtige Arbeiter und Lehrlinge zu beschäftigen, zumal da
man den Interessen der Brotherren durch geschickte Anordnung der mindestens
auf achtzehn bis zwanzig Wochen zu bemcfsenden Jahresferien sehr entgegen¬
kommen könnte. Und ich zweifle nicht, daß bald jeder verstündige Prinzipal
der neuen Fortbildungsschule nur dankbar sein würde. Denn sicher wird durch
die Schule in die jungen Arbeiter ein ganz andrer Geist einziehn. Sie werden
gefügiger und gehorsamer werden, sie werden den Glauben an eine Autorität,
der heute zumeist verloren ist, wieder gewinnen. Denn selbstverständlich muß
die Fortbildungsschule mit ernsten Zwangsmitteln ausgestattet werden. Dabei
darf sie aber nicht als eine Besserungsanstalt angesehen werden. Durch
Unterricht in der Musik und der vaterländischen Geschichte, dnrch gemeinsame
Vergnügungen und Feste soll sie den jungen Leuten auch eine Stätte der Er¬
holung und Erfrischung sein. Das, was man mit deu christlichen Jünglings¬
vereinen leider oft nicht erreicht hat, die jungen Leute in ihren Freistunden
angemessen und zugleich angenehm zu unterhalten und sie dadurch von den
bellte unter den jungen Leuten meist üblichen Vergnügungen des Trinkens und
Tanzens fern zu halten, wird man in einer geschickt geleiteten Fortbildungs¬
schule zumeist leicht erreiche".

Nun sind zwar siebzehn- bis achtzehnjährige Jünglinge keine fertigen
Männer, und sollte es, wie ich hoffe, wirklich gelingen, den jungen Leuten
einen verständigen Begriff von dem Wesen und Wirken des Staats beizu¬
bringen, so könnte diese Frucht langjähriger Arbeit nach der Fortbildungsschule
durch den großen Einfluß älterer Kollegen sehr bald wieder verkümmern. Das
ist gewiß eine große Gefahr. Ihr müßte man dadurch zu begegnen versuchen,
daß man die politische Erziehung der jungen Leute während der militärischen
Dienstzeit fortsetzte. Das Heer ist zweifellos nicht nur eine Vorbereitungs¬
anstalt für den Krieg, sondern eine große Vvlkserziehungsanstalt, zum mindesten
sollte es das sein. Allerdings ist mir sehr wohl bewußt, daß das Heer in
dieser Beziehung seiner großen Aufgabe noch längst nicht gewachsen ist, aber
daß diese Aufgabe dem Heer gestellt ist, ist eine Auffassung, die sich an den
maßgebenden Stellen immer mehr Bahn bricht und mit der Zeit zum Siege
gelangen wird. Dann wird man auch das Heer in den Stand setzen, die
politische Erziehung der waffenfähigen Jugend zu vollenden und damit das
Vaterland nicht nur gegen den äußern, sondern namentlich gegen den innern
Feind zu schützend)





*) Nach Beendigung dieses Aufsatzes bekomme ich zufällig Kenntnis von dem vom
Schulrat v>'. Georg Kerschensteiner auf dem vierten deutschen Handwerks- und Gewerbekammer¬
tag zu Minden gehaltnen Vortrage "Die gewerbliche Fortbildungsschule," worin ähnliche Slw
sichten wie in meinem Aufsatze vorgetragen und an der Hand der Erfahrungen erläutert werden.
Die allgemeine Fortbildungsschule und die Sozialdemokratie

es sich einfach um die Frage handelt, ob der Unternehmer auf die Beschäftigung
junger Arbeiter ganz verzichten oder sie Abends ein oder zwei Stunden früher
entlassen soll, so wird er wohl immer das letzte vorziehn und sich nicht scheuen,
fortbildungsschulpflichtige Arbeiter und Lehrlinge zu beschäftigen, zumal da
man den Interessen der Brotherren durch geschickte Anordnung der mindestens
auf achtzehn bis zwanzig Wochen zu bemcfsenden Jahresferien sehr entgegen¬
kommen könnte. Und ich zweifle nicht, daß bald jeder verstündige Prinzipal
der neuen Fortbildungsschule nur dankbar sein würde. Denn sicher wird durch
die Schule in die jungen Arbeiter ein ganz andrer Geist einziehn. Sie werden
gefügiger und gehorsamer werden, sie werden den Glauben an eine Autorität,
der heute zumeist verloren ist, wieder gewinnen. Denn selbstverständlich muß
die Fortbildungsschule mit ernsten Zwangsmitteln ausgestattet werden. Dabei
darf sie aber nicht als eine Besserungsanstalt angesehen werden. Durch
Unterricht in der Musik und der vaterländischen Geschichte, dnrch gemeinsame
Vergnügungen und Feste soll sie den jungen Leuten auch eine Stätte der Er¬
holung und Erfrischung sein. Das, was man mit deu christlichen Jünglings¬
vereinen leider oft nicht erreicht hat, die jungen Leute in ihren Freistunden
angemessen und zugleich angenehm zu unterhalten und sie dadurch von den
bellte unter den jungen Leuten meist üblichen Vergnügungen des Trinkens und
Tanzens fern zu halten, wird man in einer geschickt geleiteten Fortbildungs¬
schule zumeist leicht erreiche».

