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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr.

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Herbert Spencers System

Determinanten.) Er berechnet, daß zum Bau einer einzigen Pfauenfeder
480000, zu dem des ganzen Schwanzes viele Millionen Determinanten not¬
wendig sein würden. Aber die Leistungen von Spencers nuits sind nicht weniger
unglaublich, als es die Zahl der Determinanten Weismanns ist. Jener gesteht
übrigens, wie gesagt, gelegentlich ein, daß alle diese Vorgänge in ihrem tiefsten
Grunde unerforschlich bleiben, daß keine der bis jetzt erdachten Hypothesen das
Dunkel völlig aufhellt, daß namentlich die Darwinische Theorie zwar manches
aber nicht alles erklärt.

Selbstverständlich leugnet er auch nicht den hypothetischen Charakter seiner
eignen Theorie. Einen Vorzug der Entwicklungshypothese vor der Schöpfungs¬
hypothese findet er u. a. darin, daß für jene die Frage nicht existiere: wozu
lange vor dem Menschen andre Wesen geschaffen worden seien, und daß man
nicht anzunehmen brauche, Gott habe die Tiere dazu geschaffen, einander
Schmerzen zuzufügen; die unvermeidlichen Leiden der Geschöpfe würden durch
die Evolution mehr und mehr vermindert. Wenn Spencer Eduard von Hart¬
mann kennte, so würde er wissen, daß bei nus Deutschen die Frage gar nicht
mehr lautet: Evolution oder Schöpfung? sondern: Vom göttlichen Intellekt
geleitete oder blinde Evolution?

Eine große Anzahl seiner Erklärungen kann man als befriedigend und
endgiltig hinnehmen unter der Voraussetzung, daß nicht Erklärung der Ur¬
sachen oder auch nur des innersten Geschehens gemeint ist, sondern nur eine
Darlegung der Bedingungen, nnter denen die Ursache wirkt, die sich auch diese
Bedingungen ihres Wirkens selbst hergestellt hat, und eine Darstellung des
äußerlichen Verlaufs: eine Oberflachenerkenntnis, wie er selbst es nennt.
Wunderschön zeigt er zum Beispiel, wie aus einer Hautstelle ein Auge werden
kann, wenn -- denken wir natürlich hinzu -- ein metaphysisches Wesen die
natürlichen Veränderungen lenkt. Weniger "wenn" und "aber" stellen sich
ein, wo er einfachere Vorgänge, zum Beispiel die chemische Wirkung des Lichts
auf die Pflanzen, erklärt. Die Körperatome schwingen in einem bestimmten
Tempo, und wenn das Tempo eines chemischen Elements dem Tempo ge¬
wisser Ätherschwingungen entspricht, so werden seine Atome von einem Strom
solcher Schwingungen, einem Lichtstrahl, ergriffen, aus ihrer Verbindung mit
den Atomen andrer Elemente gelöst und in den Anziehungsbereich wieder
andrer Elemente fortgeführt, mit denen sie sich verbinden. Man hat gegen
die Darwinische Hypothese u. a. eingewandt, daß gerade die wichtigsten Art¬
charaktere, die morphologischen, wie die Stellung der Blätter am Pflanzen¬
stengel, ganz gleichgiltig fürs Fortkommen des Organismus feien, darum aus
dem Überleben des Angepaßten nicht erklärt werden könnten. Spencer findet
einen Nutzen der Blattstellungen heraus: sie seien die für die gleichmüßige
Besonnung aller Blätter günstigsten. Daß er die Schönheit biologisch erklärt,
das ist ganz -- englisch.

