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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

weise das Versäumte nachgeholt und den Sägefisch wirklich für Rebhuhns Modell
erklärt. Sie ermangeln nicht, dem Menschen der Urzeit die Säge des Sägefisches,
das Schwert des Schwertfisches und den Speer des Narwals für seine ersten
Waffen und Werkzeuge als naheliegende Vorbilder zu empfehlen. Sie sind
überhaupt sehr schnell mit ihren wohlfeilen Kombinationen bei der Hand. Wie sie
aus dem Hammer die Faust, aus dem Stocke den verlängerten Arm herausgefunden
haben, so schwelgen sie nun auch in den Modellen und den Typen, die dem an¬
gehenden Techniker die Tierwelt dargeboten habe: er war so glücklich, den Vögeln
ihren Schnabel und ihre Krallen, dem Bienchen den Stachel abzusehen; er achtete
auf das Geweih des Riesenhirsches, auf die Hörner des Auerochsen und auf die
Gewehre des Wildschweins und sann nach, wie er sich diese Waffen aneignen, wie
er dem Viehzeug seine Vorteile wettmachen könne. Kurz, wenn es nach der Kultur¬
geschichte ginge, so hätte der Sporer einen Hahn, der Waffenschmied einen Narwal,
der Schwertfeger einen Schwertfisch und womöglich noch eine Schwertlilie gebraucht,
um etwas hervorzubringen; diese Werkzeuge hätte er in seiner Werkstatt aufgehangen
wie der Rebhuhn das Skelett eines Fisches. Die Kulturhistoriker fassen eben die
Sache häufig am verkehrten Ende an.

Gewiß hat der Kulturmensch von den Tieren, ja sogar von den Pflanzen
vielerlei übernommen. Gewiß, daß wir in unsern Waffen und Werkzeugen nicht
nur unsre eignen Arme und Hände wieder, sondern daß wir noch die Organe und
die Schuhvorrichtungen andrer Wesen dazu bekommen haben. Wir sind weit mehr
als ein bloßer Briareus. Ganz neue, fremdartige Gliedmaßen legen wir uns zu,
setzen uus Teile an, die Mutter Natur dem Menschen vorenthalten hat, und machen
uns einen Panzer wie der Krebs, Schilde wie die Schildkröte, Stacheln wie der
Skorpion oder das Stachelschwein. Wenn die Landsknechte mit ihren Spießen nach
allen Seiten Front machten, bildeten sie einen Igel; wenn die altrömischen Soldaten
beim Angriff auf eine Festung die Schilde über Rücken und Köpfe hielten, so nannte
man das: Schildkröte. Und so könnte man wohl die mittelalterlichen Ritter, die
mit eingelegter Lanze turnierten und buhurdierten, mit einem Rudel von Narwalen
vergleichen. Teilen wir mit unsern Torpedos nicht Schläge wie Zitterrochen aus,
hantieren wir nicht tagtäglich mit Krauen, Rammbären und Böcken? Infolge¬
dessen sehen wir schon nicht mehr wie ein Hundertarm, sondern wie ein leibhaftiges
Monstrum, wie ein Drache der Jurazeit aus; und jeder Schneider scheint mit seiner
Schere einen Krebs, mit seinem Bügeleisen den Schnabel eines Tyrannen und mit
seinen Nadeln einen Dornstrauch abzubilden.

Aber hätten wir uns denn bei dieser Selbstausrüstuug die Tiere und die
Pflanzen zum Vorbild genommen? Hätten wir ihre abenteuerlichen Kampforgane,
ihre Trutzwnffen, ihre Schutzvorrichtungen absichtlich nachgeahmt? -- In einzelnen
Fällen o ja. Unmittelbar eignen wir uns die fremden Organe an, um sie für uns
zu brauchen. Freilich in der Regel nicht dazu, wozu sie eigentlich da sind, sondern
zu ganz andern, heterogenen Zwecken; ihrer wahren Bestimmung werden sie dabei
vollkommen entwandt, was wohl darin seinen krassesten Ausdruck findet, daß wir
sie essen. Dieser Elefantenzahn, der auf meinem Schreibtische liegt, hat kein Falz¬
bein werden sollen; dieses Horn, das als Trinkgefäß, diese Muschel, die als Schale,
dieses Geweih, das als Schaufel, diese Gräte, die als Nadel, dieses Bein, das als
Flöte dienen muß, hat offenbar seinen Beruf vollkommen verfehlt. Nur ganz aus¬
nahmsweise werden die Spolien der Natur im Sinne der Natur benutzt, zum
Beispiel die Pelze; gewöhnlich passen wir sie unsern Bedürfnissen, unsern persön¬
lichen Zwecken an. Trotz unsrer märchenhaften Verkleidung bleiben wir doch immer
Menschen, wir müßten denn Werwölfe oder Berserker geworden sein. Das tut aber
gar nichts zur Sache; es kommt nur darauf an, ob der angehende Kulturmensch
mit den Resten andrer Organismen überhaupt etwas anzufangen wußte. Und das
wußte er freilich; brauchen konnte er jeden Knochen und jede Kinnlade, deren er


