Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr.Über die Nebenwirkungen der großen sozialen Gesetze habung und der Ausführung der sozialen Gesetze weniger beteiligten Publikum Man kann es leider nicht leugnen, daß diese Gesetze, die so viel Tränen Am wenigsten kann man diese Schädigungen bei den Wirkungen des Eine viel einschneidendere Bedeutung für die behauptete Schädigung der Über die Nebenwirkungen der großen sozialen Gesetze habung und der Ausführung der sozialen Gesetze weniger beteiligten Publikum Man kann es leider nicht leugnen, daß diese Gesetze, die so viel Tränen Am wenigsten kann man diese Schädigungen bei den Wirkungen des Eine viel einschneidendere Bedeutung für die behauptete Schädigung der <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0638" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/293435"/> <fw type="header" place="top"> Über die Nebenwirkungen der großen sozialen Gesetze</fw><lb/> <p xml:id="ID_3626" prev="#ID_3625"> habung und der Ausführung der sozialen Gesetze weniger beteiligten Publikum<lb/> auch einmal die Schattenseiten gezeigt werden, die sie im Gefolge gehabt<lb/> haben, um auch diese Kreise zur Bekämpfung der Gefahren, die die Gesetze<lb/> mit sich bringen, anzuregen und für die nicht immer angenehme Tätigkeit der<lb/> an der Ausführung dieser Gesetze Beteiligten gerechtes Interesse zu erwecken.</p><lb/> <p xml:id="ID_3627"> Man kann es leider nicht leugnen, daß diese Gesetze, die so viel Tränen<lb/> getrocknet, so viel kleines Menschenglück, das früher vernichtet worden wäre,<lb/> erhalten haben und erhalten werden, als traurige Nebenwirkung eine gewisse<lb/> Schädigung der Volksmoral mit sich gebracht haben, von der es ungewiß ist,<lb/> ob sie sich bei der weitern Ausdehnung der Fürsorge nicht noch steigern wird.</p><lb/> <p xml:id="ID_3628"> Am wenigsten kann man diese Schädigungen bei den Wirkungen des<lb/> Krankenversicherungsgesetzes feststellen. Natürlich kommen bei den Ver¬<lb/> sicherten Simulationen und Übertreibungen genng vor, durch die sie sich in den<lb/> Genuß des Krankengeldes setzen oder dieses länger behalten wollen. Aber das<lb/> Krankengeld ist in der Regel doch so wenig bedeutend, daß die Verlockung,<lb/> deswegen eine moralisch verwerfliche Handlung zu begehn, nicht groß genug<lb/> ist. Besonders in Zeiten wirtschaftlichen Niedergangs wird die Krankenkasse<lb/> leicht als Versicherung gegen Arbeitslosigkeit ausgenutzt, aber mildernd tritt für den<lb/> Beurteiler solcher Handlungsweise sowohl die Notlage des Versicherten als auch<lb/> der Umstand ein, daß mit dem wirtschaftlichen Niedergang eine Herabsetzung der<lb/> Lebenshaltung einhergeht, die dazu geeignet ist, den Gesundheitszustand ungünstig<lb/> zu beeinflussen. Die ganzen hierdurch geschaffnen Verhältnisse führen dazu,<lb/> leichte, dadurch gesteigerte Krankheitszustände schlimmer aufzufassen, als es in<lb/> Zeiten drängender Arbeit und guten Verdienstes geschehen würde, und so kann<lb/> leicht einem noch moralisch tüchtigen Menschen auf dem Wege der fehlerhaften<lb/> Vorstellung die Überzeugung kommen, daß er krank und des Krankengeldes<lb/> bedürftig sei. Natürlich handelt es sich hier nie um Dinge, die der Arzt, dem<lb/> die unangenehme Pflicht zufällt, über die Arbeitsfähigkeit des Betreffenden zu<lb/> entscheiden, sofort als nichtig erkennen würde, sondern um das Heer der innern<lb/> Krankheiten, wie z. B. der rheumatischen, die der scharfen Erkennungszeichen<lb/> ermangeln. Allzulange kann aber der auf diese, ich möchte sagen beinahe un¬<lb/> schuldige Weise gewonnene, aber im strengen Sinn unrechtmäßige Vorteil nicht<lb/> dauern, da die sorgfältige Kontrolle durch die Kassen, die die geringste gewinn¬<lb/> bringende Beschäftigung während der Krankheit verhindert und beim Ertappen<lb/> dabei die Auszahlung des Krankengeldes ausschließt, die vielfach vorhandne<lb/> Einrichtung der Nachuntersuchung durch besondre, an der Behandlung nicht be¬<lb/> teiligte Vertrauensärzte einem solchen Mitglied bald das Handwerk legen werden.</p><lb/> <p xml:id="ID_3629" next="#ID_3630"> Eine viel einschneidendere Bedeutung für die behauptete Schädigung der<lb/> Volksmoral haben die beiden andern Gesetze, das Unfall- und das Invaliden-<lb/> versicherungsgesetz. Diese haben in weiten Kreisen des arbeitenden Volkes<lb/> eine so krankhafte Rentengier, milder kann man es gar nicht nennen, wach¬<lb/> gerufen, daß es jeden, der kraft seiner Stellung einen Einblick in die Verhältnisse<lb/> tun kann, tief betrüben muß. Unter den Zuschmiern ist der Hauptleidtragende<lb/> zunächst der Arzt, dem diese Rentengier, wenn er sein hohes Amt, von dessen<lb/> unparteiischer Verwaltung die Ausführung der Gesetze zum größten Teil abhängig</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0638]
Über die Nebenwirkungen der großen sozialen Gesetze
habung und der Ausführung der sozialen Gesetze weniger beteiligten Publikum
auch einmal die Schattenseiten gezeigt werden, die sie im Gefolge gehabt
haben, um auch diese Kreise zur Bekämpfung der Gefahren, die die Gesetze
mit sich bringen, anzuregen und für die nicht immer angenehme Tätigkeit der
an der Ausführung dieser Gesetze Beteiligten gerechtes Interesse zu erwecken.
