Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Herbert Spencers System

gesetzt das scheinbar Einfache, wie lebendig das scheinbar Tote! Ein andrer,
der genauer erkennt, um was es sich handelt, wird sagen: Da du mich einen
Materialisten nennst, so scheinst du zu meinen, ich identifizierte Geist und
Materie. Ich tue jedoch nichts dergleichen. Ich identifiziere Geist und Be¬
wegung, Bewegung aber ist nichts Materielles. Du meinst, ich sähe keinen
wesentlichen Unterschied zwischen Geist und Gehirn. Ebensogut könnte ich
dich beschuldigen, du sähest keinen wesentlichen Unterschied zwischen der Musik
und dem Piano, dem sie entlockt wird. Aber dieses Bild ist noch zu roh.
Und auch deine Borstellungen, du Spiritualist, sind mir zu grob. Ich weiß
nicht, in welchem Grade du den von den Urmenschen ererbten Glauben an
Geister, wie er sich noch bei Naturvölkern findet, verfeinert hast. Diese Geister
waren so materiell, daß sie an Schlachten teilnehmen und womöglich noch
einmal totgeschlagen werden konnten. In meiner Vorstellung ist der Geist nicht
etwas relativ Immaterielles, sondern das absolut Immaterielle. Er hat nicht
einmal die feine Materialität des Äthers, der das füllt, was du den leeren
Raum nennst, aber er läßt sich mit der Wirksamkeit sowohl des Äthers als
auch aller andern wahrnehmbaren Wesen vergleichen. Überall ein- und aus¬
strömend, löst er unaufhörlich die organischen wie die unorganischen Wesen auf
und bildet sie aufs neue. Den erfüllten wie den scheinbar leeren Raum gleicher¬
weise durchdringend, verleiht er der wägbaren Substanz die Kraft zu wirken
und auf Einwirkungen zurückzuwirken, der unwägbaren Substanz aber die
Kraft, Wirkung und Rückwirkung von einem Körper auf den andern zu über¬
tragen.

Doch auch diese verhältnismäßig zutreffende Antwort des sogenannten
Materialisten ist nicht die, die Spencer selbst geben will. Er wiederholt noch
einmal: Weder vermag der Psycholog die Natur der Seele, noch der Chemiker
die Natur der Materie, noch der Physiker die der Bewegung zu ergründen.
Wir wissen nicht, was ein Atom ist, und obwohl wir Grund haben, Mole¬
kularbewegung und eine Erschütterung des Bewußtseins Stoole ok vonsoiousnöss
schreibt er hier besser für das, was er gewöhnlich nkivons snoolc nennt) für
ein und dasselbe Ding zu halten, so bleiben wir doch unfähig, die beiden so
miteinander zu verbinden, daß wir eine Vorstellung von der Wesenheit dessen
bekämen, wovon sie die zwei entgegengesetzten Ansichten sind. Fest steht nur
dieses: wir können von der Materie nur reden in Ausdrücken, die dem geistigen
Leben entnommen sind (weil alles, was wir von ihr aussagen, aus den
Empfindungen stammt, die sie uns verursacht), und wir können vom Geiste
nnr reden in Bildern, die der materiellen Welt entnommen find. Sind wir
mit der Erforschung der Materie an die äußerste Grenze gelangt, so werden
wir an den Geist gewiesen, uns von ihm die Antwort auf die letzte Frage zu
Holm, und haben wir sie empfangen, so werden wir zur Materie zurückgeschickt,
daß sie sie uns verständlich mache. So wird es uns denn auch hierdurch zur
Gewißheit, daß es dieselbe Wesenheit ist, die sich uns als Objekt und als
Subjekt offenbart, und daraus folgt nun weiter, daß für die innere und für
die äußere Welt dieselben Entwicklungsgesetze gelten.


