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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr.

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hochragende Bauwerk, über alle die Steinhaufen, in denen das alltägliche Treiben,
das Ringen und Hasten um irdisches Gut begonnen hatte. Die goldnen Strahlen
der Morgensonne umschmeichelten den rötlichen Vogesenscmdstein, daß er rosig
schimmerte, wie erglühend unter bräutlichen Kuß, wahrend der feine lichtblaue
Duft des jungen Tages alle Linien weicher, alle Farben zarter und alle Schatten
lichter machte. Wie jauchzte da oft mein Herz, wenn ich frohen Mutes voll diesen
Gruß der Schönheit mit mir nehmen durfte zur ernsten Berufsarbeit! Und wenn
Kummer mich drückte, wenn bange Sorge mir die Stirn fürchte, ob es mir auch
gelingen werde, festen Fuß zu fassen in dieser fremden Stadt, wie hat es mich
dann getröstet, das alte Münster, deutscher Glaubensinnigkeit, deutscher Geistes¬
größe, deutschen Muts und deutschen Fleißes ehrwürdigstes Wahrzeichen! Und wenn
bisweilen, im Herbst und im Winter, dichte Nebel über der wasserreichen Stadt
lagen und den ganzen Häuserhaufen einhüllte" in weißliches Grau, dann ragte oft die
Spitze des Turmes aus dem wallenden Nebelmeer empor und wies den zagenden
Sinn dort hinauf, wohin kein Nebel reicht, und wo kein Erdendunst mehr die
Strahlen der Sonne verhüllt. Sollte ich nicht dankbar sein für soviel Schönheit
und solchen Trost? Ich war damals einsam und fremd, durstig nach Labung
und Zuspruch -- die Menschen schwiegen, und siehe, da redeten mir die Steine
des Münsters!

Und wie mir mag es im Laufe der Jahrhunderte vielen Tausenden gegangen
sein. Was kann das alte Münster alles erzählen; welche Stürme der Geschichte
haben es umbraust und auch an ihm ihre Spuren zurückgelassen! Im zwölften
Jahrhundert begonnen, weisen seine ältesten Teile, das Querschiff und die Chor¬
nischen, romanischen Stil auf; den Übergangsstil zeigt die südliche Querschifffassade,
während in dem 1275 vollendeten querschiffigen Langhaus die reinste edelste Gotik
zum Durchbruch gelangt. Wir sind gewöhnt, den ganzen herrlichen Bau mit dem
Namen Erwins von Steinbach zu verbinden, während die Baugeschichte des Münsters
uns lehrt, daß wir ihm im wesentlichen nur die nach Westen gekehrte Front mit
den Hauptportalen und der riesigen vielbewunderten Fensterrose zu verdanken haben.
Die Verkleidung dieser Westfront durch ein im Abstände von zwei Fuß die ganze
Fassade wie Efeu umrankendes senkrecht angeordnetes überaus zierliches Maß- und
Stabwerk gibt dem Bilde des Münsters die entzückende Mischung von erhabner
Größe und zierlicher Leichtigkeit, die dem ganzen Bauwerk einen charakteristischen
Stempel aufdrückt und darum mit einem gewissen Recht Erwins Namen mit dem
Gesamteindruck der herrlichen Schöpfung verknüpft. Erwin plante zwei Türme;
aber als er am 17. Januar 1318 starb, war die Westfront, aus der die Türme
emporsteigen sollten, erst bis zum zweiten Stockwerk gediehen. Sein Nachfolger
fügte, vielleicht von dem Wunsche beseelt, den wundervollen Reiz der Maßwerk¬
verkleidung auf einer noch größern Fläche wirken zu lassen, noch ein drittes Stock¬
werk hinzu, und noch mehr als ein Jahrhundert verging, bis der Nvrdturm, unter
weiterer Abänderung von Erwins Plänen, vollendet dastand. Den Südturm über
die das dritte Stockwerk der Westfront in 66 Metern Höhe abschließende Plattform
hinauszuführen, ist nie versucht worden und würde den himmelanstrebenden Ein¬
druck des Ganzen eher abschwächen als erhöhen, wie ein Vergleich mit dem Kölner
Dom leicht ergibt. Zwei Hohe nebeneinander berauben sich gegenseitig der ein¬
drucksvoller Wirkung, die ein Höchster in seiner unerreichten Einsamkeit macht.