Maßgebliches und Unmaßgebliches

weise das Versäumte nachgeholt und den Sägefisch wirklich für Rebhuhns Modell
erklärt. Sie ermangeln nicht, dem Menschen der Urzeit die Säge des Sägefisches,
das Schwert des Schwertfisches und den Speer des Narwals für seine ersten
Waffen und Werkzeuge als naheliegende Vorbilder zu empfehlen. Sie sind
überhaupt sehr schnell mit ihren wohlfeilen Kombinationen bei der Hand. Wie sie
aus dem Hammer die Faust, aus dem Stocke den verlängerten Arm herausgefunden
haben, so schwelgen sie nun auch in den Modellen und den Typen, die dem an¬
gehenden Techniker die Tierwelt dargeboten habe: er war so glücklich, den Vögeln
ihren Schnabel und ihre Krallen, dem Bienchen den Stachel abzusehen; er achtete
auf das Geweih des Riesenhirsches, auf die Hörner des Auerochsen und auf die
Gewehre des Wildschweins und sann nach, wie er sich diese Waffen aneignen, wie
er dem Viehzeug seine Vorteile wettmachen könne. Kurz, wenn es nach der Kultur¬
geschichte ginge, so hätte der Sporer einen Hahn, der Waffenschmied einen Narwal,
der Schwertfeger einen Schwertfisch und womöglich noch eine Schwertlilie gebraucht,
um etwas hervorzubringen; diese Werkzeuge hätte er in seiner Werkstatt aufgehangen
wie der Rebhuhn das Skelett eines Fisches. Die Kulturhistoriker fassen eben die
Sache häufig am verkehrten Ende an.

Gewiß hat der Kulturmensch von den Tieren, ja sogar von den Pflanzen
vielerlei übernommen. Gewiß, daß wir in unsern Waffen und Werkzeugen nicht
nur unsre eignen Arme und Hände wieder, sondern daß wir noch die Organe und
die Schuhvorrichtungen andrer Wesen dazu bekommen haben. Wir sind weit mehr
als ein bloßer Briareus. Ganz neue, fremdartige Gliedmaßen legen wir uns zu,
setzen uus Teile an, die Mutter Natur dem Menschen vorenthalten hat, und machen
uns einen Panzer wie der Krebs, Schilde wie die Schildkröte, Stacheln wie der
Skorpion oder das Stachelschwein. Wenn die Landsknechte mit ihren Spießen nach
allen Seiten Front machten, bildeten sie einen Igel; wenn die altrömischen Soldaten
beim Angriff auf eine Festung die Schilde über Rücken und Köpfe hielten, so nannte
man das: Schildkröte. Und so könnte man wohl die mittelalterlichen Ritter, die
mit eingelegter Lanze turnierten und buhurdierten, mit einem Rudel von Narwalen
vergleichen. Teilen wir mit unsern Torpedos nicht Schläge wie Zitterrochen aus,
hantieren wir nicht tagtäglich mit Krauen, Rammbären und Böcken? Infolge¬
dessen sehen wir schon nicht mehr wie ein Hundertarm, sondern wie ein leibhaftiges
Monstrum, wie ein Drache der Jurazeit aus; und jeder Schneider scheint mit seiner
Schere einen Krebs, mit seinem Bügeleisen den Schnabel eines Tyrannen und mit
seinen Nadeln einen Dornstrauch abzubilden.

Aber hätten wir uns denn bei dieser Selbstausrüstuug die Tiere und die
Pflanzen zum Vorbild genommen? Hätten wir ihre abenteuerlichen Kampforgane,
ihre Trutzwnffen, ihre Schutzvorrichtungen absichtlich nachgeahmt? — In einzelnen
Fällen o ja. Unmittelbar eignen wir uns die fremden Organe an, um sie für uns
zu brauchen. Freilich in der Regel nicht dazu, wozu sie eigentlich da sind, sondern
zu ganz andern, heterogenen Zwecken; ihrer wahren Bestimmung werden sie dabei
vollkommen entwandt, was wohl darin seinen krassesten Ausdruck findet, daß wir
sie essen. Dieser Elefantenzahn, der auf meinem Schreibtische liegt, hat kein Falz¬
bein werden sollen; dieses Horn, das als Trinkgefäß, diese Muschel, die als Schale,
dieses Geweih, das als Schaufel, diese Gräte, die als Nadel, dieses Bein, das als
Flöte dienen muß, hat offenbar seinen Beruf vollkommen verfehlt. Nur ganz aus¬
nahmsweise werden die Spolien der Natur im Sinne der Natur benutzt, zum
Beispiel die Pelze; gewöhnlich passen wir sie unsern Bedürfnissen, unsern persön¬
lichen Zwecken an. Trotz unsrer märchenhaften Verkleidung bleiben wir doch immer
Menschen, wir müßten denn Werwölfe oder Berserker geworden sein. Das tut aber
gar nichts zur Sache; es kommt nur darauf an, ob der angehende Kulturmensch
mit den Resten andrer Organismen überhaupt etwas anzufangen wußte. Und das
wußte er freilich; brauchen konnte er jeden Knochen und jede Kinnlade, deren er