Nun sind zwar siebzehn- bis achtzehnjährige Jünglinge keine fertigen
Männer, und sollte es, wie ich hoffe, wirklich gelingen, den jungen Leuten
einen verständigen Begriff von dem Wesen und Wirken des Staats beizu¬
bringen, so könnte diese Frucht langjähriger Arbeit nach der Fortbildungsschule
durch den großen Einfluß älterer Kollegen sehr bald wieder verkümmern. Das
ist gewiß eine große Gefahr. Ihr müßte man dadurch zu begegnen versuchen,
daß man die politische Erziehung der jungen Leute während der militärischen
Dienstzeit fortsetzte. Das Heer ist zweifellos nicht nur eine Vorbereitungs¬
anstalt für den Krieg, sondern eine große Vvlkserziehungsanstalt, zum mindesten
sollte es das sein. Allerdings ist mir sehr wohl bewußt, daß das Heer in
dieser Beziehung seiner großen Aufgabe noch längst nicht gewachsen ist, aber
daß diese Aufgabe dem Heer gestellt ist, ist eine Auffassung, die sich an den
maßgebenden Stellen immer mehr Bahn bricht und mit der Zeit zum Siege
gelangen wird. Dann wird man auch das Heer in den Stand setzen, die
politische Erziehung der waffenfähigen Jugend zu vollenden und damit das
Vaterland nicht nur gegen den äußern, sondern namentlich gegen den innern
Feind zu schützend)





*) Nach Beendigung dieses Aufsatzes bekomme ich zufällig Kenntnis von dem vom
Schulrat v>'. Georg Kerschensteiner auf dem vierten deutschen Handwerks- und Gewerbekammer¬
tag zu Minden gehaltnen Vortrage „Die gewerbliche Fortbildungsschule," worin ähnliche Slw
sichten wie in meinem Aufsatze vorgetragen und an der Hand der Erfahrungen erläutert werden.
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[0770] Die allgemeine Fortbildungsschule und die Sozialdemokratie es sich einfach um die Frage handelt, ob der Unternehmer auf die Beschäftigung junger Arbeiter ganz verzichten oder sie Abends ein oder zwei Stunden früher entlassen soll, so wird er wohl immer das letzte vorziehn und sich nicht scheuen, fortbildungsschulpflichtige Arbeiter und Lehrlinge zu beschäftigen, zumal da man den Interessen der Brotherren durch geschickte Anordnung der mindestens auf achtzehn bis zwanzig Wochen zu bemcfsenden Jahresferien sehr entgegen¬ kommen könnte. Und ich zweifle nicht, daß bald jeder verstündige Prinzipal der neuen Fortbildungsschule nur dankbar sein würde. Denn sicher wird durch die Schule in die jungen Arbeiter ein ganz andrer Geist einziehn. Sie werden gefügiger und gehorsamer werden, sie werden den Glauben an eine Autorität, der heute zumeist verloren ist, wieder gewinnen. Denn selbstverständlich muß die Fortbildungsschule mit ernsten Zwangsmitteln ausgestattet werden. Dabei darf sie aber nicht als eine Besserungsanstalt angesehen werden. Durch Unterricht in der Musik und der vaterländischen Geschichte, dnrch gemeinsame Vergnügungen und Feste soll sie den jungen Leuten auch eine Stätte der Er¬ holung und Erfrischung sein. Das, was man mit deu christlichen Jünglings¬ vereinen leider oft nicht erreicht hat, die jungen Leute in ihren Freistunden angemessen und zugleich angenehm zu unterhalten und sie dadurch von den bellte unter den jungen Leuten meist üblichen Vergnügungen des Trinkens und Tanzens fern zu halten, wird man in einer geschickt geleiteten Fortbildungs¬ schule zumeist leicht erreiche». Nun sind zwar siebzehn- bis achtzehnjährige Jünglinge keine fertigen Männer, und sollte es, wie ich hoffe, wirklich gelingen, den jungen Leuten einen verständigen Begriff von dem Wesen und Wirken des Staats beizu¬ bringen, so könnte diese Frucht langjähriger Arbeit nach der Fortbildungsschule durch den großen Einfluß älterer Kollegen sehr bald wieder verkümmern. Das ist gewiß eine große Gefahr. Ihr müßte man dadurch zu begegnen versuchen, daß man die politische Erziehung der jungen Leute während der militärischen Dienstzeit fortsetzte. Das Heer ist zweifellos nicht nur eine Vorbereitungs¬ anstalt für den Krieg, sondern eine große Vvlkserziehungsanstalt, zum mindesten sollte es das sein. Allerdings ist mir sehr wohl bewußt, daß das Heer in dieser Beziehung seiner großen Aufgabe noch längst nicht gewachsen ist, aber daß diese Aufgabe dem Heer gestellt ist, ist eine Auffassung, die sich an den maßgebenden Stellen immer mehr Bahn bricht und mit der Zeit zum Siege gelangen wird. Dann wird man auch das Heer in den Stand setzen, die politische Erziehung der waffenfähigen Jugend zu vollenden und damit das Vaterland nicht nur gegen den äußern, sondern namentlich gegen den innern Feind zu schützend) *) Nach Beendigung dieses Aufsatzes bekomme ich zufällig Kenntnis von dem vom Schulrat v>'. Georg Kerschensteiner auf dem vierten deutschen Handwerks- und Gewerbekammer¬ tag zu Minden gehaltnen Vortrage „Die gewerbliche Fortbildungsschule," worin ähnliche Slw sichten wie in meinem Aufsatze vorgetragen und an der Hand der Erfahrungen erläutert werden.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_292796/770>, abgerufen am 24.08.2024.