Als sich Straßburg der Reformation zuwandte, ging das Münster mit dem
guten Beispiel voran, denn hier predigte Matthias Zell schon seit 1520 im Sinne
Luthers; ihm schlösse" sich 1523 Capito, Hedio und Bncer und bald die ganze
niedere Geistlichkeit an. Länger als anderthalb Jahrhunderte blieb das Münster
protestantisch; als aber Straßburg im Jahre 1681 der Tücke des französischen
Sonnenkönigs zum Opfer fiel, war es wiederum die erste Kirche, die den Wechsel
der Geschicke empfinden mußte: während Artikel 3 der Kapitulation von 1681 die
freie Religionsübung in allen Kirchen und Schulen der Stadt und den Besitz aller


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hochragende Bauwerk, über alle die Steinhaufen, in denen das alltägliche Treiben,
das Ringen und Hasten um irdisches Gut begonnen hatte. Die goldnen Strahlen
der Morgensonne umschmeichelten den rötlichen Vogesenscmdstein, daß er rosig
schimmerte, wie erglühend unter bräutlichen Kuß, wahrend der feine lichtblaue
Duft des jungen Tages alle Linien weicher, alle Farben zarter und alle Schatten
lichter machte. Wie jauchzte da oft mein Herz, wenn ich frohen Mutes voll diesen
Gruß der Schönheit mit mir nehmen durfte zur ernsten Berufsarbeit! Und wenn
Kummer mich drückte, wenn bange Sorge mir die Stirn fürchte, ob es mir auch
gelingen werde, festen Fuß zu fassen in dieser fremden Stadt, wie hat es mich
dann getröstet, das alte Münster, deutscher Glaubensinnigkeit, deutscher Geistes¬
größe, deutschen Muts und deutschen Fleißes ehrwürdigstes Wahrzeichen! Und wenn
bisweilen, im Herbst und im Winter, dichte Nebel über der wasserreichen Stadt
lagen und den ganzen Häuserhaufen einhüllte» in weißliches Grau, dann ragte oft die
Spitze des Turmes aus dem wallenden Nebelmeer empor und wies den zagenden
Sinn dort hinauf, wohin kein Nebel reicht, und wo kein Erdendunst mehr die
Strahlen der Sonne verhüllt. Sollte ich nicht dankbar sein für soviel Schönheit
und solchen Trost? Ich war damals einsam und fremd, durstig nach Labung
und Zuspruch — die Menschen schwiegen, und siehe, da redeten mir die Steine
des Münsters!

Und wie mir mag es im Laufe der Jahrhunderte vielen Tausenden gegangen
sein. Was kann das alte Münster alles erzählen; welche Stürme der Geschichte
haben es umbraust und auch an ihm ihre Spuren zurückgelassen! Im zwölften
Jahrhundert begonnen, weisen seine ältesten Teile, das Querschiff und die Chor¬
nischen, romanischen Stil auf; den Übergangsstil zeigt die südliche Querschifffassade,
während in dem 1275 vollendeten querschiffigen Langhaus die reinste edelste Gotik
zum Durchbruch gelangt. Wir sind gewöhnt, den ganzen herrlichen Bau mit dem
Namen Erwins von Steinbach zu verbinden, während die Baugeschichte des Münsters
uns lehrt, daß wir ihm im wesentlichen nur die nach Westen gekehrte Front mit
den Hauptportalen und der riesigen vielbewunderten Fensterrose zu verdanken haben.
Die Verkleidung dieser Westfront durch ein im Abstände von zwei Fuß die ganze
Fassade wie Efeu umrankendes senkrecht angeordnetes überaus zierliches Maß- und
Stabwerk gibt dem Bilde des Münsters die entzückende Mischung von erhabner
Größe und zierlicher Leichtigkeit, die dem ganzen Bauwerk einen charakteristischen
Stempel aufdrückt und darum mit einem gewissen Recht Erwins Namen mit dem
Gesamteindruck der herrlichen Schöpfung verknüpft. Erwin plante zwei Türme;
aber als er am 17. Januar 1318 starb, war die Westfront, aus der die Türme
emporsteigen sollten, erst bis zum zweiten Stockwerk gediehen. Sein Nachfolger
fügte, vielleicht von dem Wunsche beseelt, den wundervollen Reiz der Maßwerk¬
verkleidung auf einer noch größern Fläche wirken zu lassen, noch ein drittes Stock¬
werk hinzu, und noch mehr als ein Jahrhundert verging, bis der Nvrdturm, unter
weiterer Abänderung von Erwins Plänen, vollendet dastand. Den Südturm über
die das dritte Stockwerk der Westfront in 66 Metern Höhe abschließende Plattform
hinauszuführen, ist nie versucht worden und würde den himmelanstrebenden Ein¬
druck des Ganzen eher abschwächen als erhöhen, wie ein Vergleich mit dem Kölner
Dom leicht ergibt. Zwei Hohe nebeneinander berauben sich gegenseitig der ein¬
drucksvoller Wirkung, die ein Höchster in seiner unerreichten Einsamkeit macht.

