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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr.

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George Sand

Die Dichterin dagegen hatte eine kerngesunde Natur; sie litt nie an krankhafter
Sinnlichkeit und rettete aus den Jugendstürmen den nötigen sittlichen Ernst für
einen würdigen patriarchalischen Lebensabend. Ihre Don Juankritik fehlt in
einem Hauptpunkte: es gibt keinen beschaulichen Wüstling, der sich eindringliche
Fragen nach dem eignen Unwert vorlegt, es gibt keinen tiefen Denker, der sich
die Lebensaufgabe stellt, in der Verführnngskunst Meister zu werden. Die
durchs Leben tändelnde Sorglosigkeit hat Moliere mit echter Menschenkenntnis
zum Hauptzuge seines Don Juan gemacht. George Sand hatte diese Sorg¬
losigkeit nicht. Trotz ihrer vielen Liebesverhältnisse bewahrte sie sich eine große,
nie versagende Arbeitslust und ein lebhaftes Interesse für alle großen Zeit¬
fragen und gerechten Kämpfe der Menschheit. Es ist zu bedauern, daß ihre
glühende Teilnahme für alle unvermeidliche"? Evolutionen ihres Zeitalters nur
durch die Umstoßung des Sittengesetzes ermöglicht wurde, das die Gesetzgeber
der Frauenwelt kategorisch vorgeschrieben haben.

Trotz vieler Verirrungen hat der Wahrheitstrieb, die Liebe zum Schönen,
der Sinn für das Gute George Sand zeitlebens beseelt. Der Sinn für das
Gute machte sie zur begeisterten, blinden Anhängerin der Samt-Simonistischen
Ideen. In Pierre Leroux und Lamennais verehrte sie einflußreiche philosophische
und religiöse Apostel des groß angelegten aber krankhaften Schwärmers. Mit
vollem Recht ist behauptet worden, daß der Sinne-Simonismus heilsam auf
ihr Seelenleben gewirkt habe. Einerseits bestärkte er sie durch seine frei¬
mütige Kritik des Verhältnisses zwischen Mann und Weib in der Ansicht, daß sie
vollberechtigt gewesen sei, sich den Verpflichtungen einer unüberlegt geschlossenen
Ehe zu entziehen, andrerseits ermutigte er sie zur regelt Teilnahme an dem
Geschicke der arbeitenden Klassen der Bevölkerung und sonnt zu ausgesprochnen
demokratischen schriftstellerischen Tendenzen. Dem Interesse für unverdorbne
Volkskraft verdankt ihr Genie eine Art von Ncubefrnchtnng in der zweiten
Schaffensperiode. Ganz prophetisch klingt ihr Vorwort zum vompagnon Zu
I'our "in Fi-nov (1840): "Mit Hilfe der echten Volkssitten, die den höhern
Stünden so fremd bleiben, wäre eine ganz neue Literatur ius Leben zu rufen.
Diese Literatur ersteht im Schoße des Volkes; binnen kurzem wird sie glänzend
zutage treten." L'est in. Mo rotromiivr-r >it irluso ron-neuen", volle innso
6miueim"ont rsvolutioimkuro, ot Mi, clvpuis son axparitivn dan8 1"8 lottros,
ckorolio vino et su, KraiNo. In der starken Volkskraft wird sie die geistige
Frische wiederfinden, deren sie zu ihre"? Auffluge bedarf. Doch fügt die Dichterin
bescheiden hinzu, daß ihr selbst die Aufgabe, die moderne Geschichte des Proletariats
zu schreiben, zu schwierig erscheine, und daß sie deshalb die Ehre des Unter¬
nehmens all die ernsten Männer zurückverweise, die sie feierlich damit belehren
wollten. ^Schluß folgt)




George Sand

Die Dichterin dagegen hatte eine kerngesunde Natur; sie litt nie an krankhafter
Sinnlichkeit und rettete aus den Jugendstürmen den nötigen sittlichen Ernst für
einen würdigen patriarchalischen Lebensabend. Ihre Don Juankritik fehlt in
einem Hauptpunkte: es gibt keinen beschaulichen Wüstling, der sich eindringliche
Fragen nach dem eignen Unwert vorlegt, es gibt keinen tiefen Denker, der sich
die Lebensaufgabe stellt, in der Verführnngskunst Meister zu werden. Die
durchs Leben tändelnde Sorglosigkeit hat Moliere mit echter Menschenkenntnis
zum Hauptzuge seines Don Juan gemacht. George Sand hatte diese Sorg¬
losigkeit nicht. Trotz ihrer vielen Liebesverhältnisse bewahrte sie sich eine große,
nie versagende Arbeitslust und ein lebhaftes Interesse für alle großen Zeit¬
fragen und gerechten Kämpfe der Menschheit. Es ist zu bedauern, daß ihre
glühende Teilnahme für alle unvermeidliche«? Evolutionen ihres Zeitalters nur
durch die Umstoßung des Sittengesetzes ermöglicht wurde, das die Gesetzgeber
der Frauenwelt kategorisch vorgeschrieben haben.