Man kann es leider nicht leugnen, daß diese Gesetze, die so viel Tränen
getrocknet, so viel kleines Menschenglück, das früher vernichtet worden wäre,
erhalten haben und erhalten werden, als traurige Nebenwirkung eine gewisse
Schädigung der Volksmoral mit sich gebracht haben, von der es ungewiß ist,
ob sie sich bei der weitern Ausdehnung der Fürsorge nicht noch steigern wird.
Am wenigsten kann man diese Schädigungen bei den Wirkungen des
Krankenversicherungsgesetzes feststellen. Natürlich kommen bei den Ver¬
sicherten Simulationen und Übertreibungen genng vor, durch die sie sich in den
Genuß des Krankengeldes setzen oder dieses länger behalten wollen. Aber das
Krankengeld ist in der Regel doch so wenig bedeutend, daß die Verlockung,
deswegen eine moralisch verwerfliche Handlung zu begehn, nicht groß genug
ist. Besonders in Zeiten wirtschaftlichen Niedergangs wird die Krankenkasse
leicht als Versicherung gegen Arbeitslosigkeit ausgenutzt, aber mildernd tritt für den
Beurteiler solcher Handlungsweise sowohl die Notlage des Versicherten als auch
der Umstand ein, daß mit dem wirtschaftlichen Niedergang eine Herabsetzung der
Lebenshaltung einhergeht, die dazu geeignet ist, den Gesundheitszustand ungünstig
zu beeinflussen. Die ganzen hierdurch geschaffnen Verhältnisse führen dazu,
leichte, dadurch gesteigerte Krankheitszustände schlimmer aufzufassen, als es in
Zeiten drängender Arbeit und guten Verdienstes geschehen würde, und so kann
leicht einem noch moralisch tüchtigen Menschen auf dem Wege der fehlerhaften
Vorstellung die Überzeugung kommen, daß er krank und des Krankengeldes
bedürftig sei. Natürlich handelt es sich hier nie um Dinge, die der Arzt, dem
die unangenehme Pflicht zufällt, über die Arbeitsfähigkeit des Betreffenden zu
entscheiden, sofort als nichtig erkennen würde, sondern um das Heer der innern
Krankheiten, wie z. B. der rheumatischen, die der scharfen Erkennungszeichen
ermangeln. Allzulange kann aber der auf diese, ich möchte sagen beinahe un¬
schuldige Weise gewonnene, aber im strengen Sinn unrechtmäßige Vorteil nicht
dauern, da die sorgfältige Kontrolle durch die Kassen, die die geringste gewinn¬
bringende Beschäftigung während der Krankheit verhindert und beim Ertappen
dabei die Auszahlung des Krankengeldes ausschließt, die vielfach vorhandne
Einrichtung der Nachuntersuchung durch besondre, an der Behandlung nicht be¬
teiligte Vertrauensärzte einem solchen Mitglied bald das Handwerk legen werden.
Eine viel einschneidendere Bedeutung für die behauptete Schädigung der
Volksmoral haben die beiden andern Gesetze, das Unfall- und das Invaliden-
versicherungsgesetz. Diese haben in weiten Kreisen des arbeitenden Volkes
eine so krankhafte Rentengier, milder kann man es gar nicht nennen, wach¬
gerufen, daß es jeden, der kraft seiner Stellung einen Einblick in die Verhältnisse
tun kann, tief betrüben muß. Unter den Zuschmiern ist der Hauptleidtragende
zunächst der Arzt, dem diese Rentengier, wenn er sein hohes Amt, von dessen
unparteiischer Verwaltung die Ausführung der Gesetze zum größten Teil abhängig
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