Am Schlüsse des Werks stellt er die Integration der gesamten organischen
Welt zu einem Ganzen dar; anfangs stehn die noch sehr unvollkommnen
Organismen in keinem Verkehr miteinander; dieser Verkehr tritt ein als Aus¬
tausch von Sauerstoff und Kohlensäure bei der Differenzierung der Organismen


Herbert Spencers System

Determinanten.) Er berechnet, daß zum Bau einer einzigen Pfauenfeder
480000, zu dem des ganzen Schwanzes viele Millionen Determinanten not¬
wendig sein würden. Aber die Leistungen von Spencers nuits sind nicht weniger
unglaublich, als es die Zahl der Determinanten Weismanns ist. Jener gesteht
übrigens, wie gesagt, gelegentlich ein, daß alle diese Vorgänge in ihrem tiefsten
Grunde unerforschlich bleiben, daß keine der bis jetzt erdachten Hypothesen das
Dunkel völlig aufhellt, daß namentlich die Darwinische Theorie zwar manches
aber nicht alles erklärt.

Selbstverständlich leugnet er auch nicht den hypothetischen Charakter seiner
eignen Theorie. Einen Vorzug der Entwicklungshypothese vor der Schöpfungs¬
hypothese findet er u. a. darin, daß für jene die Frage nicht existiere: wozu
lange vor dem Menschen andre Wesen geschaffen worden seien, und daß man
nicht anzunehmen brauche, Gott habe die Tiere dazu geschaffen, einander
Schmerzen zuzufügen; die unvermeidlichen Leiden der Geschöpfe würden durch
die Evolution mehr und mehr vermindert. Wenn Spencer Eduard von Hart¬
mann kennte, so würde er wissen, daß bei nus Deutschen die Frage gar nicht
mehr lautet: Evolution oder Schöpfung? sondern: Vom göttlichen Intellekt
geleitete oder blinde Evolution?

Eine große Anzahl seiner Erklärungen kann man als befriedigend und
endgiltig hinnehmen unter der Voraussetzung, daß nicht Erklärung der Ur¬
sachen oder auch nur des innersten Geschehens gemeint ist, sondern nur eine
Darlegung der Bedingungen, nnter denen die Ursache wirkt, die sich auch diese
Bedingungen ihres Wirkens selbst hergestellt hat, und eine Darstellung des
äußerlichen Verlaufs: eine Oberflachenerkenntnis, wie er selbst es nennt.
Wunderschön zeigt er zum Beispiel, wie aus einer Hautstelle ein Auge werden
kann, wenn — denken wir natürlich hinzu — ein metaphysisches Wesen die
natürlichen Veränderungen lenkt. Weniger „wenn" und „aber" stellen sich
ein, wo er einfachere Vorgänge, zum Beispiel die chemische Wirkung des Lichts
auf die Pflanzen, erklärt. Die Körperatome schwingen in einem bestimmten
Tempo, und wenn das Tempo eines chemischen Elements dem Tempo ge¬
wisser Ätherschwingungen entspricht, so werden seine Atome von einem Strom
solcher Schwingungen, einem Lichtstrahl, ergriffen, aus ihrer Verbindung mit
den Atomen andrer Elemente gelöst und in den Anziehungsbereich wieder
andrer Elemente fortgeführt, mit denen sie sich verbinden. Man hat gegen
die Darwinische Hypothese u. a. eingewandt, daß gerade die wichtigsten Art¬
charaktere, die morphologischen, wie die Stellung der Blätter am Pflanzen¬
stengel, ganz gleichgiltig fürs Fortkommen des Organismus feien, darum aus
dem Überleben des Angepaßten nicht erklärt werden könnten. Spencer findet
einen Nutzen der Blattstellungen heraus: sie seien die für die gleichmüßige
Besonnung aller Blätter günstigsten. Daß er die Schönheit biologisch erklärt,
das ist ganz — englisch.

