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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr.

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Lin französischer Amel-Harnack

gelinin hinein. "Beim Lesen des Evangeliums würde man nie auf den Ge¬
danken kommen, Jesus fordere nur, das; man an die Güte Gottes glaube,
ohne sich um die Zukunft noch um ihn selbst zu kümmern." (Frau Griere
schreibt: "noch um sich selbst"; es ist dies die einzige Stelle in der sehr guten
Übersetzung, wo ich einen Fehler vermute,)

Die Zukunft aber und das äußerliche Reich Gottes sind so wesentliche
Bestandteile der Evangelien, daß es ihnen bis zur Vernichtung Gewalt antun
heißt, wenn man in der vou ihnen verkündigten Erlösung nichts sehen will
als einen individuellen und gegenwärtigen psychologischen Vorgang, Das ist
nicht der Glaube Jesu und des Neuen Testaments, sondern der unter dem
Vorurteil der lutherische" Rechtfertigungslehre entstandne Glaube Harnacks,
der ins Neue Testament hineingetragen wird. Allerdings geben die Evangelien
das nationale Element des alttestamentlichen Messiasglaubens auf. und das
eschatologische tritt ein wenig hinter dem moralischen und dem religiösen zurück.
Aber es wird keineswegs fallen gelassen. Gerade in der Einladung zum
himmlischen Festmahl besteht die frohe Botschaft, das Evangelium. Alle Gleich¬
nisse der letzten Zeit Jesu haben sie zum Gegenstand, Außer den Gleichnissen
vom großen Mahle selbst, u. a. das von den klugen und den törichten Jung¬
frauen, das vom wachsamen Knechte, der die Rückkehr seines Herrn erwartet,
von den Knechten, die mit dem Gelde des Herrn wuchern sollen, vom unge¬
rechten Verwalter, der sich für den Tag der Rechenschaft bei den Schuldnern
seines Herrn eine Zusluchtstütte bereitet, das Gleichnis vom reichen Manne
und dem armen Lazarus, das zeigt, wie im Jenseits die diesseitigen Un¬
gerechtigkeiten ausgeglichen werden. Beim letzten Abendmahl endlich ladet
Jesus seine Jünger, indem er ihnen den symbolischen Becher reicht, zur Zu¬
sammenkunft beim himmlischen Festmahle ein (Markus 14, 25). "Die Idee
des himmlischen Reiches ist also nichts andres als eine große Hoffnung, und
da keine andre Idee einen so großen Raum in der Lehre Jesu einnimmt und
sie so vollständig beherrscht, so ist es eben diese Hoffnung, in die der Historiker
das Wesen des Christentums legen muß, wem, es überhaupt irgendwo auf¬
zufinden ist." Schon daß wir im Vaterunser beten sollen: Dein Reich komme,
beweist, daß das Reich als etwas Zukünftiges gedacht ist. Was gegenwärtig
ist, und was schon zu Jesu Lebzeiten gegenwärtig war, das ist nur die Vor¬
bereitung auf das Reich, Mit der Feststellung des Reiches als des eigent¬
lichen Inhalts des Evangeliums ist zugleich schon gesagt, daß das Christentum
keineswegs eine rein innerliche und individuelle Angelegenheit sein könne (vom
Nechtfertigungsprozeß findet sich in den Evangelien keine Spur), sondern daß
es eine Geineinschaftsangelegenheit und eine äußerliche Angelegenheit ist.
Neben dieser großen Zukunftsangelegenheit erscheinen alle irdischen, alle
Gegenwartsangelegenheiten nichtig. Es kann nicht geleugnet werden, daß sich
diese Nichtachtung von allem, was uns heute wichtig erscheint, auch der Arbeit,
mit unsern modernen Anschauungen schlechterdings nicht vereinigen läßt. Die
Grundidee des Christentums mußte eben bei seiner Gründung rein, kräftig und
unvcrklansuliert ausgesprochen werde", und diese Grundidee ist, daß ohne die


