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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr.

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von der Spree zur Oder

strebte, weil er kraft des Erbrechtes seiner Schwiegertochter Maria Josepha, der
Gemahlin des Kurprinzen, beim Aussterben des Mannesstammes der Habsburger
ganz Böhmen mit Mähren und Schlesien zu erwerben hoffte. Man kann wohl
einwenden, daß die militärischen Kräfte Sachsens dazu nicht ausreichten, und daß
August nicht der Mann war, einen solchen Plan durchzuführen. Gewiß, zur Zeit
des Nordischen Kriegs war ers nicht: bis zum Jahre 1706 zumal macht er in
seinem vergeblichen Kampfe gegen Karl den Zwölften den Eindruck eines Mannes,
der immer vou neuem von den furchtbaren Stößen des Nordischen Stieres gepackt
und aus der Bahn geschleudert wird. Aber der Nordische Krieg war für August
den Starken anch eine bittre Lehrzeit, die nicht ganz ohne Frucht blieb, namentlich
auf militärischem Gebiete. Sachsen hatte im Jahre 1725 ein ganz andres Gewicht
als 1695, und konnte nicht auch sein Fürst unter dem Einflüsse besonnener Rat¬
geber die Schlacken abstoßen und eine geläuterte Glut seines Willens zeigen?

Die Sonne war dem Untergange nahe, und der kühle Wind pfiff uns um
den Kopf, als uns der Ferge von Schiedlo über das dunkle Wasser wieder ans
linke Ufer fuhr. Da stand August der Starke vor meinem innern Auge nicht mehr
als der Held unzähliger Liebesabenteuer und Bacchanalien, das bunte Pantherfell
über der vergoldeten Rüstung, sondern als der gereifte Mann, wie ihn Louis
Silvestre nach dem Besuche Friedrich Wilhelms des Ersten in Dresden (1730)
mit diesem zusammen gemalt hat (Dresdner Galerie Ur. 770, Saal 69b), das
geistvolle Gesicht schon gefurcht von den Enttäuschungen des Lebens, um den Mund
ein nervöses Zucken, der Widerschein seiner zahllosen, sich überstürzenden politischen
Entwürfe. Der "eben ihm stehende preußische König mit seinem runden, gleich¬
mäßigen und gleichmütigen Gesicht erscheint dagegen fast hausbacken. Mit dem
Silvestreschen Bilde muß man die feine Charakteristik Augusts des Starken ver¬
binden, die sein Gehilfe, der Feldmarschall und Minister Graf Flemming, am
16. Januar 1722 handschriftlich von dem zweiundfünfzigjnhrigen Könige entworfen
hat. Flemming hat ihn gekannt wie wenige, darum weicht auch seine Zeichnung,
in der die Schwächen keineswegs verschwiegen werden, beträchtlich von dem üblichen
Gerede über August ab. Sie findet sich in französischer Sprache in einer Hand¬
schrift der Königlichen öffentlichen Bibliothek in Dresden und lautet in ihren
wichtigsten Sätzen folgendermaßen: "Er ist melancholischer Gemütsart (melancholisch
ist hier im Sinne der Alten und auch noch Albrecht Dürers soviel wie grübelnd,
nachdenklich) und hat deshalb eine lebhafte Auffassungsgabe. Er stellt sich die
künftigen Freuden eindrucksvoller vor, als sie es in Wahrheit sind, und ebenso die
künftigen Leiden. Sein durchdringender Scharfsinn bewirkt, daß er, wenn er
Kummer hat, sich niemandem eröffnet in der Meinung, daß, wenn er kein Heil¬
mittel zu finden wisse, es unnütz sei, bei andern danach zu suchen. Er glaubt,
wenn er sich die Mühe geben wolle, jemand für sich zu gewinnen, könne ihm
niemand widerstehn, und er hat es oft ausprobiert; jedoch ist er auch oft von un-
edeln Leuten, die er manchmal mit den edeln verwechselt, getäuscht worden; das
schreckt diese ab, während jene mit ihrem Betrug vorwärts kommen. Er ist im
höchsten Grade mißtrauisch, was seinem Scharfsinn Abbruch tut, denn gewöhnlich
ist der Scharfsinnige frei von Mißtrauen.