Trotz vieler Verirrungen hat der Wahrheitstrieb, die Liebe zum Schönen,
der Sinn für das Gute George Sand zeitlebens beseelt. Der Sinn für das
Gute machte sie zur begeisterten, blinden Anhängerin der Samt-Simonistischen
Ideen. In Pierre Leroux und Lamennais verehrte sie einflußreiche philosophische
und religiöse Apostel des groß angelegten aber krankhaften Schwärmers. Mit
vollem Recht ist behauptet worden, daß der Sinne-Simonismus heilsam auf
ihr Seelenleben gewirkt habe. Einerseits bestärkte er sie durch seine frei¬
mütige Kritik des Verhältnisses zwischen Mann und Weib in der Ansicht, daß sie
vollberechtigt gewesen sei, sich den Verpflichtungen einer unüberlegt geschlossenen
Ehe zu entziehen, andrerseits ermutigte er sie zur regelt Teilnahme an dem
Geschicke der arbeitenden Klassen der Bevölkerung und sonnt zu ausgesprochnen
demokratischen schriftstellerischen Tendenzen. Dem Interesse für unverdorbne
Volkskraft verdankt ihr Genie eine Art von Ncubefrnchtnng in der zweiten
Schaffensperiode. Ganz prophetisch klingt ihr Vorwort zum vompagnon Zu
I'our «in Fi-nov (1840): „Mit Hilfe der echten Volkssitten, die den höhern
Stünden so fremd bleiben, wäre eine ganz neue Literatur ius Leben zu rufen.
Diese Literatur ersteht im Schoße des Volkes; binnen kurzem wird sie glänzend
zutage treten." L'est in. Mo rotromiivr-r >it irluso ron-neuen«, volle innso
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ckorolio vino et su, KraiNo. In der starken Volkskraft wird sie die geistige
Frische wiederfinden, deren sie zu ihre»? Auffluge bedarf. Doch fügt die Dichterin
bescheiden hinzu, daß ihr selbst die Aufgabe, die moderne Geschichte des Proletariats
zu schreiben, zu schwierig erscheine, und daß sie deshalb die Ehre des Unter¬
nehmens all die ernsten Männer zurückverweise, die sie feierlich damit belehren
wollten. ^Schluß folgt)




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[0486] George Sand Die Dichterin dagegen hatte eine kerngesunde Natur; sie litt nie an krankhafter Sinnlichkeit und rettete aus den Jugendstürmen den nötigen sittlichen Ernst für einen würdigen patriarchalischen Lebensabend. Ihre Don Juankritik fehlt in einem Hauptpunkte: es gibt keinen beschaulichen Wüstling, der sich eindringliche Fragen nach dem eignen Unwert vorlegt, es gibt keinen tiefen Denker, der sich die Lebensaufgabe stellt, in der Verführnngskunst Meister zu werden. Die durchs Leben tändelnde Sorglosigkeit hat Moliere mit echter Menschenkenntnis zum Hauptzuge seines Don Juan gemacht. George Sand hatte diese Sorg¬ losigkeit nicht. Trotz ihrer vielen Liebesverhältnisse bewahrte sie sich eine große, nie versagende Arbeitslust und ein lebhaftes Interesse für alle großen Zeit¬ fragen und gerechten Kämpfe der Menschheit. Es ist zu bedauern, daß ihre glühende Teilnahme für alle unvermeidliche«? Evolutionen ihres Zeitalters nur durch die Umstoßung des Sittengesetzes ermöglicht wurde, das die Gesetzgeber der Frauenwelt kategorisch vorgeschrieben haben. Trotz vieler Verirrungen hat der Wahrheitstrieb, die Liebe zum Schönen, der Sinn für das Gute George Sand zeitlebens beseelt. Der Sinn für das Gute machte sie zur begeisterten, blinden Anhängerin der Samt-Simonistischen Ideen. In Pierre Leroux und Lamennais verehrte sie einflußreiche philosophische und religiöse Apostel des groß angelegten aber krankhaften Schwärmers. Mit vollem Recht ist behauptet worden, daß der Sinne-Simonismus heilsam auf ihr Seelenleben gewirkt habe. Einerseits bestärkte er sie durch seine frei¬ mütige Kritik des Verhältnisses zwischen Mann und Weib in der Ansicht, daß sie vollberechtigt gewesen sei, sich den Verpflichtungen einer unüberlegt geschlossenen Ehe zu entziehen, andrerseits ermutigte er sie zur regelt Teilnahme an dem Geschicke der arbeitenden Klassen der Bevölkerung und sonnt zu ausgesprochnen demokratischen schriftstellerischen Tendenzen. Dem Interesse für unverdorbne Volkskraft verdankt ihr Genie eine Art von Ncubefrnchtnng in der zweiten Schaffensperiode. Ganz prophetisch klingt ihr Vorwort zum vompagnon Zu I'our «in Fi-nov (1840): „Mit Hilfe der echten Volkssitten, die den höhern Stünden so fremd bleiben, wäre eine ganz neue Literatur ius Leben zu rufen. Diese Literatur ersteht im Schoße des Volkes; binnen kurzem wird sie glänzend zutage treten." L'est in. Mo rotromiivr-r >it irluso ron-neuen«, volle innso 6miueim»ont rsvolutioimkuro, ot Mi, clvpuis son axparitivn dan8 1«8 lottros, ckorolio vino et su, KraiNo. In der starken Volkskraft wird sie die geistige Frische wiederfinden, deren sie zu ihre»? Auffluge bedarf. Doch fügt die Dichterin bescheiden hinzu, daß ihr selbst die Aufgabe, die moderne Geschichte des Proletariats zu schreiben, zu schwierig erscheine, und daß sie deshalb die Ehre des Unter¬ nehmens all die ernsten Männer zurückverweise, die sie feierlich damit belehren wollten. ^Schluß folgt)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_292796/486>, abgerufen am 01.07.2024.