Als sich Straßburg der Reformation zuwandte, ging das Münster mit dem
guten Beispiel voran, denn hier predigte Matthias Zell schon seit 1520 im Sinne
Luthers; ihm schlösse» sich 1523 Capito, Hedio und Bncer und bald die ganze
niedere Geistlichkeit an. Länger als anderthalb Jahrhunderte blieb das Münster
protestantisch; als aber Straßburg im Jahre 1681 der Tücke des französischen
Sonnenkönigs zum Opfer fiel, war es wiederum die erste Kirche, die den Wechsel
der Geschicke empfinden mußte: während Artikel 3 der Kapitulation von 1681 die
freie Religionsübung in allen Kirchen und Schulen der Stadt und den Besitz aller


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[0046] Straßburger Bilder hochragende Bauwerk, über alle die Steinhaufen, in denen das alltägliche Treiben, das Ringen und Hasten um irdisches Gut begonnen hatte. Die goldnen Strahlen der Morgensonne umschmeichelten den rötlichen Vogesenscmdstein, daß er rosig schimmerte, wie erglühend unter bräutlichen Kuß, wahrend der feine lichtblaue Duft des jungen Tages alle Linien weicher, alle Farben zarter und alle Schatten lichter machte. Wie jauchzte da oft mein Herz, wenn ich frohen Mutes voll diesen Gruß der Schönheit mit mir nehmen durfte zur ernsten Berufsarbeit! Und wenn Kummer mich drückte, wenn bange Sorge mir die Stirn fürchte, ob es mir auch gelingen werde, festen Fuß zu fassen in dieser fremden Stadt, wie hat es mich dann getröstet, das alte Münster, deutscher Glaubensinnigkeit, deutscher Geistes¬ größe, deutschen Muts und deutschen Fleißes ehrwürdigstes Wahrzeichen! Und wenn bisweilen, im Herbst und im Winter, dichte Nebel über der wasserreichen Stadt lagen und den ganzen Häuserhaufen einhüllte» in weißliches Grau, dann ragte oft die Spitze des Turmes aus dem wallenden Nebelmeer empor und wies den zagenden Sinn dort hinauf, wohin kein Nebel reicht, und wo kein Erdendunst mehr die Strahlen der Sonne verhüllt. Sollte ich nicht dankbar sein für soviel Schönheit und solchen Trost? Ich war damals einsam und fremd, durstig nach Labung und Zuspruch — die Menschen schwiegen, und siehe, da redeten mir die Steine des Münsters! Und wie mir mag es im Laufe der Jahrhunderte vielen Tausenden gegangen sein. Was kann das alte Münster alles erzählen; welche Stürme der Geschichte haben es umbraust und auch an ihm ihre Spuren zurückgelassen! Im zwölften Jahrhundert begonnen, weisen seine ältesten Teile, das Querschiff und die Chor¬ nischen, romanischen Stil auf; den Übergangsstil zeigt die südliche Querschifffassade, während in dem 1275 vollendeten querschiffigen Langhaus die reinste edelste Gotik zum Durchbruch gelangt. Wir sind gewöhnt, den ganzen herrlichen Bau mit dem Namen Erwins von Steinbach zu verbinden, während die Baugeschichte des Münsters uns lehrt, daß wir ihm im wesentlichen nur die nach Westen gekehrte Front mit den Hauptportalen und der riesigen vielbewunderten Fensterrose zu verdanken haben. Die Verkleidung dieser Westfront durch ein im Abstände von zwei Fuß die ganze Fassade wie Efeu umrankendes senkrecht angeordnetes überaus zierliches Maß- und Stabwerk gibt dem Bilde des Münsters die entzückende Mischung von erhabner Größe und zierlicher Leichtigkeit, die dem ganzen Bauwerk einen charakteristischen Stempel aufdrückt und darum mit einem gewissen Recht Erwins Namen mit dem Gesamteindruck der herrlichen Schöpfung verknüpft. Erwin plante zwei Türme; aber als er am 17. Januar 1318 starb, war die Westfront, aus der die Türme emporsteigen sollten, erst bis zum zweiten Stockwerk gediehen. Sein Nachfolger fügte, vielleicht von dem Wunsche beseelt, den wundervollen Reiz der Maßwerk¬ verkleidung auf einer noch größern Fläche wirken zu lassen, noch ein drittes Stock¬ werk hinzu, und noch mehr als ein Jahrhundert verging, bis der Nvrdturm, unter weiterer Abänderung von Erwins Plänen, vollendet dastand. Den Südturm über die das dritte Stockwerk der Westfront in 66 Metern Höhe abschließende Plattform hinauszuführen, ist nie versucht worden und würde den himmelanstrebenden Ein¬ druck des Ganzen eher abschwächen als erhöhen, wie ein Vergleich mit dem Kölner Dom leicht ergibt. Zwei Hohe nebeneinander berauben sich gegenseitig der ein¬ drucksvoller Wirkung, die ein Höchster in seiner unerreichten Einsamkeit macht. Als sich Straßburg der Reformation zuwandte, ging das Münster mit dem guten Beispiel voran, denn hier predigte Matthias Zell schon seit 1520 im Sinne Luthers; ihm schlösse» sich 1523 Capito, Hedio und Bncer und bald die ganze niedere Geistlichkeit an. Länger als anderthalb Jahrhunderte blieb das Münster protestantisch; als aber Straßburg im Jahre 1681 der Tücke des französischen Sonnenkönigs zum Opfer fiel, war es wiederum die erste Kirche, die den Wechsel der Geschicke empfinden mußte: während Artikel 3 der Kapitulation von 1681 die freie Religionsübung in allen Kirchen und Schulen der Stadt und den Besitz aller

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_292796/46>, abgerufen am 22.07.2024.