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[0442] Maßgebliches und Unmaßgebliches weise das Versäumte nachgeholt und den Sägefisch wirklich für Rebhuhns Modell erklärt. Sie ermangeln nicht, dem Menschen der Urzeit die Säge des Sägefisches, das Schwert des Schwertfisches und den Speer des Narwals für seine ersten Waffen und Werkzeuge als naheliegende Vorbilder zu empfehlen. Sie sind überhaupt sehr schnell mit ihren wohlfeilen Kombinationen bei der Hand. Wie sie aus dem Hammer die Faust, aus dem Stocke den verlängerten Arm herausgefunden haben, so schwelgen sie nun auch in den Modellen und den Typen, die dem an¬ gehenden Techniker die Tierwelt dargeboten habe: er war so glücklich, den Vögeln ihren Schnabel und ihre Krallen, dem Bienchen den Stachel abzusehen; er achtete auf das Geweih des Riesenhirsches, auf die Hörner des Auerochsen und auf die Gewehre des Wildschweins und sann nach, wie er sich diese Waffen aneignen, wie er dem Viehzeug seine Vorteile wettmachen könne. Kurz, wenn es nach der Kultur¬ geschichte ginge, so hätte der Sporer einen Hahn, der Waffenschmied einen Narwal, der Schwertfeger einen Schwertfisch und womöglich noch eine Schwertlilie gebraucht, um etwas hervorzubringen; diese Werkzeuge hätte er in seiner Werkstatt aufgehangen wie der Rebhuhn das Skelett eines Fisches. Die Kulturhistoriker fassen eben die Sache häufig am verkehrten Ende an. Gewiß hat der Kulturmensch von den Tieren, ja sogar von den Pflanzen vielerlei übernommen. Gewiß, daß wir in unsern Waffen und Werkzeugen nicht nur unsre eignen Arme und Hände wieder, sondern daß wir noch die Organe und die Schuhvorrichtungen andrer Wesen dazu bekommen haben. Wir sind weit mehr als ein bloßer Briareus. Ganz neue, fremdartige Gliedmaßen legen wir uns zu, setzen uus Teile an, die Mutter Natur dem Menschen vorenthalten hat, und machen uns einen Panzer wie der Krebs, Schilde wie die Schildkröte, Stacheln wie der Skorpion oder das Stachelschwein. Wenn die Landsknechte mit ihren Spießen nach allen Seiten Front machten, bildeten sie einen Igel; wenn die altrömischen Soldaten beim Angriff auf eine Festung die Schilde über Rücken und Köpfe hielten, so nannte man das: Schildkröte. Und so könnte man wohl die mittelalterlichen Ritter, die mit eingelegter Lanze turnierten und buhurdierten, mit einem Rudel von Narwalen vergleichen. Teilen wir mit unsern Torpedos nicht Schläge wie Zitterrochen aus, hantieren wir nicht tagtäglich mit Krauen, Rammbären und Böcken? Infolge¬ dessen sehen wir schon nicht mehr wie ein Hundertarm, sondern wie ein leibhaftiges Monstrum, wie ein Drache der Jurazeit aus; und jeder Schneider scheint mit seiner Schere einen Krebs, mit seinem Bügeleisen den Schnabel eines Tyrannen und mit seinen Nadeln einen Dornstrauch abzubilden. Aber hätten wir uns denn bei dieser Selbstausrüstuug die Tiere und die Pflanzen zum Vorbild genommen? Hätten wir ihre abenteuerlichen Kampforgane, ihre Trutzwnffen, ihre Schutzvorrichtungen absichtlich nachgeahmt? — In einzelnen Fällen o ja. Unmittelbar eignen wir uns die fremden Organe an, um sie für uns zu brauchen. Freilich in der Regel nicht dazu, wozu sie eigentlich da sind, sondern zu ganz andern, heterogenen Zwecken; ihrer wahren Bestimmung werden sie dabei vollkommen entwandt, was wohl darin seinen krassesten Ausdruck findet, daß wir sie essen. Dieser Elefantenzahn, der auf meinem Schreibtische liegt, hat kein Falz¬ bein werden sollen; dieses Horn, das als Trinkgefäß, diese Muschel, die als Schale, dieses Geweih, das als Schaufel, diese Gräte, die als Nadel, dieses Bein, das als Flöte dienen muß, hat offenbar seinen Beruf vollkommen verfehlt. Nur ganz aus¬ nahmsweise werden die Spolien der Natur im Sinne der Natur benutzt, zum Beispiel die Pelze; gewöhnlich passen wir sie unsern Bedürfnissen, unsern persön¬ lichen Zwecken an. Trotz unsrer märchenhaften Verkleidung bleiben wir doch immer Menschen, wir müßten denn Werwölfe oder Berserker geworden sein. Das tut aber gar nichts zur Sache; es kommt nur darauf an, ob der angehende Kulturmensch mit den Resten andrer Organismen überhaupt etwas anzufangen wußte. Und das wußte er freilich; brauchen konnte er jeden Knochen und jede Kinnlade, deren er

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_292796/442>, abgerufen am 03.07.2024.