Herbert Spencers System

gesetzt das scheinbar Einfache, wie lebendig das scheinbar Tote! Ein andrer,
der genauer erkennt, um was es sich handelt, wird sagen: Da du mich einen
Materialisten nennst, so scheinst du zu meinen, ich identifizierte Geist und
Materie. Ich tue jedoch nichts dergleichen. Ich identifiziere Geist und Be¬
wegung, Bewegung aber ist nichts Materielles. Du meinst, ich sähe keinen
wesentlichen Unterschied zwischen Geist und Gehirn. Ebensogut könnte ich
dich beschuldigen, du sähest keinen wesentlichen Unterschied zwischen der Musik
und dem Piano, dem sie entlockt wird. Aber dieses Bild ist noch zu roh.
Und auch deine Borstellungen, du Spiritualist, sind mir zu grob. Ich weiß
nicht, in welchem Grade du den von den Urmenschen ererbten Glauben an
Geister, wie er sich noch bei Naturvölkern findet, verfeinert hast. Diese Geister
waren so materiell, daß sie an Schlachten teilnehmen und womöglich noch
einmal totgeschlagen werden konnten. In meiner Vorstellung ist der Geist nicht
etwas relativ Immaterielles, sondern das absolut Immaterielle. Er hat nicht
einmal die feine Materialität des Äthers, der das füllt, was du den leeren
Raum nennst, aber er läßt sich mit der Wirksamkeit sowohl des Äthers als
auch aller andern wahrnehmbaren Wesen vergleichen. Überall ein- und aus¬
strömend, löst er unaufhörlich die organischen wie die unorganischen Wesen auf
und bildet sie aufs neue. Den erfüllten wie den scheinbar leeren Raum gleicher¬
weise durchdringend, verleiht er der wägbaren Substanz die Kraft zu wirken
und auf Einwirkungen zurückzuwirken, der unwägbaren Substanz aber die
Kraft, Wirkung und Rückwirkung von einem Körper auf den andern zu über¬
tragen.

Doch auch diese verhältnismäßig zutreffende Antwort des sogenannten
Materialisten ist nicht die, die Spencer selbst geben will. Er wiederholt noch
einmal: Weder vermag der Psycholog die Natur der Seele, noch der Chemiker
die Natur der Materie, noch der Physiker die der Bewegung zu ergründen.
Wir wissen nicht, was ein Atom ist, und obwohl wir Grund haben, Mole¬
kularbewegung und eine Erschütterung des Bewußtseins Stoole ok vonsoiousnöss
schreibt er hier besser für das, was er gewöhnlich nkivons snoolc nennt) für
ein und dasselbe Ding zu halten, so bleiben wir doch unfähig, die beiden so
miteinander zu verbinden, daß wir eine Vorstellung von der Wesenheit dessen
bekämen, wovon sie die zwei entgegengesetzten Ansichten sind. Fest steht nur
dieses: wir können von der Materie nur reden in Ausdrücken, die dem geistigen
Leben entnommen sind (weil alles, was wir von ihr aussagen, aus den
Empfindungen stammt, die sie uns verursacht), und wir können vom Geiste
nnr reden in Bildern, die der materiellen Welt entnommen find. Sind wir
mit der Erforschung der Materie an die äußerste Grenze gelangt, so werden
wir an den Geist gewiesen, uns von ihm die Antwort auf die letzte Frage zu
Holm, und haben wir sie empfangen, so werden wir zur Materie zurückgeschickt,
daß sie sie uns verständlich mache. So wird es uns denn auch hierdurch zur
Gewißheit, daß es dieselbe Wesenheit ist, die sich uns als Objekt und als
Subjekt offenbart, und daraus folgt nun weiter, daß für die innere und für
die äußere Welt dieselben Entwicklungsgesetze gelten.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0652" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/293449"/>
          <fw type="header" place="top"> Herbert Spencers System</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_3661" prev="#ID_3660"> gesetzt das scheinbar Einfache, wie lebendig das scheinbar Tote! Ein andrer,<lb/>