Lin französischer Amel-Harnack

gelinin hinein. „Beim Lesen des Evangeliums würde man nie auf den Ge¬
danken kommen, Jesus fordere nur, das; man an die Güte Gottes glaube,
ohne sich um die Zukunft noch um ihn selbst zu kümmern." (Frau Griere
schreibt: „noch um sich selbst"; es ist dies die einzige Stelle in der sehr guten
Übersetzung, wo ich einen Fehler vermute,)

Die Zukunft aber und das äußerliche Reich Gottes sind so wesentliche
Bestandteile der Evangelien, daß es ihnen bis zur Vernichtung Gewalt antun
heißt, wenn man in der vou ihnen verkündigten Erlösung nichts sehen will
als einen individuellen und gegenwärtigen psychologischen Vorgang, Das ist
nicht der Glaube Jesu und des Neuen Testaments, sondern der unter dem
Vorurteil der lutherische» Rechtfertigungslehre entstandne Glaube Harnacks,
der ins Neue Testament hineingetragen wird. Allerdings geben die Evangelien
das nationale Element des alttestamentlichen Messiasglaubens auf. und das
eschatologische tritt ein wenig hinter dem moralischen und dem religiösen zurück.
Aber es wird keineswegs fallen gelassen. Gerade in der Einladung zum
himmlischen Festmahl besteht die frohe Botschaft, das Evangelium. Alle Gleich¬
nisse der letzten Zeit Jesu haben sie zum Gegenstand, Außer den Gleichnissen
vom großen Mahle selbst, u. a. das von den klugen und den törichten Jung¬
frauen, das vom wachsamen Knechte, der die Rückkehr seines Herrn erwartet,
von den Knechten, die mit dem Gelde des Herrn wuchern sollen, vom unge¬
rechten Verwalter, der sich für den Tag der Rechenschaft bei den Schuldnern
seines Herrn eine Zusluchtstütte bereitet, das Gleichnis vom reichen Manne
und dem armen Lazarus, das zeigt, wie im Jenseits die diesseitigen Un¬
gerechtigkeiten ausgeglichen werden. Beim letzten Abendmahl endlich ladet
Jesus seine Jünger, indem er ihnen den symbolischen Becher reicht, zur Zu¬
sammenkunft beim himmlischen Festmahle ein (Markus 14, 25). „Die Idee
des himmlischen Reiches ist also nichts andres als eine große Hoffnung, und
da keine andre Idee einen so großen Raum in der Lehre Jesu einnimmt und
sie so vollständig beherrscht, so ist es eben diese Hoffnung, in die der Historiker
das Wesen des Christentums legen muß, wem, es überhaupt irgendwo auf¬
zufinden ist." Schon daß wir im Vaterunser beten sollen: Dein Reich komme,
beweist, daß das Reich als etwas Zukünftiges gedacht ist. Was gegenwärtig
ist, und was schon zu Jesu Lebzeiten gegenwärtig war, das ist nur die Vor¬
bereitung auf das Reich, Mit der Feststellung des Reiches als des eigent¬
lichen Inhalts des Evangeliums ist zugleich schon gesagt, daß das Christentum
keineswegs eine rein innerliche und individuelle Angelegenheit sein könne (vom
Nechtfertigungsprozeß findet sich in den Evangelien keine Spur), sondern daß
es eine Geineinschaftsangelegenheit und eine äußerliche Angelegenheit ist.
Neben dieser großen Zukunftsangelegenheit erscheinen alle irdischen, alle
Gegenwartsangelegenheiten nichtig. Es kann nicht geleugnet werden, daß sich
diese Nichtachtung von allem, was uns heute wichtig erscheint, auch der Arbeit,
mit unsern modernen Anschauungen schlechterdings nicht vereinigen läßt. Die
Grundidee des Christentums mußte eben bei seiner Gründung rein, kräftig und
unvcrklansuliert ausgesprochen werde», und diese Grundidee ist, daß ohne die