Am Schlüsse des Werks stellt er die Integration der gesamten organischen
Welt zu einem Ganzen dar; anfangs stehn die noch sehr unvollkommnen
Organismen in keinem Verkehr miteinander; dieser Verkehr tritt ein als Aus¬
tausch von Sauerstoff und Kohlensäure bei der Differenzierung der Organismen


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[0592] Herbert Spencers System Determinanten.) Er berechnet, daß zum Bau einer einzigen Pfauenfeder 480000, zu dem des ganzen Schwanzes viele Millionen Determinanten not¬ wendig sein würden. Aber die Leistungen von Spencers nuits sind nicht weniger unglaublich, als es die Zahl der Determinanten Weismanns ist. Jener gesteht übrigens, wie gesagt, gelegentlich ein, daß alle diese Vorgänge in ihrem tiefsten Grunde unerforschlich bleiben, daß keine der bis jetzt erdachten Hypothesen das Dunkel völlig aufhellt, daß namentlich die Darwinische Theorie zwar manches aber nicht alles erklärt. Selbstverständlich leugnet er auch nicht den hypothetischen Charakter seiner eignen Theorie. Einen Vorzug der Entwicklungshypothese vor der Schöpfungs¬ hypothese findet er u. a. darin, daß für jene die Frage nicht existiere: wozu lange vor dem Menschen andre Wesen geschaffen worden seien, und daß man nicht anzunehmen brauche, Gott habe die Tiere dazu geschaffen, einander Schmerzen zuzufügen; die unvermeidlichen Leiden der Geschöpfe würden durch die Evolution mehr und mehr vermindert. Wenn Spencer Eduard von Hart¬ mann kennte, so würde er wissen, daß bei nus Deutschen die Frage gar nicht mehr lautet: Evolution oder Schöpfung? sondern: Vom göttlichen Intellekt geleitete oder blinde Evolution? Eine große Anzahl seiner Erklärungen kann man als befriedigend und endgiltig hinnehmen unter der Voraussetzung, daß nicht Erklärung der Ur¬ sachen oder auch nur des innersten Geschehens gemeint ist, sondern nur eine Darlegung der Bedingungen, nnter denen die Ursache wirkt, die sich auch diese Bedingungen ihres Wirkens selbst hergestellt hat, und eine Darstellung des äußerlichen Verlaufs: eine Oberflachenerkenntnis, wie er selbst es nennt. Wunderschön zeigt er zum Beispiel, wie aus einer Hautstelle ein Auge werden kann, wenn — denken wir natürlich hinzu — ein metaphysisches Wesen die natürlichen Veränderungen lenkt. Weniger „wenn" und „aber" stellen sich ein, wo er einfachere Vorgänge, zum Beispiel die chemische Wirkung des Lichts auf die Pflanzen, erklärt. Die Körperatome schwingen in einem bestimmten Tempo, und wenn das Tempo eines chemischen Elements dem Tempo ge¬ wisser Ätherschwingungen entspricht, so werden seine Atome von einem Strom solcher Schwingungen, einem Lichtstrahl, ergriffen, aus ihrer Verbindung mit den Atomen andrer Elemente gelöst und in den Anziehungsbereich wieder andrer Elemente fortgeführt, mit denen sie sich verbinden. Man hat gegen die Darwinische Hypothese u. a. eingewandt, daß gerade die wichtigsten Art¬ charaktere, die morphologischen, wie die Stellung der Blätter am Pflanzen¬ stengel, ganz gleichgiltig fürs Fortkommen des Organismus feien, darum aus dem Überleben des Angepaßten nicht erklärt werden könnten. Spencer findet einen Nutzen der Blattstellungen heraus: sie seien die für die gleichmüßige Besonnung aller Blätter günstigsten. Daß er die Schönheit biologisch erklärt, das ist ganz — englisch. Am Schlüsse des Werks stellt er die Integration der gesamten organischen Welt zu einem Ganzen dar; anfangs stehn die noch sehr unvollkommnen Organismen in keinem Verkehr miteinander; dieser Verkehr tritt ein als Aus¬ tausch von Sauerstoff und Kohlensäure bei der Differenzierung der Organismen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_292796/592>, abgerufen am 01.07.2024.