Sinnenlust und Ehrgeiz sind in ihm die herrschenden Leidenschaften; doch hat
die Lust die Oberhand; oft ist sein Ehrgeiz von seinen Vergnügungen durchkreuzt
worden, aber niemals sein Vergnügen vom Ehrgeize. Er hat ein fast universelles
Wissen, und es macht ihm Freude, gerade in den Studien fortzuschreiten, in denen
er in seiner Jugend stark vernachlässigt worden war. Dieser Fehler in der Er¬
ziehung hat bewirkt, daß er einen falschen Gebrauch von der Geschichte macht; denn
es passiert ihm oft, daß er ihre Ausschmückung für geschichtliche Wahrheit nimmt,
und daß sich deshalb in seinem Tun etwas Romanhaftes findet. ... Er verlangt
nicht, daß man ihm auf unerlaubten Wegen Geld schaffe, aber wenn einer so
freundlich ist, macht er sich kein Gewissen daraus, es anzunehmen, und glaubt sich
gegen jeden Vorwurf gedeckt, wenn er die Schuld auf einen andern abwälzen kann.


von der Spree zur Oder

strebte, weil er kraft des Erbrechtes seiner Schwiegertochter Maria Josepha, der
Gemahlin des Kurprinzen, beim Aussterben des Mannesstammes der Habsburger
ganz Böhmen mit Mähren und Schlesien zu erwerben hoffte. Man kann wohl
einwenden, daß die militärischen Kräfte Sachsens dazu nicht ausreichten, und daß
August nicht der Mann war, einen solchen Plan durchzuführen. Gewiß, zur Zeit
des Nordischen Kriegs war ers nicht: bis zum Jahre 1706 zumal macht er in
seinem vergeblichen Kampfe gegen Karl den Zwölften den Eindruck eines Mannes,
der immer vou neuem von den furchtbaren Stößen des Nordischen Stieres gepackt
und aus der Bahn geschleudert wird. Aber der Nordische Krieg war für August
den Starken anch eine bittre Lehrzeit, die nicht ganz ohne Frucht blieb, namentlich
auf militärischem Gebiete. Sachsen hatte im Jahre 1725 ein ganz andres Gewicht
als 1695, und konnte nicht auch sein Fürst unter dem Einflüsse besonnener Rat¬
geber die Schlacken abstoßen und eine geläuterte Glut seines Willens zeigen?