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[0418] Lin französischer Amel-Harnack gelinin hinein. „Beim Lesen des Evangeliums würde man nie auf den Ge¬ danken kommen, Jesus fordere nur, das; man an die Güte Gottes glaube, ohne sich um die Zukunft noch um ihn selbst zu kümmern." (Frau Griere schreibt: „noch um sich selbst"; es ist dies die einzige Stelle in der sehr guten Übersetzung, wo ich einen Fehler vermute,) Die Zukunft aber und das äußerliche Reich Gottes sind so wesentliche Bestandteile der Evangelien, daß es ihnen bis zur Vernichtung Gewalt antun heißt, wenn man in der vou ihnen verkündigten Erlösung nichts sehen will als einen individuellen und gegenwärtigen psychologischen Vorgang, Das ist nicht der Glaube Jesu und des Neuen Testaments, sondern der unter dem Vorurteil der lutherische» Rechtfertigungslehre entstandne Glaube Harnacks, der ins Neue Testament hineingetragen wird. Allerdings geben die Evangelien das nationale Element des alttestamentlichen Messiasglaubens auf. und das eschatologische tritt ein wenig hinter dem moralischen und dem religiösen zurück. Aber es wird keineswegs fallen gelassen. Gerade in der Einladung zum himmlischen Festmahl besteht die frohe Botschaft, das Evangelium. Alle Gleich¬ nisse der letzten Zeit Jesu haben sie zum Gegenstand, Außer den Gleichnissen vom großen Mahle selbst, u. a. das von den klugen und den törichten Jung¬ frauen, das vom wachsamen Knechte, der die Rückkehr seines Herrn erwartet, von den Knechten, die mit dem Gelde des Herrn wuchern sollen, vom unge¬ rechten Verwalter, der sich für den Tag der Rechenschaft bei den Schuldnern seines Herrn eine Zusluchtstütte bereitet, das Gleichnis vom reichen Manne und dem armen Lazarus, das zeigt, wie im Jenseits die diesseitigen Un¬ gerechtigkeiten ausgeglichen werden. Beim letzten Abendmahl endlich ladet Jesus seine Jünger, indem er ihnen den symbolischen Becher reicht, zur Zu¬ sammenkunft beim himmlischen Festmahle ein (Markus 14, 25). „Die Idee des himmlischen Reiches ist also nichts andres als eine große Hoffnung, und da keine andre Idee einen so großen Raum in der Lehre Jesu einnimmt und sie so vollständig beherrscht, so ist es eben diese Hoffnung, in die der Historiker das Wesen des Christentums legen muß, wem, es überhaupt irgendwo auf¬ zufinden ist." Schon daß wir im Vaterunser beten sollen: Dein Reich komme, beweist, daß das Reich als etwas Zukünftiges gedacht ist. Was gegenwärtig ist, und was schon zu Jesu Lebzeiten gegenwärtig war, das ist nur die Vor¬ bereitung auf das Reich, Mit der Feststellung des Reiches als des eigent¬ lichen Inhalts des Evangeliums ist zugleich schon gesagt, daß das Christentum keineswegs eine rein innerliche und individuelle Angelegenheit sein könne (vom Nechtfertigungsprozeß findet sich in den Evangelien keine Spur), sondern daß es eine Geineinschaftsangelegenheit und eine äußerliche Angelegenheit ist. Neben dieser großen Zukunftsangelegenheit erscheinen alle irdischen, alle Gegenwartsangelegenheiten nichtig. Es kann nicht geleugnet werden, daß sich diese Nichtachtung von allem, was uns heute wichtig erscheint, auch der Arbeit, mit unsern modernen Anschauungen schlechterdings nicht vereinigen läßt. Die Grundidee des Christentums mußte eben bei seiner Gründung rein, kräftig und unvcrklansuliert ausgesprochen werde», und diese Grundidee ist, daß ohne die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_292796/418>, abgerufen am 01.07.2024.