der genauer erkennt, um was es sich handelt, wird sagen: Da du mich einen<lb/>
Materialisten nennst, so scheinst du zu meinen, ich identifizierte Geist und<lb/>
Materie. Ich tue jedoch nichts dergleichen. Ich identifiziere Geist und Be¬<lb/>
wegung, Bewegung aber ist nichts Materielles. Du meinst, ich sähe keinen<lb/>
wesentlichen Unterschied zwischen Geist und Gehirn. Ebensogut könnte ich<lb/>
dich beschuldigen, du sähest keinen wesentlichen Unterschied zwischen der Musik<lb/>
und dem Piano, dem sie entlockt wird. Aber dieses Bild ist noch zu roh.<lb/>
Und auch deine Borstellungen, du Spiritualist, sind mir zu grob. Ich weiß<lb/>
nicht, in welchem Grade du den von den Urmenschen ererbten Glauben an<lb/>
Geister, wie er sich noch bei Naturvölkern findet, verfeinert hast. Diese Geister<lb/>
waren so materiell, daß sie an Schlachten teilnehmen und womöglich noch<lb/>
einmal totgeschlagen werden konnten. In meiner Vorstellung ist der Geist nicht<lb/>
etwas relativ Immaterielles, sondern das absolut Immaterielle. Er hat nicht<lb/>
einmal die feine Materialität des Äthers, der das füllt, was du den leeren<lb/>
Raum nennst, aber er läßt sich mit der Wirksamkeit sowohl des Äthers als<lb/>
auch aller andern wahrnehmbaren Wesen vergleichen. Überall ein- und aus¬<lb/>
strömend, löst er unaufhörlich die organischen wie die unorganischen Wesen auf<lb/>
und bildet sie aufs neue. Den erfüllten wie den scheinbar leeren Raum gleicher¬<lb/>
weise durchdringend, verleiht er der wägbaren Substanz die Kraft zu wirken<lb/>
und auf Einwirkungen zurückzuwirken, der unwägbaren Substanz aber die<lb/>
Kraft, Wirkung und Rückwirkung von einem Körper auf den andern zu über¬<lb/>
tragen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_3662"> Doch auch diese verhältnismäßig zutreffende Antwort des sogenannten<lb/>
Materialisten ist nicht die, die Spencer selbst geben will. Er wiederholt noch<lb/>
einmal: Weder vermag der Psycholog die Natur der Seele, noch der Chemiker<lb/>
die Natur der Materie, noch der Physiker die der Bewegung zu ergründen.<lb/>
Wir wissen nicht, was ein Atom ist, und obwohl wir Grund haben, Mole¬<lb/>
kularbewegung und eine Erschütterung des Bewußtseins Stoole ok vonsoiousnöss<lb/>
schreibt er hier besser für das, was er gewöhnlich nkivons snoolc nennt) für<lb/>
ein und dasselbe Ding zu halten, so bleiben wir doch unfähig, die beiden so<lb/>
miteinander zu verbinden, daß wir eine Vorstellung von der Wesenheit dessen<lb/>
bekämen, wovon sie die zwei entgegengesetzten Ansichten sind. Fest steht nur<lb/>
dieses: wir können von der Materie nur reden in Ausdrücken, die dem geistigen<lb/>
Leben entnommen sind (weil alles, was wir von ihr aussagen, aus den<lb/>
Empfindungen stammt, die sie uns verursacht), und wir können vom Geiste<lb/>
nnr reden in Bildern, die der materiellen Welt entnommen find. Sind wir<lb/>
mit der Erforschung der Materie an die äußerste Grenze gelangt, so werden<lb/>
wir an den Geist gewiesen, uns von ihm die Antwort auf die letzte Frage zu<lb/>
Holm, und haben wir sie empfangen, so werden wir zur Materie zurückgeschickt,<lb/>
daß sie sie uns verständlich mache. So wird es uns denn auch hierdurch zur<lb/>
Gewißheit, daß es dieselbe Wesenheit ist, die sich uns als Objekt und als<lb/>
Subjekt offenbart, und daraus folgt nun weiter, daß für die innere und für<lb/>