Die Sonne war dem Untergange nahe, und der kühle Wind pfiff uns um
den Kopf, als uns der Ferge von Schiedlo über das dunkle Wasser wieder ans
linke Ufer fuhr. Da stand August der Starke vor meinem innern Auge nicht mehr
als der Held unzähliger Liebesabenteuer und Bacchanalien, das bunte Pantherfell
über der vergoldeten Rüstung, sondern als der gereifte Mann, wie ihn Louis
Silvestre nach dem Besuche Friedrich Wilhelms des Ersten in Dresden (1730)
mit diesem zusammen gemalt hat (Dresdner Galerie Ur. 770, Saal 69b), das
geistvolle Gesicht schon gefurcht von den Enttäuschungen des Lebens, um den Mund
ein nervöses Zucken, der Widerschein seiner zahllosen, sich überstürzenden politischen
Entwürfe. Der »eben ihm stehende preußische König mit seinem runden, gleich¬
mäßigen und gleichmütigen Gesicht erscheint dagegen fast hausbacken. Mit dem
Silvestreschen Bilde muß man die feine Charakteristik Augusts des Starken ver¬
binden, die sein Gehilfe, der Feldmarschall und Minister Graf Flemming, am
16. Januar 1722 handschriftlich von dem zweiundfünfzigjnhrigen Könige entworfen
hat. Flemming hat ihn gekannt wie wenige, darum weicht auch seine Zeichnung,
in der die Schwächen keineswegs verschwiegen werden, beträchtlich von dem üblichen
Gerede über August ab. Sie findet sich in französischer Sprache in einer Hand¬
schrift der Königlichen öffentlichen Bibliothek in Dresden und lautet in ihren
wichtigsten Sätzen folgendermaßen: „Er ist melancholischer Gemütsart (melancholisch
ist hier im Sinne der Alten und auch noch Albrecht Dürers soviel wie grübelnd,
nachdenklich) und hat deshalb eine lebhafte Auffassungsgabe. Er stellt sich die
künftigen Freuden eindrucksvoller vor, als sie es in Wahrheit sind, und ebenso die
künftigen Leiden. Sein durchdringender Scharfsinn bewirkt, daß er, wenn er
Kummer hat, sich niemandem eröffnet in der Meinung, daß, wenn er kein Heil¬
mittel zu finden wisse, es unnütz sei, bei andern danach zu suchen. Er glaubt,
wenn er sich die Mühe geben wolle, jemand für sich zu gewinnen, könne ihm
niemand widerstehn, und er hat es oft ausprobiert; jedoch ist er auch oft von un-
edeln Leuten, die er manchmal mit den edeln verwechselt, getäuscht worden; das
schreckt diese ab, während jene mit ihrem Betrug vorwärts kommen. Er ist im
höchsten Grade mißtrauisch, was seinem Scharfsinn Abbruch tut, denn gewöhnlich
ist der Scharfsinnige frei von Mißtrauen.

Sinnenlust und Ehrgeiz sind in ihm die herrschenden Leidenschaften; doch hat
die Lust die Oberhand; oft ist sein Ehrgeiz von seinen Vergnügungen durchkreuzt
worden, aber niemals sein Vergnügen vom Ehrgeize. Er hat ein fast universelles
Wissen, und es macht ihm Freude, gerade in den Studien fortzuschreiten, in denen
er in seiner Jugend stark vernachlässigt worden war. Dieser Fehler in der Er¬
ziehung hat bewirkt, daß er einen falschen Gebrauch von der Geschichte macht; denn
es passiert ihm oft, daß er ihre Ausschmückung für geschichtliche Wahrheit nimmt,
und daß sich deshalb in seinem Tun etwas Romanhaftes findet. ... Er verlangt
nicht, daß man ihm auf unerlaubten Wegen Geld schaffe, aber wenn einer so
freundlich ist, macht er sich kein Gewissen daraus, es anzunehmen, und glaubt sich
gegen jeden Vorwurf gedeckt, wenn er die Schuld auf einen andern abwälzen kann.