die äußere Welt dieselben Entwicklungsgesetze gelten.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0652] Herbert Spencers System gesetzt das scheinbar Einfache, wie lebendig das scheinbar Tote! Ein andrer, der genauer erkennt, um was es sich handelt, wird sagen: Da du mich einen Materialisten nennst, so scheinst du zu meinen, ich identifizierte Geist und Materie. Ich tue jedoch nichts dergleichen. Ich identifiziere Geist und Be¬ wegung, Bewegung aber ist nichts Materielles. Du meinst, ich sähe keinen wesentlichen Unterschied zwischen Geist und Gehirn. Ebensogut könnte ich dich beschuldigen, du sähest keinen wesentlichen Unterschied zwischen der Musik und dem Piano, dem sie entlockt wird. Aber dieses Bild ist noch zu roh. Und auch deine Borstellungen, du Spiritualist, sind mir zu grob. Ich weiß nicht, in welchem Grade du den von den Urmenschen ererbten Glauben an Geister, wie er sich noch bei Naturvölkern findet, verfeinert hast. Diese Geister waren so materiell, daß sie an Schlachten teilnehmen und womöglich noch einmal totgeschlagen werden konnten. In meiner Vorstellung ist der Geist nicht etwas relativ Immaterielles, sondern das absolut Immaterielle. Er hat nicht einmal die feine Materialität des Äthers, der das füllt, was du den leeren Raum nennst, aber er läßt sich mit der Wirksamkeit sowohl des Äthers als auch aller andern wahrnehmbaren Wesen vergleichen. Überall ein- und aus¬ strömend, löst er unaufhörlich die organischen wie die unorganischen Wesen auf und bildet sie aufs neue. Den erfüllten wie den scheinbar leeren Raum gleicher¬ weise durchdringend, verleiht er der wägbaren Substanz die Kraft zu wirken und auf Einwirkungen zurückzuwirken, der unwägbaren Substanz aber die Kraft, Wirkung und Rückwirkung von einem Körper auf den andern zu über¬ tragen. Doch auch diese verhältnismäßig zutreffende Antwort des sogenannten Materialisten ist nicht die, die Spencer selbst geben will. Er wiederholt noch einmal: Weder vermag der Psycholog die Natur der Seele, noch der Chemiker die Natur der Materie, noch der Physiker die der Bewegung zu ergründen. Wir wissen nicht, was ein Atom ist, und obwohl wir Grund haben, Mole¬ kularbewegung und eine Erschütterung des Bewußtseins Stoole ok vonsoiousnöss schreibt er hier besser für das, was er gewöhnlich nkivons snoolc nennt) für ein und dasselbe Ding zu halten, so bleiben wir doch unfähig, die beiden so miteinander zu verbinden, daß wir eine Vorstellung von der Wesenheit dessen bekämen, wovon sie die zwei entgegengesetzten Ansichten sind. Fest steht nur dieses: wir können von der Materie nur reden in Ausdrücken, die dem geistigen Leben entnommen sind (weil alles, was wir von ihr aussagen, aus den Empfindungen stammt, die sie uns verursacht), und wir können vom Geiste nnr reden in Bildern, die der materiellen Welt entnommen find. Sind wir mit der Erforschung der Materie an die äußerste Grenze gelangt, so werden wir an den Geist gewiesen, uns von ihm die Antwort auf die letzte Frage zu Holm, und haben wir sie empfangen, so werden wir zur Materie zurückgeschickt, daß sie sie uns verständlich mache. So wird es uns denn auch hierdurch zur Gewißheit, daß es dieselbe Wesenheit ist, die sich uns als Objekt und als Subjekt offenbart, und daraus folgt nun weiter, daß für die innere und für die äußere Welt dieselben Entwicklungsgesetze gelten.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_292796
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_292796/652
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_292796/652>, abgerufen am 03.07.2024.