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[0424] von der Spree zur Oder strebte, weil er kraft des Erbrechtes seiner Schwiegertochter Maria Josepha, der Gemahlin des Kurprinzen, beim Aussterben des Mannesstammes der Habsburger ganz Böhmen mit Mähren und Schlesien zu erwerben hoffte. Man kann wohl einwenden, daß die militärischen Kräfte Sachsens dazu nicht ausreichten, und daß August nicht der Mann war, einen solchen Plan durchzuführen. Gewiß, zur Zeit des Nordischen Kriegs war ers nicht: bis zum Jahre 1706 zumal macht er in seinem vergeblichen Kampfe gegen Karl den Zwölften den Eindruck eines Mannes, der immer vou neuem von den furchtbaren Stößen des Nordischen Stieres gepackt und aus der Bahn geschleudert wird. Aber der Nordische Krieg war für August den Starken anch eine bittre Lehrzeit, die nicht ganz ohne Frucht blieb, namentlich auf militärischem Gebiete. Sachsen hatte im Jahre 1725 ein ganz andres Gewicht als 1695, und konnte nicht auch sein Fürst unter dem Einflüsse besonnener Rat¬ geber die Schlacken abstoßen und eine geläuterte Glut seines Willens zeigen? Die Sonne war dem Untergange nahe, und der kühle Wind pfiff uns um den Kopf, als uns der Ferge von Schiedlo über das dunkle Wasser wieder ans linke Ufer fuhr. Da stand August der Starke vor meinem innern Auge nicht mehr als der Held unzähliger Liebesabenteuer und Bacchanalien, das bunte Pantherfell über der vergoldeten Rüstung, sondern als der gereifte Mann, wie ihn Louis Silvestre nach dem Besuche Friedrich Wilhelms des Ersten in Dresden (1730) mit diesem zusammen gemalt hat (Dresdner Galerie Ur. 770, Saal 69b), das geistvolle Gesicht schon gefurcht von den Enttäuschungen des Lebens, um den Mund ein nervöses Zucken, der Widerschein seiner zahllosen, sich überstürzenden politischen Entwürfe. Der »eben ihm stehende preußische König mit seinem runden, gleich¬ mäßigen und gleichmütigen Gesicht erscheint dagegen fast hausbacken. Mit dem Silvestreschen Bilde muß man die feine Charakteristik Augusts des Starken ver¬ binden, die sein Gehilfe, der Feldmarschall und Minister Graf Flemming, am 16. Januar 1722 handschriftlich von dem zweiundfünfzigjnhrigen Könige entworfen hat. Flemming hat ihn gekannt wie wenige, darum weicht auch seine Zeichnung, in der die Schwächen keineswegs verschwiegen werden, beträchtlich von dem üblichen Gerede über August ab. Sie findet sich in französischer Sprache in einer Hand¬ schrift der Königlichen öffentlichen Bibliothek in Dresden und lautet in ihren wichtigsten Sätzen folgendermaßen: „Er ist melancholischer Gemütsart (melancholisch ist hier im Sinne der Alten und auch noch Albrecht Dürers soviel wie grübelnd, nachdenklich) und hat deshalb eine lebhafte Auffassungsgabe. Er stellt sich die künftigen Freuden eindrucksvoller vor, als sie es in Wahrheit sind, und ebenso die künftigen Leiden. Sein durchdringender Scharfsinn bewirkt, daß er, wenn er Kummer hat, sich niemandem eröffnet in der Meinung, daß, wenn er kein Heil¬ mittel zu finden wisse, es unnütz sei, bei andern danach zu suchen. Er glaubt, wenn er sich die Mühe geben wolle, jemand für sich zu gewinnen, könne ihm niemand widerstehn, und er hat es oft ausprobiert; jedoch ist er auch oft von un- edeln Leuten, die er manchmal mit den edeln verwechselt, getäuscht worden; das schreckt diese ab, während jene mit ihrem Betrug vorwärts kommen. Er ist im höchsten Grade mißtrauisch, was seinem Scharfsinn Abbruch tut, denn gewöhnlich ist der Scharfsinnige frei von Mißtrauen. Sinnenlust und Ehrgeiz sind in ihm die herrschenden Leidenschaften; doch hat die Lust die Oberhand; oft ist sein Ehrgeiz von seinen Vergnügungen durchkreuzt worden, aber niemals sein Vergnügen vom Ehrgeize. Er hat ein fast universelles Wissen, und es macht ihm Freude, gerade in den Studien fortzuschreiten, in denen er in seiner Jugend stark vernachlässigt worden war. Dieser Fehler in der Er¬ ziehung hat bewirkt, daß er einen falschen Gebrauch von der Geschichte macht; denn es passiert ihm oft, daß er ihre Ausschmückung für geschichtliche Wahrheit nimmt, und daß sich deshalb in seinem Tun etwas Romanhaftes findet. ... Er verlangt nicht, daß man ihm auf unerlaubten Wegen Geld schaffe, aber wenn einer so freundlich ist, macht er sich kein Gewissen daraus, es anzunehmen, und glaubt sich gegen jeden Vorwurf gedeckt, wenn er die Schuld auf einen andern abwälzen kann.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_292796/424>, abgerufen am 22.07.2024.